Rezensierte Publikation:
Manuel Schulz, Existenz und Gesellschaft: Eine leibphänomenologische Vergesellschaftungstheorie nach Georg Simmel und Hermann Schmitz. Bielefeld: Transcript 2024, 321 S., kt., 50,00 €
Einführendes
Nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch auf die Skizzierung einer „existenziellen Soziologie“ meldet Manuel Schulz mit seinem 2024 erschienen Werk an. Ohne einführendes Vorgeplänkel äußert er sein erkenntnistheoretisches Unbehagen gegenüber dem einzelteiligen reflexiven Denken als grundlegende Erkenntnisweise der Moderne. Auslöser seiner Abhandlungen bildet Georg Simmels Kritik am „Einzelteilpostulat“ (1908) und dessen Versuch, wesentliche Alltagserfahrungen, welche diesem Postulat zuwiderlaufen, mangels theoretisch-begrifflicher Zugänge in die metaphysische Welt des Seelischen zu verbannen. Schulz schließt sich mit seiner Kritik unterschiedlichen Klassikern der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie an, wie etwa Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung (2003), Richard Rortys Philosophiekritik (1987) oder Donna J. Haraways machtkritischen Analysen (1995). Zur Lösung des Problems beabsichtigt der Autor eine Re-Formulierung von Simmels Kritik vorzunehmen, indem er auf die neu-phänomenologische Erkenntnistheorie von Hermann Schmitz (2007) zurückgreift, die subjekttheoretisch den Menschen nicht nur als denkende, sondern auch als spürende Entität begreift. Das Werk wurde in drei Teile gegliedert, die in zehn Kapiteln ausformuliert werden.
Teil 1: Simmel, Neue Phänomenologie und Möglichkeiten der Verknüpfung
Zunächst erfolgt eine kurze Einführung in die Grundlagenforschung Georg Simmels. Die Drei-Phasen-Theorie der üblichen Simmel-Rezeption wird überwunden, um das Gesamtwerk im „Gegensatz von Ereignis und Bestand“ zu betrachten (S. 41). Untersucht wird Simmels Interesse an der „widerfahrende(n) Ereignishaftigkeit“ menschlichen Erlebens und dem Bedürfnis, diese Ereignisse reflexiv festzustellen. So wird Simmels Denken als Dialektisches verstanden zwischen „subjektiver Fluidität“ und „objektivierender Reflexion“ (S. 43).
Bevor der Text dieser Antinomie auf den Grund geht, beschäftigt er sich mit der erkenntnis-theoretischen Frage, ob Realität nur durch Zerlegung in Einzelteile erkennbar wird. Simmel betont zwar die Unmittelbarkeit und Totalität der Wirklichkeit, die aber erst durch begriffliche Zuordnung begreifbar sei (1908). Er verharrt beim cartesianischen Einzelheitspostulat, das den Menschen in eine Innenwelt abschließt und den von Norbert Elias so genannten homo clausus hypostasiert. Diese Innenwelthypothese führt zu einem reduktionistischen Subjektverständnis (S. 74), das sich seit Sokrates verbreitet und von Schmitz als Weltspaltung durch Selbstspaltung bezeichnet wird (Schmitz, 2007). Der Autor verweist hier auf ein kulturhistorisch kontingentes Menschenbild, das Simmel, Leibniz und viele andere zu umgehen suchten. Er nutzt nun die Neue Phänomenologie, um Simmels Probleme mit vorreflexiver Widerfahrnis begrifflich zu fassen und subjektive Praxis an objektive Vergesellschaftungsprozesse anzukoppeln.
An dieser Stelle wird die Bedeutung der First-Person-Perspective betont, welche die subjektive Selbstfindung und das Bewusstsein, vergesellschaftet zu sein, vereint und damit das Apriori der empirischen Struktur des Einzelnen bildet. Der Begriffsapparat von Schmitz hilft dabei, ein vorreflexives Bewussthaben (statt Bewusstsein bei Husserl) zu identifizieren und zwischen strikter und positionaler Subjektivität zu unterscheiden (Schmitz, 2007). Positionale Subjektivität findet sich bei kognitiven Schlussfolgerungen. Die strikte Subjektivität wird erfahrbar im Spüren am eigenen Leib (Angst, Hunger, Freude, etc.) als präreflexive Seinsgewissheit aus unwillkürlicher Widerfahrnis. Simmel bezeichnet letztere in seinem Frühwerk als „Gefühl des Seienden ich“ (1908, S. 23). Als Verknüpfung der Überlegungen von Simmel und Schmitz eröffnet Schulz die für den Vergesellschaftungsprozess bedeutsame Denkfigur einer a) leiblichen Basis horizontaler Wechselwirkungen (zwischen Subjekten) einerseits und b) eines reflexiven Überbaus begrifflichen Denkens (Formgebung) andererseits, wobei a und b wiederum in Wechselwirkung treten. Die Schlussfolgerung lautet: Ohne leiblich affektives Betroffensein (Basis) gibt es auch keine reflexiv erzeugten Formgebungen (Überbau). Der Text soll hier einen ersten Schritt einer Synthese schaffen, indem mithilfe der neuen Phänomenologie Simmels Dilemma überwunden wird und ein erkenntnistheoretischer Ansatz eröffnet wird, der die analytische Trennung von Mikro- und Makroebene, von Subjektivität und Objektivität quer durch das vermeintlich geschlossene Subjekt mit seinem präsubjektiven Sichbewussthaben aufhebt.
