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Die Sackgasse der Bewegungsforschung

Dieter Rucht, Kollektive Proteste und soziale Bewegungen: Eine Grundlegung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 240 S., br., 28,00 €
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Published/Copyright: November 28, 2025
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Dieter Rucht, Kollektive Proteste und soziale Bewegungen: Eine Grundlegung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 240 S., br., 28,00 €


Die Debatten der deutschen Protestforschung bleiben von der Marginalität dieses Forschungsfelds geprägt. Zwar haben prominente soziologische Themen mit Protest zu tun, z. B. der Erfolg des sogenannten Rechtspopulismus und die Dynamik des Klimakonflikts; und für ein Fach mit der Leitfrage „Wie ist soziale Ordnung möglich?“ verspricht die Beobachtung von Protestbewegungen – als Fällen einer besonders prekären Ordnungsform – ohnehin interessante Einsichten. Trotzdem ist die systematische Erforschung von Protest in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften lange Zeit randständig geblieben; gerade die Soziologie richtete ihre Aufmerksamkeit vor allem auf unterstellte hochstabile Strukturen wie „Klassen“, „Funktionssysteme“ oder „Diskurse“. So wurde diese Bewegungsforschung in eine Kommunikationskonstellation eingebunden, die weiterhin Folgen hat: Als zentrale Publika wirkten für sie zum einen die am Untersuchungsgegenstand direkt Beteiligten – die Protestierenden, die ihre Selbstbeschreibungen gewürdigt sehen wollen;[1] zum anderen ein Journalismus, der verwertbare Informationen zum Protestgeschehen nachfragt. Dagegen bilden, jenseits eines Netzwerks spezialisierter Protestforscher:innen, die sonstigen Sozialwissenschaften meist kein zentrales Publikum. Darum werden auch die dort unter dem Stichwort „Theorie“ entwickelten Reflexionsstrategien kaum genutzt, die die Chance bewahren sollen, andere Fragen zu stellen, andere Aspekte des Gegenstands als relevant zu erkennen und andere Erklärungsstrategien auszuprobieren. Dieter Rucht, der am meisten zur Institutionalisierung dieses Forschungsfelds in Deutschland beigetragen hat, spricht von einer „bienenfleißigen, aber theoretisch eher anspruchslosen Protest- und Bewegungsforschung“ (Rucht, 2022, S. 433). Das Hauptproblem sieht er im prekären „Band zwischen Gesellschaftstheorie und Theorie sozialer Bewegungen“ (S. 192). Das vorliegende Buch soll das korrigieren; zugleich soll es als Lehrbuch dienen, das den „zentralen Erträgen der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungsforschung“ (S. 10) gerecht wird. Aufschlussreich ist dieses Buch gerade, weil es vorführt, mit welchen Schwierigkeiten eine solche Selbstrevision im Rahmen des so entstandenen Forschungsprogramms zu kämpfen hat.

Den Ansatzpunkt, über den Rucht die Verbindung zu gesellschaftstheoretischen Fragen herstellt, bildet die Kommunikationssphäre der politischen Öffentlichkeit. Er will sie als „intermediäre Struktur“ (S. 197, Anm. S. 154) untersuchen; damit knüpft er kritisch an Habermas an, der hier als wichtigste Theoriereferenz auftritt. Rucht sieht politische Öffentlichkeit als zentrale Selektionsinstanz – erstens für Erfolg und Misserfolg von Bewegungen: „Hier wird über die Legitimität von Bewegungen und deren Forderungen verhandelt und erfolgt die Weichenstellung für das Schicksal von Bewegungen“ (S. 105). Zweitens für die Gestalt der jeweiligen Bewegung: „Bewegungen [...] konturieren und formen [...] sich, wenngleich nicht ausschließlich, in öffentlichen Auftritten und Auseinandersetzungen. [...] Die grundlegenden Strukturen von Öffentlichkeit prägen auch die Handlungsoptionen – und damit die Erfolgschancen – sozialer Bewegungen“ (S. 105). Das ist ein hochinteressantes Programm; es schließt wesentlich – das hätte vielleicht deutlicher gesagt werden können – an das Programm der von Friedhelm Neidhardt geleiteten WZB-Abteilung „Öffentlichkeit und soziale Bewegungen“ (1988–2000) an, in der auch Rucht tätig war (vgl. Neidhardt, 1994).

