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(Neue) Praktiken des Rechtsextremismus?

Madlen Böert, Der NSU: Eine gruppensoziologische Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2023, 164 S., eBook, 59,99 € Katharina Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe. Wiesbaden: Springer VS 2020, 417 S., eBook, 39,99 € Stefan Garsztecki / Thomas Laux / Marian Nebelin (Hrsg.), Brennpunkte der „neuen“ Rechten: Globale Entwicklungen und die Lage in Sachsen. Bielefeld: transcript 2024, 342 S., kt., 42,00 € Katharina Leimbach, Doing Radikalisierung: Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 345 S., kt., 58,00 € Daniel Mullis / Judith Miggelbrink (Hrsg.), Lokal extrem Rechts: Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Bielefeld: transcript 2022, 284 S., kt., 29,00 €
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Veröffentlicht/Copyright: 20. Oktober 2025
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Soziologische Revue
Aus der Zeitschrift Soziologische Revue

Rezensierte Publikationen:

Madlen Böert, Der NSU: Eine gruppensoziologische Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2023, 164 S., eBook, 59,99 €

Katharina Fahrig, Rec hte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe. Wiesbaden: Springer VS 2020, 417 S., eBook, 39,99 €

Stefan Garsztecki / Thomas Laux / Marian Nebelin (Hrsg.), Brennpunkte der „neuen“ Rechten: Globale Entwicklungen und die Lage in Sachsen. Bielefeld: transcript 2024, 342 S., kt., 42,00 €

Katharina Leimbach, Doing Radikalisierung: Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 345 S., kt., 58,00 €

Daniel Mullis / Judith Miggelbrink (Hrsg.), Lokal extrem Rechts: Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen. Bielefeld: transcript 2022, 284 S., kt., 29,00 €


Schlüsselwörter: Rechtsextremismus; Forschung

Das Angebot der Soziologischen Revue, neuere Bücher zum Themenbereich „Rechtsextremismus“ zu besprechen, wollte ich zunächst ablehnen, schließlich arbeite ich seit zehn bis 15 Jahren nicht mehr zu Fragen des Rechtsextremismus. Doch dann erschien mir solch eine Rezension als interessante und möglicherweise gewinnbringende Aufgabe: mit zeitlichem Abstand auf neue Arbeiten in einem mir ehemals vertrauten Feld zu blicken. Und könnte es nicht vielleicht auch für andere interessant sein, Eindrücke aus dem Blickwinkel des ehemals mit diesem Feld Vertrauten zu lesen? Ich entschloss mich daher, diese Herausforderung anzunehmen.

Die ersten Eindrücke bei der Lektüre der fünf zu besprechenden Bücher waren durchaus divers. Teilweise kam bei mir das Gefühl auf, die Zeit sei stehengeblieben, dann etwa, wenn ausführlich der Forschungsstand der 1990er- bzw. der frühen 2000er-Jahre referiert, aber kaum auf neuere Arbeiten Bezug genommen wurde (Fahrig). Auch die Bezugnahme auf eine „neue“ Rechte (Garsztecki et al.) irritierte mich, schließlich waren Fragen einer „Neuen Rechten“ bereits in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausführlich diskutiert worden (z. B. Gessenharter, 1994). An anderer Stelle entstand der Eindruck, dass verschiedene Aspekte des Rechtsextremismus inzwischen aus ungewohnter Perspektive (Böert), deutlich fokussierter als bisher (Mullis & Miggelbrink) oder unter Zuhilfenahme neuer theoretischer Bezüge (Leimbach) untersucht werden. Dieser erfrischende Eindruck wurde teilweise allerdings dadurch irritiert, dass kaum Bezüge zur Rechtsextremismusforschung hergestellt wurden (Böert) oder nach wie vor eine Orientierung an Arbeiten leitend zu sein schien, die bereits vor mehr als 20 Jahren entwickelt worden waren (Mullis & Miggelbrink). Diese Eindrücke trugen dazu bei, dass ich mich den zu besprechenden Büchern mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis näherte.

