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Kathrin Albrecht, Universität im Bologna-Prozess: Form und Re-Form der universitären Erziehung. Weilerswist: Velbrück 2023, 275 S., kt., 39,90 €
Die Hochschul- und Wissenschaftsforschung hat sich seit der Bologna-Erklärung aus vielfältigen Perspektiven mit (nicht-)intendierten Veränderungen der Organisation Hochschule beschäftigt, die mit dem Reformprozess einhergegangen sind. Die Dissertation von Kathrin Albrecht beleuchtet einen bisher unberücksichtigten Aspekt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung: einem zunehmenden Wandel der Universität von einer Wissenschaftsorganisation hin zu einer Erziehungsorganisation und dessen Relevanz für eine sich verändernde Gesellschaft.
Die Grundannahme der Autorin ist, dass durch den Bologna-Prozess „die gesellschaftliche Funktion der Erziehung in der Universität zunehmend organisatorisch verankert, abgesichert und ausgeweitet“ (S. 12) wird. Diese Hypothese entfaltet sie über eine Analyse von textuellem Material der philosophischen Aufklärung und der soziologischen Systemtheorie. Methodisch hat Albrecht sich hierzu der Rekonstruktion von Semantiken und Sozialstruktur gewidmet, die sie mittels des systemtheoretischen Zugangs analysiert. Entsprechend betrachtet die Autorin die hochschulpolitischen Entwicklungen seit der Etablierung der modernen wissenschaftlichen Universität detailliert und verknüpft ihre Beobachtungen mit theoretischen Überlegungen zum Erziehungssystem und der systemtheoretischen Organisationstheorie. Dieser Zugang zum Untersuchungsgegenstand Universität ist dahingehend innovativ, als dass Luhmann selbst in Universitäten kein eigenes Funktionssystem gesehen hat, sondern sie als Organisationen an der Schnittstelle zwischen dem Wissenschafts- und Erziehungssystem verortet.
Der erste Teil der Monographie widmet sich dem Erziehungsproblem der Gesellschaft. Ausgangspunkt sind zwei zentrale Texte der philosophischen Aufklärung über Erziehung: Rousseaus Émile oder Über die Erziehung aus dem Jahr 1762 und Kants Vorlesung Über Pädagogik, die 1803 herausgegeben wurde. Laut Albrecht widmen sich die Philosophen über die Texte nicht nur dem Problem der Erziehung, sondern reproduzieren es. Soziologisch behandelt sie die beiden Texte als „empirische Fälle einer beabsichtigten Erziehung der Gesellschaft“ (S. 25). Ergebnis ihrer rekonstruktiven Analyse ist, dass Erziehung sowohl durch Momente des Zwangs als auch von Freiheit geprägt ist, Zwang sich allerdings von der Absicht der Erziehung zur Freiheit unterscheiden lässt (S. 45). Daran anschließend erweitert die Autorin die philosophischen Einblicke zur Paradoxie von Zwang und Freiheit um Überlegungen der systemtheoretischen Erziehungssoziologie nach Luhmann und stellt fest, dass Erziehung hier funktional auf die Änderung von Personen bezogen ist und damit auf das Problem der Unterscheidung und Integration von Person und Gesellschaft reagiert (S. 53–54).
Der zweite Teil der Monographie „Universität“ widmet sich in Kapitel 2 zunächst der Paradoxie des Wissens als Kern der Universität. Im Fokus der Analyse steht diesmal Platons Dialog Menon, in dem die Einheit von Wissen und Nicht-Wissen erörtert wird (S. 57–62). An dieser Stelle der Monographie expliziert die Autorin ausgehend von der textuellen Analyse die zentrale Hypothese des Buchs: Die universitäre Erziehung entfaltet „sich über die Entscheidung der Variablen Person, Wissen, Nichtwissen, Zwang, Freiheit und Gesellschaft in der Gesellschaft [und reproduziert sich] als soziale Form [...]“ (S. 63). Zudem wird an dieser Stelle die leitende Forschungsfrage hervorgebracht, die sowohl nach der Organisation der universitären Erziehung und ihrer Reform, als auch nach etwaigen Implikationen des organisatorischen Wandels der Universität für die Form der universitären Erziehung fragt (S. 65). Kapitel 3 erörtert die Bildungssemantik der modernen Universität über Humboldts Theorie der Bildung des Menschen. Während die ersten Kapitel sich durch eine eingehende Analyse der benannten Texte auszeichnen, bleibt eine Begründung zur Auswahl der analysierten Texte leider aus.