Angesichts seiner gesellschaftstheoretischen Absicht hätte man vermuten können, dass das Buch noch weitere Theorieperspektiven berücksichtigt, die ebenfalls Öffentlichkeit als zentral behandeln, aber bereits kritisch auf Habermas reagieren. Nahe läge das auch, weil die Rationalitätshoffnungen, die Habermas’ Theorie in politische Öffentlichkeiten investiert, sich nur recht eingeschränkt erfüllt haben. Zwei einschlägige Ansätze, die Ausgangspunkte größerer empirischer Forschungsprogramme bildeten, wären die durkheimianische Soziologie politischer Öffentlichkeiten, die Jeffrey Alexander vorangetrieben hat (vgl. v. a. Alexander, 2006, dazu Kern, 2017), und die von Luc Boltanski und Kolleg:innen entwickelte politische Soziologie der Rechtfertigungsordnungen; so rekonstruiert die auch in Deutschland bekannt gewordene Studie zum Neuen Geist des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello, [1999]2003), wie die Rechtfertigungszwänge einer politischen Öffentlichkeit das Kritikmuster einer politischen Bewegung fundamental verändern, und wie das auf diese Öffentlichkeit als ganze zurückwirkt. Auf die Gelegenheit, sein Konzept durch eine Auseinandersetzung mit diesen konkurrierenden Beschreibungsstrategien zu schärfen, verzichtet Rucht jedoch (obwohl sie, wie wir gleich sehen werden, für sein Programm durchaus nützlich wären).

Stärker überrascht, dass auch Habermas’ Schlüsselkonzept des „kommunikativen Handelns“ ganz unscharf referiert wird – obwohl es entscheidend ist für dessen Argument über den Zusammenhang zwischen politischer Öffentlichkeit und lokaler Handlungskoordination. Als Beispiele für diesen Handlungstyp nennt Rucht u. a. „das mit keinerlei pädagogischen Ambitionen betriebene Spiel mit einem Kind“ und den „nachbarschaftliche[n] Plausch im Treppenhaus“ (S. 119). Wer dieser Darstellung vertraut, müsste sich wundern, dass ein Buch mit gesellschaftstheoretischem Anspruch im Titel auf diese Art Handeln verweist. Tatsächlich geht es Habermas mit diesem Konzept aber zunächst um sprachliche Verständigung als „Mechanismus der Handlungskoordinierung, der die Handlungspläne und die Zwecktätigkeiten der Beteiligten zur Interaktion zusammenfügt“ (Habermas, 1981b, S. 143), also darum, auf welche Weise Kommunikation – die durchaus zweckgerichtet geschehen kann – soziale Ordnungseffekte erlangt. Die mit dieser Kommunikation verbundenen Deutungsprozesse sieht er als essentiell für diese Ordnungseffekte: „Im Fall kommunikativen Handelns stellen die Interpretationsleistungen, aus denen sich kooperative Deutungsprozesse aufbauen, den Mechanismus der Handlungskoordinierung dar“ (Habermas, 1981b, S. 151). Wegen dieses Fokus kann Habermas’ Handlungstypologie gerade jenes spielerische Verhalten, das Rucht als Beispiel nennt, nicht gut erfassen.[2] Da er Habermas’ Konzept in diesem Sinne deutet, ist es jedoch nicht überraschend, dass aus der Aussage, in Bewegungen finde auch kommunikatives Handeln statt, bei Rucht nichts folgt: Weil nicht gesehen wird, dass dieser Begriff auf ein koordinationsrelevantes Handeln zielt, wird auch nicht gesehen, dass er beim Erklären von Protest eine Rolle spielen kann. Auch das hier einschlägige Konzept kommunikativer Macht, das Habermas ([1976]1981a) anknüpfend an Arendt entwickelt, wird nicht diskutiert, sondern nur kurz erwähnt. Darum muss auch Ruchts knappe Diskussion der Frage, ob Habermas’ Theorie die Machteffekte der „Lebenswelt“ angemessen integrieren kann (S. 195–196), ins Leere laufen.

