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Verluste in der Gesellschaftstheorie

Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2024, 463 S., gb., 32,00 €
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Veröffentlicht/Copyright: 23. Oktober 2025
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Soziologische Revue
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Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2024, 463 S., gb., 32,00 €


Verlust: die Nachtseite auch der Spätmoderne

Dass Menschen und Dinge und Pläne verloren gehen, und dass Verlorenes bedauert und betrauert wird, ist nicht nur ein Grundproblem der Moderne, sondern eines jeden fühlenden Wesens, und damit auch jeder Gesellschaftsformation seit der Zeit, als Menschen in Horden foragierten. Andreas Reckwitz will die Auswirkungen dieser Nachtseite der conditio humana speziell für eine Phase der Gesellschaftsentwicklung untersuchen, und zwar die Moderne, genauer: die industrielle Moderne, und noch genauer: die Phase des Übergangs von der industriellen Moderne zur Spätmoderne im globalen Nordwesten.

Reckwitz ist ein Spezialist für diese Phase. Er hat die Beobachtung Anthony Giddens‘, wonach seit den 1970er Jahren Subjekte erfolgreich ihre „ongoing story“ reflektieren und artikulieren, aufgenommen und hat daraus erst Das hybride Subjekt, in Die Erfindung der Kreativität dann das „kreative“ Subjekt geformt, das in der Spätmoderne nicht mehr (nur) durch rationales Handeln die Welt bearbeitet, sondern auch durch selbstreferentielles Erleben Welt verarbeitet (Reckwitz, 2012, S. 25–26). Damit rückte Reckwitz ästhetische Affekte – definiert als „kulturell modellierte leibliche Erregungsintensitäten“ (Reckwitz, 2012, S. 24) – in das Zentrum seines Theorieentwurfs. Die Affekte werden gesellschaftlich relevant durch sozial artikulierte „Praktiken“, die wiederum verknüpfen sich durch Routinen zu stabilen institutionellen Ordnungen, und so bringen sich diese Ordnungen immer wieder selbst hervor.

In Die Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz, 2017) erweiterte er die Beobachtung der ästhetischen Praktiken in den beiden Gesellschaftsphasen auf jegliche Tätigkeit, durch die Subjekte „Eigenkomplexität“ hervorbringen und so Einzigartiges schaffen. Er unterschied binär zwischen einer „Logik des Allgemeinen“, die in der industriellen Moderne dominierte, und einer „Logik des Besonderen“, die in der Spätmoderne praktiziert wird. Beide „Logiken“ bestehen aus vier „Komplexen“: Praktiken des Hervorbringens, des Aneignens (i. e. Erlebens), des Beobachtens und des Bewertens. Statt „Logik des Allgemeinen“ schreibt Reckwitzdoing generality“. Da der „doing“- Begriff in Verlust eine tragende Rolle spielt, sei eine frühe einflussreiche Quelle (die ihrerseits auf Harold Garfinkel verweist) zitiert: „Doing gender involves a complex of socially guided perceptual, interactional, and micropolitical activities” (West und Zimmerman, 1987, S. 126). Entsprechende Komplexe von „sozial gesteuerten sinnlichen, interagierenden und mikropolitischen Aktivitäten“ konstituieren also die Praktiken des doing generality und die des doing singularity in der Spätmoderne. Kunst, das „Spiel der Signifikanten“ (Reckwitz, 2012, S. 27) gilt nur mehr als das erste soziale Feld, in dem Besonderheiten systematisch fabriziert wurden. Inzwischen werden in allen sozialen Feldern Singularitäten hervorgebracht, werden selbst und von anderen erlebt, beobachtet und schließlich bewertet, und zwar positiv bewertet. Die „Kulturmaschine“, inzwischen digitalisiert, befeuert so die Wertschöpfung der „postindustriellen Ökonomie“.