Der Text zeigt nun, wie das Diktat der Einzelteiligkeit des vergesellschafteten Subjektes durch Schmitz‘ Konzept der leiblichen Kommunikation (2007) als weltoffenes Spüren vom Ich zum Du überwunden werden kann. Durch antagonistische wechselseitige Einleibung entsteht ein gemeinsamer vitaler Antrieb, der die geschlossene Innenwelt des Einzelnen überschreitet. Diese Erkenntnis wird durch vielfältige empirische Forschungen belegt, z. B. Lindemann (1993) zu Körper- und Geschlechtssoziologie, Burger (2008) zur Medizin, Langewitz (2008) zur Psychosomatik, oder Disability Studies von Magdlener (2015), die auch für Skeptiker phänomenologischer Zugänge zur Soziologie interessant sein sollten (S. 124).
Schmitz‘ Situationskonzept wird dabei als Schlüssel für die prozessierenden Wechselwirkungen von Basis und Überbau betrachtet. Situationen werden im Text als historisch-gesellschaftlicher Hintergrund dargestellt, in die das Alltagsleben verwurzelt ist und in die der Mensch zunächst präreflexiv eingetaucht ist, ohne in der Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, Programmen und Problemen Einzelheiten festzustellen (S. 145). In dem Prozess des reflektierenden Denkens erfolgt die Vereinzelung durch Explikation aus der vielfältigen Bedeutsamkeit von Situationen (Schmitz, 2007, S. 68). Der Gewinn dieses Konzeptes liegt im fluiden Wechsel der Person von primitiver in entfaltete Gegenwart, in dem das Subjekt vom unwillkürlich widerfahrenden Selbst in ein reflexives Selbstverhältnis gerät (S. 141).
Teil 2: Zwischenfazit
Im Zwischenfazit resümiert der Autor, wie der neophänomenologische Ansatz sein Modell horizontaler und vertikaler Wechselwirkungen plausibilisiert. Gleichzeitig warnt er vor problematischen Folgen für Subjekt und Gesellschaft, wenn auf dem Weg von primitiver zu entfalteter Gegenwart die Erfahrung des subjektiven, vorreflexiven Selbstseins zu kurz kommt und durch reflexives Denken die Vereinzelung zur Verdinglichung führt.
Teil 3: Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Reflexivität und Fazit
Um das leiblich spürende Basisbewusstsein für den:die Leser:in zu plausibilisieren, führt der Autor kleinteilig in Konzepte der Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Sphären der Subjektivität von Schmitz ein, um deren Bezug zum Überbau der Reflexivität darzustellen. Kontrastierend wird das etablierte objektivistische Zeitverständnis als mathematisches Konstrukt benannt, das als Zeitstrahl in einem Koordinatensystem abgebildet werden kann. Davon grenzt er das subjektive Zeitverständnis ab, in dem ein Ereignis auch im Sinne Böhmes und Heideggers für jemand gegenwärtig wird (S. 171). Das umfassende Zeitkonzept von Schmitz (2007) unterscheidet zwischen Modalzeit als subjektive, unmittelbare und nichtbegriffliche Wahrnehmung von Zeit und Lagezeit, die eine abstrakte Form von Zeitlichkeit darstellt, keine Gegenwart beinhaltet und messbar ist. Damit verdeutlicht der Autor, wie Zeitempfinden subjektiv bedeutsam werden kann gegenüber einem chronologisch relationalen Zeitverständnis. Anders als Schmitz vertritt Simmel ein eher mechanistisches Zeitverständnis, da es sich besser in sein Modell der Einzelteiligkeit der menschlichen Existenz fügt. Im Abwägen der beiden Perspektiven kommt der Autor zu dem Schluss, dass für ein nicht einzelteilbasiertes Verständnis von Subjektivität das konkrete Selbst als zeitlich dauernde Entität begriffen werden muss, die fluide und zeitlich grenzenlos ist.