Im Bereich der gewohnten thematischen Bezüge zum Thema Rechtsextremismus bewegt sich die Arbeit von Katharina Fahrig zu den Familien rechtsextremer Jugendlicher. Rekonstruiert werden die Biografien junger Männer, die sich rechtsextremen Gruppierungen angeschlossen haben. Sie knüpft damit an zahlreiche Arbeiten aus den 1990er- sowie den frühen 2000er-Jahren an, in denen lebensgeschichtliche Verläufe und Belastungen zumeist auf der Grundlage der Akten von Strafverfolgungsbehörden und Interviews bzw. Gruppendiskussionen mit Jugendlichen untersucht wurden (Hopf et al., 1995; Wahl, 2003). Das innovative Potenzial der Studie von Fahrig liegt in der Einbeziehung der Sichtweise von Müttern junger Männer, die der rechtsextremen Szene angehör(t)en. Grundlage der Untersuchung sind hier biografische Interviews mit sechs jungen Männern im Alter zwischen 18 und 23 Jahren, die jahrelang der rechtsextremen Szene angehörten, wobei sich in drei Fällen auch die Mütter dieser jungen Männer zu Interviews bereiterklärten. Erhoben wurde das Datenmaterial zwischen 2003 und 2006 in Ostdeutschland. Diese Untersuchungsanlage erlaubt detaillierte Einblicke in familiale Bedingungsgefüge, die häufig als wichtige Erklärung für rechtsextreme Orientierung und Verhaltensweisen sowie die Zugehörigkeit zu entsprechenden Gruppierungen verstanden werden.

Die biografischen Interviews mit drei der jungen Männer, deren Mütter ebenfalls interviewt wurden, und die problemzentrierten Interviews mit den Müttern wurden narrationsanalytisch jeweils für sich ausgewertet und anschließend fallweise aufeinander bezogen. Auf diese Weise konnten wichtige Bedingungen, Verläufe und Beziehungskonstellationen rekonstruiert werden, die die Zugehörigkeit (männlicher) Jugendlicher zur rechtsextremen Szene verständlich machen. So zeigte sich, dass „die familiale Situation eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von subjektiv empfundenen Problemlagen und krisenhafter Zuspitzungen spielte, die bei den Jugendlichen die Bereitschaft zu einem Anschluss an eine starke, Anerkennung und Zusammenhalt versprechende Jugendclique begründete“ (S. 338). Interessant erscheinen zudem fallspezifische Differenzen, die die Autorin zu zwei Typen zusammenfasst: einerseits ein strategisch machtorientierter Typ, bei dem sich Interesse an politischen Zusammenhängen und Ideologisierung zeigt und bei dem es im Zuge der Szenezugehörigkeit zu Wandlungen und auch zu verstärktem Engagement im schulischen und beruflichen Bereich kommt; andererseits ein emotional subkultureller Typ, der eine massive Radikalisierung auf emotionaler Ebene des blinden Hasses zeigt und bei dem eine Abwärtsspirale aus kumulierendem delinquentem Verhalten sowie ein Strudel aus Alkohol, Aggression und Gewalt festgestellt werden kann (S. 341–342).