In Kapitel 4 folgt ein detaillierter historischer Blick auf die Entwicklung der modernen wissenschaftlichen Universität, die im dritten Teil des Buchs als Vergleichsfolie der universitären Entwicklungen durch den Bologna-Prozess dient. Dabei widmet sich Albrecht der Organisation Universität und führt die systemtheoretische Organisationssoziologie ein (S. 81–84). An dieser Stelle wird der Begriff der Organisation für die (moderne) Universität nicht weiter diskutiert. Vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Forschungsfrage und der angelegten soziologischen Perspektive, wäre das sicherlich im Rückgriff auf die Überlegungen Luhmanns (1992) eine interessante Ergänzung. Die Autorin legt den Fokus des Kapitels vielmehr auf die Ausdifferenzierung der modernen Universität entlang der wissenschaftlichen Disziplinen und setzt dabei die folgenden Schwerpunkte: die Aufhebung der Rangordnung der Fakultäten, die disziplinäre Differenzierung der Lehrstühle, den Wandel der Mitgliedsrolle des Professors und die Entstehung des disziplinären Fachstudiums. In Kapitel 5 wird die Frage erörtert, wie die moderne Universität Zwang und Freiheit der Erziehung entfaltet, und kommt dabei zum Schluss, dass die Freiheit und Selbstständigkeit des Menschen in der Bildung seiner selbst als gegeben angenommen wird und „[d]er zwanglose Zwang der wissenschaftlichen Disziplinen [...] in der modernen wissenschaftlichen Universität [...] auch als Erziehungszwang fungiert [hat], ohne aber [...] (äußerer) Erziehungszwang zu sein“ (S. 130). Die Entwicklungen der Universität im 20. Jahrhundert werden am Ende des zweiten Teils nur sehr knapp thematisiert. Die sich wandelnden Bedingungen könnten allerdings wichtige erklärende Perspektiven auf den Status quo der Organisation Universität vor der Bologna-Erklärung liefern.
Im dritten Teil des Buchs kommt Albrecht zum Kern ihrer Arbeit. Hierzu gibt die Autorin zunächst einen Einblick in den Entstehungszusammenhang und die Ziele der europäischen Reformbestrebungen um die Bologna-Deklaration (Kapitel 6). In Bezug auf die universitäre Erziehung stellt sie fest, dass die Reform der universitären Erziehung zwar kein zentrales Ziel war, allerdings durch die Maßnahmen des Reformprozesses angestoßen wurde. Eine wesentliche Veränderung durch die Reformbestrebungen sieht die Autorin in der politischen Förderung von Humankapital als Bildungsinvestition, dass sich wesentlich vom zuvor philosophisch hergeleiteten Bildungsbegriff abhebt (S. 146). Die Autorin widmet sich dann der Governance der Universitäten und stellt beiläufig eine Frage, die Hochschulforschende und Organisationssoziolog:innen seit vielen Jahren umtreibt, nämlich warum sich die Bologna-Reform mit ihren Maßnahmen trotz bestehender Unsicherheiten bezüglich des Zusammenhangs von Reformzielen und Reformmitteln durchzusetzen scheint / durchgesetzt hat (S. 153). Spätestens an dieser Stelle des Buchs wäre zu erwarten, dass nun eine Einordung in den aktuellen Stand der Forschung erfolgt. Dies lässt die Autorin allerdings vermissen.