Dass dieser historische Prozess von enttäuschten Erwartungen, Risiken und Verlierern begleitet ist, war in Erfindung der Kreativität und in Gesellschaft der Singularitäten schon erkannt worden, aber das Thema blieb am Rande. In Verlust rückt Reckwitz das „Grundproblem“ ins Zentrum. Er behält den „affektiven Strukturkern“ (Reckwitz, 2012, S. 314) seiner Gesellschaftstheorie, aber er beobachtet damit nicht mehr positiv gewertete Kreativerfahrungen, sondern negativ gewertete Verlusterfahrungen, und zwar alle, die in unserer Gesellschaft erlebt werden. Wieder beobachtet er den Übergang vom Gesellschaftszustand der industriellen Moderne zum Zustand der Spätmoderne. Diesmal nutzt er die Unterscheidung, um Verlusttypen, -schübe, -mechanismen und -bearbeitungsformate genauer beschreiben zu können. Seine beiden Bücher, so Reckwitz, zeigen „die Janusköpfigkeit der westlichen Moderne, ihre Fortschritts- und ihre Verlustdynamik“ (S. 28). Das überrascht, denn Gesellschaft der Singularitäten beschäftigte sich mit einer kleinen Elite, mit der „Speerspitze des sozialen und kulturellen Wandels“ (S. 27), Verlust dagegen handelt von den Verlusterfahrungen der gesamten Gesellschaft, die in der Spätmoderne durch die vielen Singularisierungsverlierer:innen gesteigert werden. Tatsächlich verlegt Reckwitz die „Logik des Allgemeinen“ in den Hintergrund, nun gilt Fortschritt als Merkmal der industriellen Moderne. Im Kontrast mit einer Ideologie, die eine ständige Verbesserung für unbestreitbar hielt, kann man den erzielten Gewinnen gut nachvollziehbar die erlittenen Verluste gegenüberstellen.

Ein Theorieapparat zur Verlustbeobachtung

Das ist der Anfang eines substantiellen Umbaus im Theorieapparat von Verlust. Immer noch sind Praktiken die kleinsten sozialen Einheiten, aus denen sich Gesellschaft zusammensetzt. Praktiken verknüpfen die Affektivität der Subjekte mit den routinisierten Ordnungen, die soziale Abläufe regeln. Aber diesmal spielen „Verlustdiskurse“, die als „Verlustgeschichten“ erzählt werden, eine besondere Rolle. Über die Anerkennung von Verlusten wird in öffentlichen „Verlustarenen“ gestritten. Derartige Diskurse, Geschichten und Arenen findet er in verschiedenen „sozialen Feldern“, insbesondere in Wirtschaft und Technik, Wissenschaft, Politik und Kunst. Der affektive Strukturkern der Theorie hat damit eine kommunikative Hülle bekommen. Die meisten der zu untersuchenden Prozesse finden in dieser Hülle, auf der diskursiven Ebene statt.

Um Ordnung in die Vielfalt der Verlustereignisse in der industriellen Moderne zu bringen, schlägt Reckwitz eine Vier-Felder-Matrix aus zwei Unterscheidungen vor, die an seine vier Komplexe der sozialen Praktiken erinnert: Der Unterschied zwischen dem Verringern und dem Steigern von Verlusten entspricht dem zwischen Hervorbringen und Erleben, und der Unterschied zwischen Umfang und Relevanz der Verluste entspricht dem zwischen Praktiken des Beobachtens und denen des Bewertens. Nun können die vier Zellen gefüllt werden: Praktiken, die den Umfang von Verlusten verringern, werden in vier verschiedenen sozialen „Bereichen“ identifiziert; Praktiken, die den Umfang steigern, setzen insgesamt zehn strukturelle und kulturelle „Mechanismen“ ein; Praktiken, die Verluste weniger wichtig oder gar unsichtbar machen, werden ihrerseits gespalten in fehlende subjektive Ausdrucksfähigkeit und diskursive Entwertung; Praktiken, die dazu dienen, mit der steigenden Bedeutung von Verlusten in der Moderne zurecht zu kommen, sind Bestandteile von „Formaten“, zu denen außerdem „diskursive Kontexte und Genealogien“ (S. 232) gehören.

Diese Formate beschreibt Reckwitz genauer. Im längsten Kapitel des Buches stellt er sechs Formate zur Bearbeitung von Verlusterfahrungen in der industriellen Moderne vor. Da sie zu den zentralen Befunden der Studie gehören, werde ich sie etwas genauer skizzieren.

(1) „Nostalgie“ nennt er das ästhetische Format, in dem Verlusterfahrungen in Texten, Bildern und Musik bearbeitet, im Sinne kreativ-affektiver Produktion sogar verarbeitet werden. Die einschlägigen Praktiken umfassen alle historischen Formen der Kunst, auch wenn Reckwitz mit „Nostalgie“ die Verluste beim Übergang von der bürgerlichen zur industriellen Moderne hervorhebt.