In dieser kleinen Auswahl untersuchter Familien zeigten sich bei Eltern oder Großeltern kaum Affinitäten gegenüber rechtsextremen Orientierungen, sondern eher unterschiedlich ausgeprägte Ablehnung (S. 370). Die Beziehungen der jungen Männer zu ihren Müttern werden durch die Beteiligten durchweg positiv dargestellt, während Beziehungen zu den (Stief-)Vätern fehlen bzw. als defizitär erlebt werden. In den Auseinandersetzungen um die rechtsextremen Bestrebungen der Söhne seien keine Elternallianzen deutlich geworden, d. h. die (Stief-)Väter haben hier keine Rolle gespielt und die Mütter fühlten sich angesichts dieser Herausforderung nicht nur stark belastet und hilflos, sondern auch alleine gelassen (S. 357–360). Dementsprechend bezeichnet Fahrig die Familienbeziehungen als „dysfunktional“ (S. 365). Vor dem Hintergrund der, auch in der wissenschaftlichen Fachdiskussion, häufig anzutreffenden Vereinfachungen erscheint es mir wichtig, dass die vorliegende Untersuchung zeigt, dass sich entsprechende Risiken und Dynamiken nicht nur in auffälligen Familien mit multiplen Problembelastungen zeigen, sondern auch in durchschnittlichen Familien mit grundsätzlich kompetenten Eltern (S. 377).

Indem in der vorliegenden Untersuchung Fallanalysen mit Bezug auf jeweils zwei subjektive Perspektiven rekonstruiert wurden, können die Angaben von Söhnen und Müttern zueinander in Bezug gesetzt werden. Obwohl sich gemäß der Autorin in Hinblick auf die Biografien der jungen Männer zumeist übereinstimmende Angaben finden, können die Informationen sich so wechselseitig ergänzen und kommentieren, was auch Hinweise auf die Relevanzsetzungen der einzelnen Beteiligten und auf die innerfamilialen Dynamiken zulässt. Darin ist eine substanzielle Ergänzung zu bisherigen Arbeiten zu diesem Thema zu sehen. Während es der vorliegenden Arbeit über weite Strecken gelingt, das Potenzial einer gründlichen Sequenzanalyse überzeugend zu verdeutlichen, gibt es doch immer wieder auch eher fragwürdige, vom empirischen Material nur unzureichend gedeckte Interpretationen und Bewertungen, die in Richtung pathologisierender Diagnosen gehen und hätten vermieden werden können – so ist in Hinblick auf einen der jungen Männer von „zwanghafter Affinität zu einer Normalbiografie“ (S. 322) die Rede.

Verwirrend wirkt zum Teil die Präsentation der Informationen des Forschungsstands, vor allem deswegen, da diese zeitlich oft nicht verortet werden; es stehen dann Informationen, die sich auf die 1990er-Jahre beziehen, neben solchen, die zwischenzeitlich stark veränderte rechtsextreme Kontexte im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beschreiben, wobei diese Entwicklungen nicht immer benannt werden. Dies könnte mit der langen Bearbeitungszeit dieser Publikation zusammenhängen: Das Datenmaterial wurde zwischen 2003 und 2006 erhoben, während die Publikation erst 2020 erfolgte. Es wäre daher auch wichtig gewesen, die dargestellten Erkenntnisse zeitlich einzuordnen. Während die eigentlichen Fallanalysen die Ergebnisse der Interviews und Netzwerkkarten sehr gewinnbringend und überzeugend präsentieren, wirken einzelne Abschnitte der Arbeit eher befremdlich: Angesichts der „Zukunftsprognose“ zum Abschluss jeder Falldarstellung stellt sich die Frage nach der empirischen Fundierung; und dem Abschlusskapitel, in dem ein „Pädagogischer Bezug auf jugendlichen Rechtsextremismus“ skizziert wird, fehlt ein Bezug zu den zuvor dargestellten Analysen. Daran ändert auch der von der Autorin geäußerte Optimismus in Hinblick auf wirksame Pädagogik nichts: Es sei wichtig, die „Bedürfnisse der Jugendlichen zu erkennen, um eine Wirksamkeit pädagogischer Interventionen zu erreichen“ (S. 94). Die Autorin hätte m. E. gut daran getan, sich auf die Stärken ihrer Arbeit zu besinnen und sich ohne tragfähige Grundlage nicht auf allzu unsicheres Terrain zu begeben.