An dieser Habermas-Aneignung zeigt sich ein spezifisch selektiver Zugriff auf Theorieoptionen. Gewiss betont Rucht, dass er sich vor allem für gesellschaftstheoretische Fragen interessiert (auch wenn sich dieses Interesse weniger auf komplexe Theoriegebilde wie Luhmanns Systemtheorie zu richten scheint, von der Habermas erheblich beeinflusst wurde).[3] In diesem Buch bedeutet das allerdings, dass eine ernsthafte Aufmerksamkeit nur den unmittelbar gesellschaftstheoretischen Aussagen gilt; das betrifft auch die Habermas’sche Referenztheorie. Welche Folgen das haben muss, wird deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass soziologische Theorien aus unterschiedlichen, aber aufeinander verweisenden Argumentationsebenen bestehen: Mit Lindemann (2025) kann man hier unterscheiden zwischen (1) gesellschaftstheoretischen Argumenten; (2) „Theorien begrenzter Reichweite“, deren Gegenstände je spezifische Mechanismen sind, die auch den Aufbau gesellschaftlicher Strukturen erklären sollen; und (3) „sozialtheoretischen“ Argumenten darüber, welche Phänomene überhaupt als erklärungsrelevante Basiselemente sozialer Prozesse in Frage kommen. (Unter diese sozialtheoretischen Argumente fällt auch Habermas’ Handlungstheorie, zu der sein Konzept kommunikativen Handelns gehört: Ihm zufolge besteht ein mögliches Element sozialer Prozesse in einem Zusammenhandeln, das auf der kommunikativen Herausbildung geteilter Überzeugungen aufbaut.)

Was die sozialtheoretische Argumentationsebene und die Theorien begrenzter Reichweite angeht, hält Rucht an den Routinen der Bewegungsforschung fest: In seinen Beschreibungen sozialer Bewegungen erscheinen strategische Kalküle als das entscheidende Basiselement sozialer Prozesse; die wesentlichen Mechanismen, die Protest antreiben, sind demnach über rationales Organisationshandeln vermittelt. (Der Versuchung, Bewegungen insgesamt auf Organisationen zu reduzieren, kann Rucht nicht immer widerstehen – einmal schreibt er: „Stärker als viele andere Organisationen sind Bewegungen auf die Mitgliedschaftslogik statt auf die Einflusslogik gepolt“ (S. 95).) Schlüsselbegriff bleibt das in der Bewegungsforschung gängige Konzept der Gelegenheitsstruktur. Es verweist hier direkt auf eine Erklärungsstrategie, in deren Zentrum Annahmen über Nutzenkalküle stehen: „Gelegenheitsstrukturen wirken sich meist nicht per se auf Bewegungen aus, sondern müssen von diesen erst als günstige oder ungünstige Faktoren erkannt und in Rechnung gestellt werden“ (S. 57). Tatsächlich will Rucht diese Perspektive noch stärker generalisieren als sonst in der Bewegungsforschung üblich: Er spricht nicht allein von politischen Gelegenheitsstrukturen, sondern allgemeiner von einer gesellschaftlichen „Kontextstruktur“ (S. 115), die insgesamt nach diesem Muster zu begreifen sei. Das Festhalten an den sozialtheoretischen Routinen der Bewegungsforschung hat dann zur Folge, dass gesellschaftliche Strukturen hier nur insoweit in den Blick kommen, wie sie Bewegungsorganisationen Gelegenheiten signalisieren. Gesellschaftstheoretische Konzepte können in die Argumentation also nur in dem Maße integriert werden, wie sie sich als Aussagen über Gelegenheitsstrukturen reformulieren lassen. Auch Öffentlichkeiten können dann nur in diesem Sinne als erklärungsrelevant erscheinen: als Trägerinnen einer „diskursiven Gelegenheitsstruktur“ (S. 57) bzw. Teile „sozio-kultureller“ Gelegenheitsstrukturen (S. 116).