(2) In der Wirtschaft sind Verluste sogar quantifizierbar. Verluste sind Kosten, denen kein entsprechender Gewinn gegenübersteht. Statistisch gestützte Erwartungen solcher Schäden sind ein klassischer Bestandteil der Diskurse in den Finanzarenen. Aber die Ungewissheit, die jede Zukunftsprognose begleitet, und die Möglichkeit von Überraschungen führen zu jenen „Erregungsintensitäten“, die schon Maynard Keynes zu der Vermutung gebracht haben, dass animal spirits das Handeln in diesem sozialen Feld dominieren.

(3) Das politische Feld ist in der Moderne „nur ein soziales Feld ... neben anderen“ (S. 249). Gleichwohl wird in den politischen Arenen verhandelt, wie über vergangene und über zukünftige Verluste zu reden und wie mit ihnen umzugehen ist. Verluste der Opfer von Gewalttaten werden in der politischen Öffentlichkeit anerkannt, und erwartete Verluste werden über staatliche Sicherungen kompensiert.

(4) Die Religion, wenn auch von ihrer vormodernen Hegemonie reduziert zum bloßen Format des doing loss in der Moderne, stellt narrativ und über affektgeladene Rituale eine Sinnwelt zur Verfügung, die jenseits der „mundanen Lebenswelt“ existiert. Nach der christlichen Lehre – wie auch nach den beiden anderen abrahamitischen Glaubenslehren – erwarten die Praktizierenden nach dem Tod eine zeitlose Welt, die alle menschlichen und dinglichen Verluste in der mundanen Welt relativiert. In der buddhistischen Lehre wird „das Verschwinden (als solches bzw. von Allem!) angenommen und damit seines Verlustcharakters beraubt“ (S. 282, Fn. 114).

(5) Das Format der Psychotherapie setzt unmittelbar an der Emotionalität der Verlusterfahrung an. Vorbedingung ist Wissen, das Therapeut:innen im wissenschaftlichen, insbesondere im medizinischen und psychologischen Feld erworben haben, und das eingesetzt wird im direkten Dialog mit Menschen, die ihr Verlustgeschehen – oft ihre Trauer über den Verlust geliebter Menschen – nicht bewältigen. Die Therapie soll dabei helfen, „gleichsam gezielt an den einschlägigen psychischen Stellschrauben zu drehen“ (S. 265).

(6) Die Gemeinschaftsbildung der Diaspora ist das Format, mit dem Migrant:innen den Verlust ihrer Heimat bearbeiten. Diaspora besteht aus „bewusst vollzogenen gemeinschaftlichen Praktiken derjenigen, die sich auf die gleiche Herkunft berufen“ (S. 271). Reckwitz unterscheidet strategische, also rationale Praktiken, etwa Solidarnetzwerke, von kulturellen, also affektiven Praktiken, in denen die abwesende Heimat kulinarisch oder szenisch gegenwärtig erlebt wird.

In vier dieser Formate werden die Praktiken in sozialen Feldern, und zwar in Kunst, Wirtschaft, Politik und Religion eingesetzt. Im fünften Format werden im Diskurs der wissenschaftlich gestützten Therapie die Emotionen des persönlichen Verlusts thematisiert. Im sechsten Format wird der Verlust von Heimat mit Praktiken, die älter sind als die westliche Moderne, diskursiv und affektiv bearbeitet. Auf die Unterschiedlichkeit der sechs vorgeschlagenen Formate der Verlustbearbeitung werde ich zurückkommen.

Spätmoderne: mehr Verluste, mehr Formate

In der Spätmoderne wird die Logik des Allgemeinen nicht überwunden, sondern sie „wirkt im Hintergrund weiter “, während die Logik des Besonderen an „Prägekraft gewinnt“, und zwar „in der Kultur, Wirtschaft und Politik“ (S. 293). In der Folge verändert sich das Verhältnis der Subjekte zu ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der industriellen Moderne wurden zukünftig weitere Fortschritte erwartet, während in der Spätmoderne die Subjekte ihre gesellschaftliche Zukunft mit Skepsis und Befürchtungen, ihre persönliche Selbstentfaltung dagegen mit vielfältigen Hoffnungen erwarten. Der „wirkmächtige Durchbruch“ der „spätmodernen Kultur der Selbstverwirklichung“ wurde und wird durch sechs „soziale Kräfte“ ermöglicht, die von der „Psychologie des Selbstwachstums“ bis zur „Popkultur“ reichen (S. 324). Mit dem Umbruch ändert sich – und das ist eine bemerkenswerte Beobachtung – die paradigmatische Form, in der Organisationen ihre Zukunft zu gestalten versuchen: Sie wechseln von der Planung zur Prävention. Orientierung ist nicht mehr „das Erreichen des Positiven, sondern das Verhindern des Negativen. ... Ein Bewusstsein allseitiger Risiken wird dominant“ (S. 320).