Mit dem Fokus auf sozialräumliche Aspekte des Rechtsextremismus nimmt der von Daniel Mullis und Judith Miggelbrink herausgegebene Sammelband ein anderes Feld in den Blick, zu dem ebenfalls seit vielen Jahren gearbeitet wird (Heitmeyer, 2002; Lynen von Berg et al., 2007). Fokussiert wird dabei zumeist auf lokale Kontexte, in denen Menschen ein politisches Milieu konkret und alltagsnah erleben, Konformitätsdruck und rechtsextremen Raumnahmen ausgesetzt sind und sich dazu positionieren (Mullis & Miggelbrink in Mullis & Miggelbrink, S. 9). Gemäß der Herausgebenden erlauben humangeografisch orientierte Analysen, das Lokale nicht nur als Ort der Austragung von Konflikten, sondern auch als Ort der Produktion von Gesellschaft zu verstehen (Miggelbrink & Mullis in Mullis & Miggelbrink, S. 21). In den meisten Beiträgen des Bandes stehen ländliche, strukturschwache Räume in Ostdeutschland im Mittelpunkt, in denen rechtsextreme Akteur:innen Dominanz entfalten (Deppisch in Mullis & Miggelbrink; Zschocke in Mullis & Miggelbrink). Aber es gibt auch Analysen zu rechtsextremen Raumaneignungsprozessen durch rechtsextreme Akteur:innen im kleinstädtischen Rahmen (Salheiser & Quent in Mullis & Miggelbrink) oder zu rechten Deutungsmustern in großstädtischen Quartieren (Bescherer in Mullis & Miggelbrink). In anderen Texten geht es um Vorfälle in großstädtischen Quartieren, in denen rechtsextremen Demonstrationen durch Aktivist:innen der Antifa oder migrantische Akteur:innen wirkungsvoll entgegengetreten wird (Altmeyer in Mullis & Miggelbrink; Zimmer in Mullis & Miggelbrink). Ergänzt werden diese Arbeiten durch einen Text, der mit Bezug auf Skopje und Dresden eine international vergleichende Perspektive einnimmt (Kübler et al. in Mullis & Miggelbrink) und durch die Vorstellung eines methodischen Verfahrens, um sozialräumliche Verhältnisse multiperspektivisch fundiert zu untersuchen (Helal in Mullis & Miggelbrink).

In verschiedenen Beiträgen wird an einer sozialräumlichen Sichtweise auf rechtsextreme Aktivitäten angeknüpft, die durch die Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer in den späten 1990er-Jahren entwickelt wurde und hier ebenfalls präsentiert wird (Freiheit et al. in Mullis & Miggelbrink). Im Kern wird hier von einer Stufenfolge ausgegangen, die zwischen Provokations-, Räumungs-, Raum- und Normalisierungsgewinnen unterscheidet (Freiheit et al. in Mullis & Miggelbrink, S. 69–72). Diese Phänomene werden in verschiedenen Beiträgen bestätigt, aber auch durch die Einbeziehung neuerer Phänomene, vor allem die Wahlerfolge der AfD, aktualisiert. Aber auch „alte“ Phänomene, wie die Aktivitäten der NPD (inzwischen „Die Heimat“), werden in ihrer lokalpolitischen Aktualität, aber auch in ihren Bezügen zu bundesweit relevanten Akteur:innen des rechtsextremen Spektrums und als Unterstützungsnetzwerk des NSU untersucht (Salheiser & Quent in Mullis & Miggelbrink). Auf diese Weise werden die lokale Basis des Rechtsextremismus und lokale Aktivitäten der Rechtsextremen vielfältig beleuchtet, wobei bekannte Befunde bestätigt werden können: So werden Ostdeutschland, ländliche Räume und strukturschwache Regionen immer wieder als Schwerpunkte rechtsextremer Raumaneignung ausgemacht. Am überzeugendsten geschieht dies, wenn Transparenz über das Zustandekommen empirischer Befunde hergestellt wird und wenn diesbezüglich verschiedene Datenquellen herangezogen werden – neben offiziellen Wahl- und Kriminalitätsstatistiken z. B. auch Recherchen zivilgesellschaftlicher Akteur:innen zu den Immobilien rechtsextremer Aktivist:innen (Helal in Mullis & Miggelbrink). Mitunter ist aber auch lediglich recht pauschal von „rechten Räumen“ die Rede, ohne dass klar würde, was damit genau gemeint ist und wie diese Diagnose zustande kam (Kübler et al. in Mullis & Miggelbrink). Instruktiv und anregend für weitere Analysen erscheint auch die Differenzierung zwischen verschiedenen politischen Stilen bzw. Konstellationen – konkordanzdemokratische vs. konkurrenzdemokratische Arrangements –, die sich in einzelnen Regionen unterschiedlich ausgeprägt haben (Domann & Nuissl in Mullis & Miggelbrink).