Hier könnte man antworten wollen, das sei eine verbreitete, also legitime Theorieoption. Aber Ruchts Programm lässt sich mit ihr nicht gut umsetzen. Das betrifft zunächst die explanatorische Aufwertung politischer Öffentlichkeiten. Die dafür grundlegende Frage nach den Selektionseffekten von Öffentlichkeiten führt sofort zu der Anschlussfrage, warum bestimmte Deutungsangebote in einer Öffentlichkeit Erfolg haben und andere nicht. Hier hilft ein Gelegenheitsstrukturmodell nicht weiter. Zwar können Protestierende es als Veränderung politischer Gelegenheiten ansehen, wenn ein Deutungsangebot in einer Öffentlichkeit Plausibilität gewinnt oder verliert. Aber der Prozess, in dem Teile eines Publikums dazu gelangen, ein Deutungsangebot für plausibel oder unplausibel zu halten, lässt sich nicht selbst auf eine Wahrnehmung von Gelegenheiten zurückführen. (Genauer: Er lässt sich nur dann auf eine Wahrnehmung von Gelegenheiten zurückführen, wenn solche Gelegenheiten den Gegenstand des Deutungsangebots bilden.) Das gleiche gilt für die bewegungsinterne Entstehung von Situationsdeutungen, die so weit geteilt werden, dass sie Koordination ermöglichen. Für die Entstehung entsprechender Plausibilitätsgewinne und -verluste wird darum eine eigenständige Erklärung benötigt. Habermas’ Konzept des kommunikativen Handelns steht für den Erklärungsvorschlag, dass solche Plausibilitätsgewinne regelmäßig als Folgen von Rationalitätsstandards zustande kommen. Das kann man mit guten Gründen für nur begrenzt überzeugend halten. Aber dann bräuchte man eine andere Erklärung; denn Habermas hat zumindest gezeigt, dass eine explanatorische Aufwertung von Öffentlichkeit die Frage beantworten muss, wie die für die jeweilige Öffentlichkeit maßgeblichen Überzeugungen entstehen und sich verändern.

Das ist einer der Punkte, an denen die erwähnten Ansätze von Jeffrey Alexander und Luc Boltanski instruktiv wären: Sie liefern gesellschaftstheoretische reflektierte Alternativantworten auf diese Frage, und damit auch andere Zugänge zu den Selektionseffekten politischer Öffentlichkeiten. Boltanski und Thévenot ([1991]2006) wollen zeigen, dass öffentliche Deutungsangebote ihren Erfolg letztlich alltäglichen Koordinationserfahrungen verdanken; Alexander (2006) betont die Evidenzeffekte öffentlicher Ereignisse, die faktisch Ritualcharakter haben und sich zunächst mit einem durkheimianischen Modell begreifen lassen. Statt auf solche Ideen zu reagieren, hält Rucht, gemäß den Üblichkeiten der Protestforschung, an einem einfachen Modell strategischen Handelns fest und verweist auf „Framing“-Aktivitäten. Aber das verschiebt nur das Problem hin zur Frage, warum manche Framing-Angebote angenommen werden und andere nicht. Ruchts Buch enthält keinen Vorschlag, wie sich diese Frage sinnvoll bearbeiten ließe.

Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Fokus auf Organisationskalküle ergeben, betreffen auch Ruchts Grundannahmen darüber, wie soziale Bewegungen funktionieren. Hier verweist schon seine Definition sozialer Bewegungen implizit auf ein Bezugsproblem, das erst später hervortritt. Bewegungen, so stellt Rucht definitorisch fest, seien „gestützt auf eine kollektive Identität“ (S. 20); das wird, wenn auch ohne Erläuterung, mit Annahmen über die Funktionalität bzw. Dysfunktionalität bestimmter Identitätstypen verknüpft – Rucht spricht von der Wichtigkeit einer „‚angemessene[n]‘ Identitätsbildung“ (S. 24). Dieser Verweis auf „Identität“ soll eine Antwort auf die Frage liefern, warum die jeweils Beteiligten sich für Protest engagieren. Denn für Rucht gilt: Deren „freiwillig erbrachte Leistungen, das commitment der Träger und Anhänger einer Bewegung, bilden gleichsam das Kapital, mit dem eine Bewegung, vermittelt über Bewegungsorganisationen, wirtschaften kann“ (S. 81, ähnlich S. 205). Dieses Bezugsproblem ist seit Olson (1971) als Problem kollektiven Handelns vertraut (auch wenn Rucht – was für ein Lehrbuch problematisch ist – Olsons Namen nicht erwähnt und den Bezug zu diesem Problem auch sonst nicht offenlegt). Anders als Olson sieht Rucht das nötige commitment aber als Effekt besagter Identitäten. Dass solche proteststützenden Identitäten entstehen und stabil bleiben, will er allerdings ebenfalls auf kalkuliertes Organisationshandeln zurückführen: auf eine „fortlaufende Identifikations- und Motivationsarbeit“ (S. 207); in diesem Sinn spricht er von einer „Kunst der Identitätsbildung“ (S. 206). Dabei schreibt er diesem Organisationshandeln nicht nur die Leistung zu, bestehende Identitäten zu stabilisieren – ein „Aspekt der Motivationsarbeit ist die Festigung kollektiver Identität“ (S. 90) –, sondern auch die, solche Identitäten überhaupt erst zu formen: Die „Gefühle und Überzeugungen [der an Protesten Beteiligten, A. P.] sind das Rohmaterial, das Initiatoren und Organisatoren nutzen und formen, um es in kollektive Aktion zu überführen“ (S. 205). Das dürfte nur als Teilerklärung funktionieren – zumal sich nun die Frage aufdrängt, wie denn die Identitäten dieser Organisatoren entstehen. Auch die existierende Forschung über politische Organisationen, die tatsächlich damit rechnen, die Identitäten ihrer Mitglieder direkt formen zu können, hätte geholfen, die Grenzen dieser Erklärungsstrategie zu erkennen.[4] Andere Mechanismen kommen in diesem Buch jedoch entweder nicht in den Blick oder werden – wie die „Rituale der kollektiven Selbstvergewisserung“ (S. 90) – wieder auf Effekte eines solchen Organisationshandelns reduziert. Selbst Alternativkonzepte, die Ruchts Programm nahestehen, werden nicht herangezogen. Das gilt etwa für die kritische Fortschreibung von Habermas’ Öffentlichkeitsmodell durch Honneth (1992), die ebenfalls am Beginn eines auch empirischen Forschungsprogramms stand; Rucht erwähnt Honneths Ansatz nur knapp, ohne dessen potentiellen Nutzen für sein Projekt zu diskutieren. Dabei kann eine Aufmerksamkeit für Anerkennungskämpfe helfen, den Wandel und die Stabilisierung zumindest mancher der Identitäten zu erklären, die Protesthandeln tragen. Zugleich kann sie – ganz im Sinne von Ruchts Frage nach protestangemessenen Identitäten – auch die Entstehung protesthemmender und protestbegrenzender Identitäten erhellen (und auch dadurch helfen, die Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen Identitäten entstehen, die Protest fördern): Anerkennungswünsche können Selbstverhältnisse auch in einer Weise verändern, die eine Anpassung an die Normen derer bedeutet, deren Anerkennung ersehnt wird; das wurde aus feministischer Perspektive diskutiert (vgl. Lepold, 2021), wie auch mit Blick auf koloniale Konstellationen (Nandy, 1988). Rucht verzichtete jedoch konsequent auf Konzepte, die wirklich über ein Modell strategischen Handelns hinausgehen; darum bleibt offen, wie in diesem Rahmen erklärt werden könnte, dass manchmal die Identitäten entstehen, von denen er annimmt, dass sie Protest ermöglichen.

Das entscheidende Problem ist dabei nicht, dass Ruchts Ansatz keine theoretischen Instrumente bereitstellt, mit denen sich diese von ihm identifizierten Schlüsselfragen bearbeiten ließen; sondern dass er sich sozialtheoretisch – und dann auch in der Frage der relevanten Mechanismen – in einer Weise festlegt, die es kaum ermöglichen dürfte, die hier nötigen begrifflichen Mittel je in seine Argumentation zu integrieren.

Das sollte man nicht als individuelle Schwäche des Autors ansehen. Nicht umsonst dankt Rucht mehreren Kolleginnen und Kollegen aus der Bewegungsforschung, die das Manuskript gelesen und sich an diesen Dingen offensichtlich nicht gestört haben. Sein Buch lässt sich als Dokument eines kollektiven Denkstils verstehen, der sich der oben erwähnten Kommunikationskonstellation verdankt: Wenn ein Buch, das die zentralen Erträge der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungsforschung vermitteln soll, die darauf bezogenen Theoriedebatten weithin beiseite lässt, dann scheint sich eine Selektionsregel dieser Bewegungsforschung zu zeigen. Aus ihrer Sicht bilden diese Reflexionsangebote keine zentralen Erträge, und auch die Revisionschancen, die sie bieten, sind demnach nicht zentral. Insofern ist dieses Buch ein Lehrstück über die Festigkeit von Routinen. Es demonstriert, wie ein Muster des Theorieverzichts auch dort stabil bleibt, wo der ausdrückliche Versuch unternommen wird, es zu überwinden, und selbst dort, wo dieses Muster offensichtlich mit dem Erklärungsprogramm des Autors in Konflikt gerät. Damit wirft dieses Buch vor allem die Frage auf, wie die Bewegungsforschung aus dieser Sackgasse herauskommen kann.

Literatur

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Online erschienen: 2025-11-28
Erschienen im Druck: 2025-11-27

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