Auch die Räumlichkeit bildet eine zentrale Dimension des Selbst. Im kantschen Verständnis herrschen Behälter-Konzepte vor, welche zwischen objektivierbarem Raum und seinen einzelnen Bestandteilen sowie dem Menschen in seiner abgeschiedenen Innen-Sphäre unterscheiden (S. 207). Obwohl Simmel vom „Sein-in-Raum-und-Zeit“ (1908, S. 23) als fundamentalem Ich spricht, bleibt er ambivalent und sympathisiert mit einem vermessbaren Raumkonzept, das wiederum der Einzelteiligkeit Vorschub leistet. Diese Perspektive überwindet Schmitz mit der leibphänomenologischen Schichtenstruktur des Räumlichen:
Der Weiteraum stellt die elementare, einfachste Gestalt des leiblichen Raumes dar (Schmitz, 2007). Hier besteht ein absolutes Hier, von dem aus das Dort bestimmt wird. Der Raum ist ein uferloses, unteilbares Ganzes, das nur spürbar und nicht messbar ist. Der Ortsraum dagegen entsteht durch relative Abstände zwischen Punkten und basiert auf geometrischen Messungen, deren Verhältnis durch Lagebeziehungen bestimmt ist. Mit der Sphäre des Weiteraums wird der Raum zu einer subjektiv erfahrbaren Umgebung, in die das Selbst immer schon eingebettet ist (S. 219). Denn ohne subjektive Perspektivierung bleibt die flächenbasierte Dreidimensionalität abstrakt, bezuglos und führt zu einer Entfremdung des Leibes. Dem Autor zufolge sollte das Selbstsein als „Zentrum einer spürbaren Selbsträumlichung jenseits von Punkten und räumlichen Grenzziehungen verstanden werden“ (S. 222).
Als dritte Weise des unwillkürlichen Selbstseins neben Zeitlichkeit und Räumlichkeit benennt Schulz die Reflexivität. Im Gegensatz zu Simmel bezeichnet er auch reflexives Denken als eine Widerfahrnis, da es erstens nicht beliebig abzustellen ist und es zweitens unwillkürlich Einzelteiligkeit hervorbringt. Damit wird Reflexivität ein ambivalentes Werkzeug, da sie zwar emanzipatorisches Potenzial (Selbstermächtigung) birgt, aber ebenso als eine Zerstückelung der eigenen leiblichen Erfahrung (Entfremdung) wirkt. Der Text stellt heraus, dass sich sozialwissenschaftliches Identitätsverständnis zwischen diesen beiden Extremen abspielt.
Schulz unternimmt mit seiner Studie eine neophänomenologische Reformulierung der soziologischen Grundlagenforschung Simmels. Das Verhältnis von unwillkürlichem Vergesellschaftetsein und objektiver Formgebung kann differenzierter nachvollzogen werden mit Schmitz‘ Konzept der personalen Emanzipation und personalen Regression (S. 217). Resultat ist dabei die Gesellschaft als auskristallisierte Institutionalisierung leiblicher Kommunikation (reflexiver Überbau), deren raumzeitlicher, fluider Charakter (gespürte Basis) auch im Sinne Simmels Spätwerk nicht aus dem Blick geraten darf. Die Studie stellt eine kritische Theorie des Denkens dar und betont die Notwendigkeit der Unterscheidung von Subjektivität und Subjektsein, von gesagtem Ich und gespürtem Selbst.
Schulz betont abschließend das spannungsvolle Verhältnis von Ontologie und Epistemologie (S. 280). Situationen (Ontologie) werden über den Prozess der Explikation in Konstellationen übersetzt (Epistemologie). Dabei sieht er bei der Ontologie der neuen Phänomenologie nicht den gefürchteten Totalitätsanspruch, dennoch muss sich das Konzept postkolonialen und transkulturellen Diskursen stellen (S. 304). Das emanzipatorische Potenzial liegt in der Befreiung von der Befangenheit der Situation und ihr steuernd gegenüber treten zu können. Doch bei diesem Vorgang reflexiven Denkens werden fluide Prozesse begrifflich festgestellt und es entschwinden Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Subjektivität des leiblich verfassten Selbst. Hier lautet der explizit verfasste Appell des Autors, sich nicht bloß als denkendes Wesen reduzieren lassen, das in Einzelteiligkeit gefangen ist. Dieses Anliegen betrachtet Schulz als existenzphilosophische Scharfstellung, nicht als neue Theorie.
Die Ergebnisse des Werkes sind anschlussfähig an aktuelle wissenschaftliche und politische Diskurse. In der Subjektivierungsforschung könnte die Unterscheidung in strikte und positionale Subjektivität bei der Entlarvung der Verdinglichung nützlich sein. Im Sinne feministischer politischer Ökologie wird die präreflexive Verwobenheit mit der Umwelt thematisiert. Für den Klimaschutz kann konstatiert werden, dass Klima kein Thema außerhalb von uns Menschen ist, sondern wir in strikt subjektivem Bezug dazu stehen, da es die Grundlage unserer Existenz darstellt. Zur Klärung existenzieller Probleme kann das affektive Betroffensein berücksichtigt werden, das evident wird, wenn uns die Flut buchstäblich auf den Leib rückt. Denn reflexiv-analytische Erklärungen können nur beschreiben, reichen aber nicht aus, um Probleme effektiv und praktisch zu lösen.
Manuel Schulz bekennt sich zu der Aufgabe der Soziologie, auf der Basis leiblich spürbarer Evidenzen den Singularismus des Denkens vor den Widersprüchen gesellschaftlicher Wandelungsprozesse zu kritisieren (S. 306). Dies erfordert im Sinne des Autors den Mut, positivistische Denkmuster zu überwinden und neue erkenntnistheoretische Wege zu gehen.
Literatur
Schmitz, H. (2007). Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bouvier.Suche in Google Scholar
Simmel, G. (1908). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot.Suche in Google Scholar
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