Auch die bereits aus den 1990er- und frühen 2000er-Jahren bekannten Fragen nach dem richtigen pädagogischen Umgang mit Rechtsextremismus bei Jugendlichen werden wieder aufgegriffen. Mit Bezug auf die Kontroversen um die akzeptierende Jugendarbeit und ihre Weiterentwicklungen zur gerechtigkeitsorientierten Jugendarbeit bzw. zur Integrationspädagogik (Rieker, 2009, S. 99–101) werden dabei bekannte Positionen vertreten. So wird die akzeptierende Jugendarbeit einerseits für „Blindheit gegenüber rechtsextremen Gewalttaten“ und dafür verantwortlich gemacht, dass Jugendliche unter Konformitätsdruck gerieten (Zschocke in Mullis & Miggelbrink, S. 154). Andererseits wird dafür plädiert, auch dann, wenn die pädagogische Arbeit an den Interessen der Jugendlichen ansetzt, die Bedürfnisse und Perspektiven der Marginalisierten nicht zu vergessen (Dietrich & Schuhmacher in Mullis & Miggelbrink, S. 197–198).

Zusammengenommen gelingt es den Beiträgen des vorliegenden Bandes, das Potenzial und vielfältige Erkenntnismöglichkeiten eines sozialräumlichen Analyseansatzes zu verdeutlichen. Obwohl vielfach neuere Phänomene in den Blick geraten, werden aber nicht in allen Fällen wirklich neue Erkenntnisse präsentiert, sondern der Mehrwert besteht dann eher in der Konsolidierung dieser Betrachtungsweise. Neu und weiterführend scheinen mir vor allem die vertieften Einblicke in Vernetzungen innerhalb der rechtsextremen Szene und in die Dynamiken zwischen verschiedenen Akteur:innen (Politik, Zivilgesellschaft, Polizei, Antifa sowie rechtsextremen Parteien, Aktivist:innen und Terrorist:innen), die auch mit neu entwickelten Analyseansätzen sichtbar gemacht werden. Zudem gelingt es verschiedentlich, längerfristige Entwicklungen und Konsequenzen politischer Entscheidungen zu verdeutlichen, wodurch z. B. Dominanzbestrebungen rechtsextremer Jugendkulturen der 1990er-Jahre mit gegenwärtigen AfD-Wahlerfolgen in Verbindung gebracht werden können. Dabei wird auch deutlich, dass es letztlich soziale Dynamiken bzw. Konstellationen sind, die rechtsextreme Dominanz in bestimmten Sozialräumen bestimmen. Zentral erscheint dabei nach wie vor die Konfliktfähigkeit von kommunalen Gemeinschaften, d. h. wo Konflikte offen ausgetragen werden, können rechte Bedrohungsallianzen nur schwer Fuß fassen (Freiheit et al. in Mullis & Miggelbrink, S. 77).

