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Armin Nassehi, Kritik der großen Geste: Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. München: C.H.Beck 2024 (2. Auflage; Erstauflage 2024), 224 S., br., 18,00 €

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Published/Copyright: October 23, 2025
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Armin Nassehi, Kritik der großen Geste: Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. München: C.H.Beck 2024 (2. Auflage; Erstauflage 2024), 224 S., br., 18,00 €


„Gesellschaft muss sich verändern!“ Wenn es um die Bewältigung des Klimawandels und den Weg zur Klimaneutralität geht, ist diese Forderung allgegenwärtig. Der Münchener Soziologe Armin Nassehi unternimmt in seinem Buch „Kritik der großen Geste“ nun den Versuch, die Forderung nach einer umfassenden Transformation einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Seine These: Gesellschaften wohnt eine Trägheit inne, die dazu führt, dass aus objektivem Veränderungsdruck (etwa einer sich beschleunigenden Erderwärmung) nicht zwangsläufig auch tatsächliche Veränderungen folgen. Nassehi bringt es so auf den Punkt: „Es könnte keineswegs alles anders sein“ (S. 13). Er betont die umfassende Stabilität und Erwartbarkeit gesellschaftlicher Praktiken und Routinen, die von einer Art „Eigensinn“ geprägt und eben deshalb nicht ohne weiteres zu verändern sind. In 16 kleinen Kapiteln, man könnte sie auch Miniaturen nennen, nähert sich der Autor kenntnisreich und aktualitätsbezogen seiner Grundthese. Mit diesem Aufbau versucht Nassehi sein Plädoyer für die kleinen Schritte gesellschaftlicher Transformation und gegen den „großen Wurf“ der Transformation „aus einem Guss“ zu plausibilisieren. In einer erstaunlichen Breite widmet sich der Autor etwa den Massenmedien, dem Aufstieg der AfD, dem Konservatismus, der Kapitalismuskritik, Zielkonflikten oder den begrifflichen Unschärfen von „Steuerung“ und „Transformation“. Im Folgenden will ich nicht auf jedes einzelne dieser Kapitel eingehen, sondern vielmehr grundsätzlich über einige offene Flanken des Buches nachdenken.

Das Buch widmet sich zunächst einem überaus relevanten und wissenschaftlich wie publizistisch heiß diskutiertem Thema: Wie können Gesellschaften den Umgang mit den großen Transformationen unserer Zeit und ihren Folgen bewältigen? Nassehis Perspektive des gesellschaftlichen Eigensinns kann dabei durchaus stichhaltige Argumente gegen einen naiven Transformationssofortismus liefern. Dennoch stößt der Blick durch die Brille der gesellschaftlichen Stabilität an seine Grenzen. Nassehi behauptet zwar, dass Gesellschaften sich in ihren Routinen einrichten und diese, wie er mit Blick auf die Corona-Zeit zu belegen versucht, über die Zeit hinweg stabil bleiben. Welche Rolle spielt im Versuchsaufbau des Autors aber der soziale Wandel? Massive gesellschaftliche und technologische Umwälzungen haben in den letzten Jahrzehnten das Bild westlicher Gesellschaften verändert. Man denke etwa an die digitale Revolution, die in ganz unterschiedlichen Bereichen wie der (politischen) Kommunikation oder dem Arbeitsmarkt unsere Arbeits- und Lebensweise massiv umstrukturiert hat und auch zukünftig weiter umstrukturieren wird. Aber auch in den kulturellen Normen und Wertvorstellungen hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende Liberalisierung stattgefunden. Der Soziologe Ronald Inglehart (1977) hat im Zusammenhang mit einem umfassenden Wertewandel, in dem materialistische durch post-materialistische Vorstellungen des guten Lebens abgelöst werden, bereits in den 1970er Jahren von einer „stillen Revolution“ gesprochen. Hinzu kommt die grassierende ökonomische Ungleichheit und ihre politischen Folgen, verkörpert von Personen wie Elon Musk oder Jeff Bezos, die Polarisierung von Parteiensystemen und Meinungen oder der internationale Aufstieg des Populismus, der die etablierten Institutionen der Weltpolitik ins Wanken bringt. Alles stabil und alles Routine also? Natürlich verändern sich gesellschaftliche Institutionen und Mentalitäten nicht immer sofort und allumfassend. Es ist vielmehr die bisweilen merkwürdige Gleichzeitigkeit aus stabilen, eingefahrenen Strukturen und Routinen einerseits und sozialem Wandel und Veränderungsdruck andererseits, die so charakteristisch für unsere Gesellschaft ist. Die soziologisch spannenden Fragen sind dann, wie Gesellschaften mit Veränderungsdruck umgehen, welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln und was eigentlich ein erfolgreiches Management sozialen Wandels bedeutet.