In Kapitel 7 wird ein durch den Bologna-Prozess initiierter Wechsel der Bildungssemantik der modernen Universität hin zu einer Kompetenzsemantik beschrieben: „Der Erfolg der universitären Erziehung soll nunmehr nicht (mehr) allein dem Medium der Wissenschaft und der Struktur der Disziplinarität [...] überlassen werden, sondern durch die Formulierung expliziter Erziehungsziele – in Gestalt von Kompetenzzielen – gleichsam organisatorisch gesteuert wie auch an Leistungserwartungen der Umwelt gekoppelt werden" (S. 161). Die Argumentation der Autorin ist, dass durch den Bologna-Prozess vor allem die Veränderung von Personen in den Fokus gerät, aus dem zwanglosen Zwang wird ein gesellschaftlicher Druck zur Erwerbsarbeit der Studierenden, nämlich über die Erziehung zur beruflichen Handlungsfähigkeit (S. 179–180). In Kapitel 8 beschäftigt sich die Autorin mit einzelnen Maßnahmen der Bologna-Reform, die – so die Argumentation – über Inhalte des Studiums und der Lehre (Sachdimension), Adressat:innen (Sozialdimension) und die zeitliche Organisation der Erziehung entscheiden (Zeitdimension) und somit den angenommenen Wandel zur Erziehungsorganisation evozieren. Die hierfür aus ihrer Sicht zentralen Maßnahmen sind: erstens die Etablierung von Curricula als Entscheidungsprogramm der Universität, zweitens die Einführung der Bachelor- und Masterstruktur, drittens die Etablierung der Modularisierung der Studiengänge und die Einführung studienbegleitender Prüfungen, viertens die Anwesenheitspflicht und fünftens die Einführung von ECTS und die damit einhergehende Thematisierung von Workload.
Im Fokus des neunten Kapitels steht die Frage inwiefern eine zunehmende Inanspruchnahme des Mediums der Bewertung die Sichtbarkeit der Studierenden verändert und dabei motivational fungiert. Dabei unterstellt die Autorin, dass die diskutierten Maßnahmen zu einer dauerhaften Bewertung der Studierenden führen. Offen bliebe jedoch ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen guten Bewertungen und Erfolg der universitären Erziehung (S. 231). In Kapitel 10 wird die ‚Erziehung der Gesellschaft‘ besprochen, dabei wird festgehalten, dass die Universitäten mit den individuellen Entscheidungsstrukturen „[...] auf den gesellschaftlichen Wandel sowie auf Leistungserwartungen und strukturelle Kopplungen mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt“ (S. 236) reagieren. So greifen Universitäten in ihren Studienangeboten sowohl fachdisziplinäre Bedarfe als auch interdisziplinäre Verknüpfungen auf und widmen sich gesellschaftlichen Herausforderungen und Erwartungen (S. 238–239). Kapitel 11 resümiert die drei Teile der Monographie und zeichnet abschließend die Beobachtung nach, dass der Bologna-Prozess „die Form der universitären Erziehung als Karriere re-formatiert und in der Gesellschaft entfaltet wird“ (S. 243).
Die Monographie widmet sich einer für die Hochschulforschung gewinnbringenden Verknüpfung von Soziologie und Philosophie. Die detaillierte Analyse der herangezogenen Texte ist ebenso wie die historische Aufarbeitung der Entwicklung der Organisation Universität für die Auseinandersetzung mit dem Wandel der Universität durch die Bologna-Reform höchst anregend. Die sorgfältige Entfaltung der zentralen Überlegungen hätte durch die Hinzunahme von empirischen Erkenntnissen sowie einen Ausblick auf die Entwicklung anderer Hochschulformen in Deutschland bereichert werden können. Die Erkenntnisse der Arbeit sind ein sehr guter Ausgangspunkt für eine reichhaltige Forschungsagenda, die Chance der Formulierung einer solchen bleibt im vorliegenden Buch bedauerlicherweise ungenutzt.
Literatur
Luhmann, N. (1992). Die Universität als organisierte Institution. In A. Kieserling (Hrsg.), Universität als Milieu (S. 90–99). Haux.Suche in Google Scholar
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