Bei seiner Beschreibung der Spätmoderne arbeitet Reckwitz nicht mehr die vier Zellen der Matrix ab, die er für den Umgang mit Verlusten in der industriellen Moderne konstruiert hat. Er konzentriert sich nun auf Verlustpotenzierung durch sechs „Schübe“, und auf Verlustbearbeitung durch sechs „Formate“.

Alle Schübe sind „Ergebnis des Strukturwandels von der regulierten industriellen Moderne zur liberal-postindustriellen Spätmoderne“ (S. 361). Sie werden in der Gesellschaft beobachtet und negativ bewertet. Drei davon werden in gesellschaftlichen Diskursen und ihren Arenen eingeschätzt: Die Verschiebungen im Arbeitsmarkt und die steigende Ungleichheit der Einkommensverteilung werden in der Wirtschaft ausgehandelt, und in der politischen Öffentlichkeit diskutiert. Die Entwicklung hin zu illiberalen Demokratien wird als Verlusterfahrung in der Politik beobachtet und bedauert. Die Befürchtung, dass die globale Erderwärmung Naturkatastrophen verursacht, und dass natürliche Ressourcen versiegen, entstand durch die „Rezeption der Zukunftsszenarien der Klimawissenschaft“ (S. 341). Drei weitere „Schübe“ treffen auf die Affekte der Subjekte, und werden dort bewertet, bevor sie in den Deutungsarenen diskutiert werden: In historischer Vergangenheit zugefügte Verletzungen werden öffentlich, meist politisch, sichtbar gemacht und anerkannt. Die Sensibilisierung durch Selbstentfaltung bringt eine „beträchtliche Enttäuschungsanfälligkeit“ (S. 353) mit sich, und führt zum Gebrauch von Begriffen, „mit denen die Subjekte ihre Beschädigungen, Verletzungen und Verlusterfahrungen beobachten und auf spezifische Weise begreifen“ (S. 355). Drittens wird durch den medizinischen Fortschritt der Zeitraum verlängert, in dem alternde Menschen den Verlust ihrer körperlichen Fähigkeiten und ihres sozialen Umfelds erleben. Jede dieser sechs Veränderungen gegenüber dem Zustand vor 1970 ist plausibel, aber angesichts der Verschiedenheit der Schübe ist es wenig plausibel, deren Verhältnis zueinander mit der symmetrischen Struktur eines „Hexagons“ (S. 360) zu illustrieren.

Die sechs Formate der spätmodernen Verlustbearbeitung ergeben eine ähnlich heterogene Konstellation. Zwar gelingt es Reckwitz, den Strukturkern des affektiv getriebenen Handelns zu erhalten, wenn er die Diskurspraktiken skizziert, in denen auf die gesteigerten und veränderten Verlusterfahrungen reagiert wird. Verluste erhalten in der Spätmoderne sogar „den Stellenwert von Bezugspunkten für die subjektive und kollektive Identität“ (S. 376). Er führt sechs Beispiele für solche „Verlustidentitäten“ an: Subjekte nehmen sich wahr und organisieren sich (1) als Bewahrende von historisch Wertvollem, (2) als Verletzte, die gleichwohl verzeihen können, und (3) als Rächende für zugefügtes Leid. Des Weiteren erproben sie (4) affektive Formen von Verzicht ­– ein Format, das sowohl für staatliches als auch für privates Handeln relevant ist und mehr Beobachtungsschärfe verdient hätte. Sie werden (5) emotional resilienter, indem sie sich an veränderte Lebensbedingungen aktiv und passiv anpassen, und sie (6) bewältigen Trauer durch performative Akte des Loslassens.

Erlittene oder befürchtete Verluste können also zur kreativen Quelle von „Eigenkomplexität“ werden, wenn sich Gemeinschaften bilden, deren Mitglieder die erfolgreiche Eindämmung bestimmter Verlusttypen für wertvoll halten.