Der von Stefan Garsztecki, Thomas Laux und Mariam Nebelin herausgegebene Band weist eine doppelte Fokussierung auf und ist dementsprechend in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil des Buches werden auf Sachsen bezogene Studien zu rechtsextremen Parteien und Bewegungen präsentiert und als Teile einer „neuen“ Rechten eingeordnet. Im zweiten Abschnitt wird ein breites Spektrum unterschiedlicher, auch internationaler Ausprägungen des Rechtsextremismus vorgestellt und wiederum als Ausdruck einer „neuen“ Rechten gefasst. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Herausgebenden sich nicht zwischen einer Konzentration auf Sachsen – wo Rechtsextremismus sich besonders ausgeprägt zeigt und wo die dem Band zugrundliegende Ringvorlesung stattgefunden hat – oder Fragen einer „neuen“ Rechten entscheiden mochten. Zudem kommen in dem Band unterschiedliche Verständnisse einer „neuen“ Rechten zum Ausdruck, was etwas verwirrend wirkt. Diese Verwirrung kann auch durch die Herausgebenden im Rahmen ihres einleitenden Beitrags nicht vermieden werden, etwa durch die Abgrenzung der „neuen“ Rechten von dem seit vielen Jahrzehnten eingeführten Begriff „Neue Rechte“ (Garsztecki et al. in Garsztecki et al., S. 13).

Mit Blick auf die aktuelle Situation in Sachsen werden unterschiedliche Teile der rechtsextremen Szene untersucht. So findet sich hier eine interessante und anregende Vergleichsstudie in Hinblick auf AfD-Wahlerfolge in Sachsen und Bayern, wo offenbar unterschiedliche Milieus angesprochen und unterschiedliche Mobilisierungswege gegangen werden (Polenz in Garsztecki et al.). Im Beitrag von Sarah Tell kann bestätigt werden, dass AfD-Abgeordnete je nach Kontext unterschiedliche Schwerpunkte setzen – in Hinblick auf Corona-Protest-Positionen (allerdings nur ermittelt durch Telegram-Posts) kann gezeigt werden, dass diese durch die AfD in das Parlament eingebracht werden, was allerdings nicht für verschwörungstheoretische Positionen deutlich wird, denen AfD-Abgeordnete jedoch auf ihren Telegram-Kanälen zustimmen (Tell in Garsztecki et al., S. 88). Ebenfalls Telegram-Posts werden im Rahmen einer Fallstudie zur Mobilisierung der „Freien Sachsen“ zu Corona-Protesten durch Susanne Rippl ausgewertet. Dabei wird auf die Erzeugung eines Gefühls, Teil einer Massenbewegung zu sein, geschlossen und es kann gezeigt werden, dass diese rechtsextreme Kleinpartei durch ihre Slogans versucht, Corona-Proteste in die Tradition der Friedlichen Revolution zu stellen (Rippl in Garsztecki et al., S. 111). Manuela Beyer nimmt die Anastasia-Bewegung in den Blick, die sie als Brücke zwischen Rechtsextremismus und esoterisch-ökologischer Alternativbewegung versteht. Spannend wäre es, empirische Belege für diese Brückenfunktion zu sammeln. Instruktiv ist auch der Überblick über die verschiedenen Organisationen und Bewegungen des rechtsextremen Spektrums, deren Vernetzung am Beispiel von Chemnitz durch Johannes Grunert und Johannes Kiess erörtert wird. Dabei zeigt sich eine flexible rechtsextreme Szene, die immer wieder neue, miteinander vernetzte Organisationsformen und Aktivitäten hervorbringt und sich durch eine ausgeprägte Bewegungsorientierung auszeichnet.