Diesen Fragen kommt man aber mit dem Gesellschaftsbegriff von Nassehi nur schwer bei. Gesellschaft besteht bei ihm, angelehnt an die Systemtheorie von Niklas Luhmann, zuvorderst aus Kommunikation, aus System-Umwelt-Differenzen und gerade nicht aus Akteuren, die konflikthaft miteinander interagieren. Aus einer konfliktsoziologischen Perspektive würde man einwenden: Es sind Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen, seien es Klassen, Schichten oder Milieus, die die Gesellschaft prägen. Bei der Lektüre des Buches verwundet es umso mehr, dass zwar immer wieder Konflikte angesprochen, diese jedoch kaum systematisch oder gruppenspezifisch eingeordnet werden. In Kapitel 8 nutzt Nassehi beispielsweise den innovativen Begriff des Zielkonfliktes in Abgrenzung vom Verteilungskonflikt. Hier könnte Potential für neues soziologisches Instrumentarium liegen. Nassehi belässt es aber leider bei der Aussage, dass Zielkonflikte komplexer seien, weil es nicht im Kern um die Verteilung von Ressourcen ginge. Die Bewältigung des Klimawandels ebenso wie die Corona-Pandemie führt Nassehi als Beispiele dafür an. Was aber das Konstitutive für diese Zielkonflikte ist, verbleibt im Dunkeln. Eine Systematik dieser Konfliktform könnte jedoch das Vorhaben des Autors voranbringen und jene stabilen Routinen identifizieren, die die Bearbeitung derartiger Konflikte beeinträchtigen.

Positiv ist indes hervorzuheben, dass den Massenmedien als Produzenten gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ein wichtiger Stellenwert im Buch eingeräumt wird. Für Nassehi sind es mediale „Visibilisierungserfahrungen“ von Krisen (S. 38), die auf das kollektive Erleben von Konflikten wirken. Während in der Ära Merkel etwa die Dramatik des sich beschleunigenden Klimawandels in den medialen Beschreibungen verdrängt worden sei, würden diese „Störungen“ gesellschaftlichen Zusammenlebens nun hervorbrechen. Die Selbstbilder der Gesellschaft, ihr Wissen und ihre Konflikte und Themen (S. 37), die in Zeitungen, Fernsehsendungen und Online-Medien hervorgebracht werden, sollten in Zukunft stärker in den Mittelpunkt soziologischer Arbeiten gerückt werden. Dabei kommt es aber wiederum darauf an, die Akteursperspektive nicht aus den Augen zu verlieren: Welche Medien mit welchen Eigentümerstrukturen verfolgen welche Agenda (siehe z. B. Neimanns, 2023)? Wie wirken Journalist:innen an der Formierung politischer Konflikte mit (Bartholomé et al., 2015)?

Das Buch hat den Anspruch, sich an ein breites und auch nicht-wissenschaftliches Publikum zu richten. Dazu verzichtet der Autor auf einen umfassenden Literaturapparat und erwähnt einzelne Arbeiten nurmehr kursorisch. Eine intensivere Aufarbeitung des Forschungsstandes, beispielsweise wenn es um den Aufstieg der AfD geht, hätte dem Buch hingegen mehr Griffigkeit verliehen und den Autoren gezwungen, sich zu bestehenden Ansätzen der Forschungsliteratur zu verhalten. Vielmehr allerdings erschwert der komplizierte Begriffsapparat des Autors den Anspruch, sich an ein breites Publikum zu richten. Als Leser:in ist man im Laufe der Lektüre immer mal wieder auf verlorenem Posten, wenn es beispielsweise heißt: „Ich habe dieses Buch mit dem Gedanken begonnen, wie breiter werdende Visibilisierungserfahrung die Kontingenz, das Voraussetzungsvolle, die Fragilität und das Vulnerable von Problem-Lösungs-Arrangements aus der Latenzzone geholt hat“ (S. 158). Mir ist es schwergefallen, die verwendeten Begriffe intuitiv richtig einzuordnen.

Insgesamt legt Armin Nassehi mit „Kritik der großen Geste“ aber einen interessanten Debattenbeitrag vor, der die gesellschaftspolitische Diskussion durchaus an einigen Stellen befruchten kann. Aus soziologischer Perspektive bleiben jedoch größere Dunkelfelder im Umgang mit und der Beschreibung von Begriffen und Prozessen, die Armin Nassehi in Zukunft noch weiter ausleuchten sollte.

Literatur

Bartholomé, G., Lecheler, S., & de Vreese, C. (2015). Manufacturing Conflict? How Journalists Intervene in the Conflict Frame Building Process. The International Journal of Press/Politics, 20(4), 438–457. https://doi.org/10.1177/1940161215595514 10.1177/1940161215595514Search in Google Scholar

Inglehart, R. (1977). The Silent Revolution. Princeton University Press. Search in Google Scholar

Neimanns, E. (2023). Welfare states, media ownership and attitudes towards redistribution. Journal of European Public Policy, 30(2), 234–253. https://doi.org/10.1080/13501763.2021.198611710.1080/13501763.2021.1986117Search in Google Scholar

Online erschienen: 2025-10-23

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 15.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2051/html
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