Ein Theoriereparaturvorschlag

Reckwitz beendet Verlust mit einem „Ausblick“. Der bleibt erstaunlich schematisch, wenig scheint gewonnen durch die Beobachtungen der vergangenen neun Kapitel. Die drei angebotenen Zukunftspfade entwickeln die spätmodernen Praktiken der Verlustbe- und -verarbeitung nicht spekulativ weiter, sondern basieren auf der allgemeinen Unterscheidung zwischen keiner (Weiterführung), negativer (Zusammenbruch) und positiver Veränderung. Für letztere übernimmt Reckwitz – mit Bezug auf Aleida Assmann – den Begriff der „Reparatur“, und meint damit eine subjektive Geisteshaltung, „in der man zunächst mit den gegebenen Institutionen und Lebensformen arbeitet, aber sie so ‚ausbessert‘, dass sie sich gleichermaßen nüchtern und offensiv der Problematik von Verletzlichkeit und Verlust stellen“ (S. 419). Die Arenen, in denen ausgekämpft wird, was in einem sozialen Feld als „besser“ gilt, bleiben dunkel. Im Gegenteil, Gesellschaft wird zum metaphorischen Subjekt gemacht, ihr wird im Schlusssatz der Status einer Akteurin mit menschlichen Denk- und Handlungsweisen zugeschrieben: „Nach 250 Jahren wird es Zeit, dass sie [die Moderne; M. H.] erwachsen wird und lernt, klug mit den Verlusten umzugehen“ (S. 424).

Es überrascht daher nicht, dass Reckwitz‘ Gesellschaftsanalyse ein Mangel an prognostischer Schärfe vorgeworfen wurde. Thomas Steinfeld sah die Studie als eine „seltsam verzagte und im Grunde opportunistische Veranstaltung zur Bestätigung landläufiger Vorurteile“ (Steinfeld, 2024). Guillaume Paoli fand den Ansatz ineffektiv, denn das „Patchwork verschiedener Beobachtungen, die triftig sein mögen“, liefert doch enttäuschend wenig „theoretischen Kitt“ (Paoli, 2024). Oliver Schlaudt kritisierte ein „Potpourri heterogener Dinge ... ohne dass diese Dinge in einem neuen Licht erschienen, ohne dass eine verborgene Einheit greifbar würde“ (Schlaudt, 2024, S. 69–70).

Richtig ist, dass die vier Komplexe von sozialen Praktiken, aus denen die Logiken des Allgemeinen und des Besonderen so überschaubar zusammengesetzt waren, keine systematische Rolle mehr spielen. Das kann so gewollt sein, denn Reckwitz steht auf dem Standpunkt, dass neue Problemstellungen Anpassungen im Begriffssystem erfordern. Diese These vertritt er in einem kurzen Essay, den er für den seinem Ansatz gewidmeten Band Der Kreativitätskomplex geschrieben hat. Aber wie sieht dann seine „Begriffsapparatur“ (Reckwitz, 2018, S. 258) für eine Gesellschaftstheorie des Verlusts aus?

Die Grundstruktur seiner Theoriearchitektur ist immer noch binär. Die moderne Gesellschaft zerfällt in eine Sphäre der Kultur, in der affektive Werte geschaffen und zirkuliert werden, und eine Sphäre des Sozialen, in der rational auf unterschiedlichen Feldern Wertvolles produziert, also be- oder verarbeitet wird. Genannt werden häufig die Felder von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst. Im Fall der Kunst bleibt unklar, ob es sich um ein weiteres soziales Feld handelt, oder ob damit alle kulturellen Praktiken gemeint sind. Eine ähnliche Unschärfe fand sich schon in Das hybride Subjekt auf der Seite des Sozialen, wo der „ökonomische, marktorientierte Code ... über das engere soziale Feld der Wirtschaft hinaus“ zur „Ökonomie“ generalisiert ist (Reckwitz, 2020, S. 595).

Blickt man „durch die Brille des Einzigartigen“ (S. 193), also die der Spätmoderne, dann sieht man einen steigenden Anteil kultureller Praktiken der Singularisierung in allen sozialen Feldern. In diesen Feldern bilden sich „ästhetische Sozialitäten“, in denen Produzenten mit ihren Beiträgen vor Publikum auftreten, gerahmt von „institutionellen Strukturen“ (Reckwitz, 2018, S. 267). Wenn nun die Beobachtung vom Wertegewinn zum Werteverlust wechselt, dann geraten diejenigen kulturellen Sozialitäten in den Blick, deren doing loss darin besteht, sich in der Be- und Verarbeitung einer bestimmten Variante des Verlustgeschehens institutionell einzurichten. „Ästhetisch“ meint in diesen Sozialitäten jegliche affektive Qualität derjenigen Praktiken, über die Produzierende und Rezipierende am Verlustgeschehen beteiligt sind.

Reckwitz illustriert seinen „analytischen Bezugsrahmen“ für Verlust durch ein Dreieck, dessen Spitzen „Affektivität“, „Zeitlichkeit“ und „Narrativität“ heißen (S. 36). Die Affekte der Subjekte sind die treibende Kraft in den sozialen Praktiken, und die Dimension der Zeitlichkeit ist bei einem Epochenübergang als subjektive Erinnerung und Erwartung und als Veränderung kultureller und sozialer Strukturen berücksichtigt. Aufgestiegen im analytischen Bezugsrahmen ist die Dimension der Narrativität, und damit die Rolle von Diskursen und von Arenen, in denen Debatten geführt werden. Gesellschaft findet im Medium der Kommunikation statt, auch wenn „Kommunikation“ ein Begriff ist, den Reckwitz konsequent vermeidet. Er ordnet Diskurskompetenz als eine soziale Praktik unter vielen ein. Damit verhindert er den konsequenten Ausbau seines Ansatzes hin zu einer Theorie, in der die sozialen Felder als eigenständige kommunikative Sozialitäten modelliert werden könnten.

Stattdessen verwendet Reckwitz, wie schon in seinen früheren Werken, die Methode der kleinen Mengen, und die Methode der 4-Felder-Matrix. Die Methode der kleinen Menge besteht darin, seine Beobachtungen der gesellschaftlichen Phänomene nicht durch empirische, quantitativ gestützte Quellen zu belegen, sondern pauschal auf qualitative Studien zu verweisen, die seine Auswahl relevanter Erscheinungsformen plausibel erscheinen lassen. Diese Auswahl umfasst in der Regel jeweils drei bis sechs Elemente, also eine überschaubare Zahl, zusammengefasst unter Allgemeinbegriffen, die sowohl Ordnung als auch Dynamik suggerieren. So wirken zehn Mechanismen (fünf auf der kulturellen, fünf auf der sozialen Seite), sechs Kräfte, fünf Elemente, vier Impulse, zweimal sechs Formate, fünf Modi und sechs Schübe in vier sozialen Bereichen auf fünf Verlusttypen. Hartmut von Sass nennt das ein „ökumenisches Vokabular“, dem die „technische Trennschärfe“ fehlt (Sass, 2024).

Wenn es um großräumige Beobachtung geht, dann setzt Reckwitz die Vier-Felder-Matrix, also zweifache Unterscheidungen, ein. So werden Verlusterfahrungen in der Moderne sowohl nach Verringerung und Steigerung als auch nach Umfang und Relevanz, also nach ihrem Wert, unterschieden. Reckwitz nennt das eine „doppelte Verlustparadoxie“, aber diese Interpretation beruht allein darauf, dass er auch hier die Epoche der Moderne zu einer handelnden Person macht, die sowohl hemmt als auch steigert (S. 162).

Mit einer ähnlichen Konstruktion hatte Reckwitz seine Beobachtungen zur Singularisierung geordnet:

Die Gesellschaft der Singularitäten ... spielt ein großes soziales Spiel von Valorisierung und Singularisierung einerseits, Entwertung und Entsingularisierung andererseits und lädt Objekte und Praktiken mit einem Wert jenseits von Funktionalität auf. Hinzu kommt, dass die Sphäre der Kultur in der Spätmoderne ... kein abgezirkeltes Subsystem mehr [ist], sondern ... sich in eine globale Hyperkultur transformiert hat. (Reckwitz, 2017, S. 17)

Die Passage zeigt erstens den Gebrauch der vereinfachenden Personifizierung, zweitens ein Beispiel seiner häufigen Abgrenzungen gegenüber der Theorie sozialer Systeme, von der er eine grotesk reduzierte Vorstellung pflegt, und drittens die Beschreibung gesellschaftlichen Lebens als „Spiel“. Diese Begrifflichkeit wählte Reckwitz schon in Erfindung der Kreativität, als es noch um das „abgezirkelte Subsystem“ ging, in dem Künstler das „Spiel der Signifikanten“ mit ihrem Publikum spielen. Zu diesem Spiel gehören Valorisierungsinstanzen, die entstandene „Eigenkomplexität“ bewerten. Sie sind es, die Grenzen ziehen und so das Kunstspiel und seine „anerkannte Originalitätsproduktion“ zur „abgezirkelten“ Insel im Meer der profanen Kreativität (Reckwitz, 2012, S. 362) machen. Wenn Reckwitz nun das Spiel der Kunst von der Insel zur globalen – also gesamtgesellschaftlichen, gar weltweiten – „Sphäre der Kultur“ erweitert, dann verliert er die Differenzierungsmöglichkeiten, die der Ausflug in die Spielmetaphorik bieten könnte. Nicht nur in der Kunst, auch in der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und der Religion spielen Produzierende gegenüber Zuschauenden, und zwar nach den Wertmaßstäben und den Regeln ihres jeweiligen gemeinsamen Spiels. In jeder dieser „Wertsphären“, um Max Webers Ausdruck zu verwenden, haben die Singularisierungsprozesse der Spätmoderne zu Wertgewinnen, und die damit verbundenen Sensibilisierungsprozesse zu Wertverlusten geführt, ausgedrückt und zur Sprache gebracht in den diskursiven Formaten der je eigenen Spielarenen, die alle – nicht nur das Kunstspiel – „affektive Kampffelder“ (Reckwitz, 2012, S. 88) sind. Wenn also mit „sozialen Feldern“ komplexe, sich durch ihre Praktiken reproduzierende, ständig evolvierende Wertspiele gemeint sind, in denen kulturelle Wertungen nicht von außen einwirken, sondern in denen eigenständige Wertungen generiert werden, dann lässt sich das starre duale Schema, bei dem alle Wertschöpfung auf eine Kultursphäre zugerechnet wird, überwinden. Funktionale Differenzierung – hier irrt Reckwitz schon früh – impliziert keineswegs die Annahme „einander widersprechender Identitäten“ (Reckwitz, 2006/2020, S. 29), sondern lediglich trainierte Subjekte, die von Geburt an gelernt haben, in ganz unterschiedlichen, „mehrdeutigen Sprachspielen“ (Reckwitz, 2006/2020, S. 630) zu kommunizieren.

Nicht alle der von Reckwitz erwähnten Bereiche erfüllen die Kriterien gesellschaftlicher Wertspiele. Das gilt sicher nicht für „Techniken“ – von Schienennetzen bis zu digitalisierten Kommunikationsnetzen – , die zwar Spielverläufe verändern, aber gleichwohl Medium der Mitspielenden bleiben. Es gilt auch nicht für „Lebensformen“ – ein Register, mit dem wieder der Kontrast von affektiver, kulturalisierter Lebenswelt und rationaler, affektfreier Welt aufgerufen wird. Bei „Politik und Staat“ spricht Reckwitz erstaunlicherweise von einem „Funktionssystem der modernen Gesellschaft“ (S. 140), doch erst wenn man den Staat, als Konglomerat von handlungsfähigen Organisationssystemen, unterscheidet von seinem territorial begrenzten Politikspiel, gewinnt man theoretische Trennschärfe.

Statt einer bipolaren könnte eine Gesellschaftstheorie, die von mehreren Wertsphären ausgeht, vielleicht besser erklären, warum sich in unseren westlichen Politikarenen und in den Arenen des Wirtschaftsspiels Strategien der Prävention und des Verzichts trotz vorhersehbarer Verluste nicht durchsetzen. Die Modellierung globaler Multipolarität könnte den Erklärungsraum über Europa und Nordamerika hinaus auf Gesellschaftsformationen erweitern, in denen die Subjekte eine präkoloniale, koloniale und postkoloniale Moderne erlebt haben, und deshalb in ihren Wertspielen anders beobachten und bewerten. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass Reckwitz seine nächsten Spielzüge in eine derartige Richtung lenken wird. Welch ein Verlust für die dünn besetzte Disziplin der Gesellschaftstheorie im Spiel der Sozialwissenschaften.

Literatur

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Online erschienen: 2025-10-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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