Im zweiten Teil des Bandes finden sich Arbeiten zu ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen, Bewegungen und Protagonisten, die hier unter dem Label „neue“ Rechte gefasst werden. Dabei wird ein sehr heterogenes Spektrum thematischer Aspekte angesprochen. So geht es bei Christoph Wolf um latente Formen des Antisemitismus. Marcus Nolden beschreibt Besonderheiten der Vernetzung über algorithmusgesteuerte soziale Medien, die dazu beitragen, auch rechtsextreme Inhalte einem breiten Publikum zugänglich zu machen und zu normalisieren. Im Gegensatz zu Offline-Koalitionsbildungen, die eine Auseinandersetzung über gemeinsame Ziele voraussetzten, „öffnen Algorithmen thematisch orientierte Kanäle zwischen den Akteuren, welche die Differenzen in den Hintergrund und gemeinsame thematische Interessen in den Vordergrund treten lassen“ (Nolden in Garsztecki et al., S. 215). Im Beitrag von Frank Görne et al. werden informative Einblicke in die Entwicklungen und Schwerpunktsetzung dreier Bewegungen der Neuen Rechten präsentiert, wobei sich auf die französische Nouvelle Droite, die mit Alain de Benoiste assoziiert ist, die aus Frankreich stammende und in Deutschland aktive Identitäre Bewegung sowie die US-amerikanische Alt-Right-Bewegung bezogen wird. Das Verdienst dieses Beitrages liegt darin, sowohl die historischen Ursprünge der neu-rechten Bestrebungen als auch deren aktuelle Ausprägungen in unterschiedlichen nationalen Kontexten vergleichend in den Blick zu nehmen. Abgeschlossen wird der Band mit zwei Beiträgen (Garsztecki in Garsztecki et al.; Novotný in Garsztecki et al.), die rechtsextreme Parteien (Polen) bzw. Parteien und Bewegungen (Tschechien) in ihrer Entwicklung charakterisieren, was die internationale Bandbreite des Rechtsextremismus verdeutlicht. Aber auch hier trägt die Charakterisierung als Teile einer „neuen“ Rechten m. E. weniger zur Klärung, sondern eher zur Verwirrung bei.

Zusammengenommen verdeutlicht dieser Band die enorme Breite aktueller Arbeiten zum Rechtsextremismus, die vor allem dann produktiv erscheinen, wenn sie empirisch fundiert gründliche Analysen zu regionalen und lokalen Verhältnissen vorlegen und auf diese Weise zu differenzierenden Befunden kommen. Ertragreich sind in meinen Augen zudem die Arbeiten, die aus einer Netzwerkperspektive oder durch vergleichende Analysen Bezüge zwischen einzelnen Phänomenen, Besonderheiten spezifischer Kontexte oder historischen Entwicklungen aufzeigen, wie z. B. durch die Kontrastierungen nationaler Ausprägungen des Rechtsextremismus. Interessante Einblicke geben auch die Forschungen, die sich auf soziale Netzwerke beziehen, wobei die mit dieser Datengrundlage verbundenen Fragen und Grenzen systematischer in den Blick genommen werden müssten, als dies in den Beiträgen dieses Bandes geschieht. Wenig hilfreich und letztlich nicht überzeugend erscheint es demgegenüber, wenn diese unterschiedlichen, reichhaltigen und sehr spezifischen Studien unter der fragwürdigen Terminologie „neue“ Rechte gefasst werden. Indem man verschiedene Phänomene unter einem fragwürdigen Begriff subsumiert, so mein Eindruck, wird das Potenzial einer vielfältigen und vergleichenden Forschung in seiner Sichtbarkeit eingeschränkt.

Katharina Leimbach bezieht sich in ihrer Dissertation auf das Datenmaterial des Forschungsprojekts RadigZ, das als Begleitforschung zu Modellprojekten der Extremismusprävention fungierte. Konkret bezieht sich die Arbeit dabei vor allem auf Interviews mit Fachkräften und Adressat:innen von Angeboten, die den Ausstieg bzw. die Deradikalisierung aus rechtsextremen und islamistischen Strukturen fördern sollen. Dabei wird eine wissenssoziologische Perspektive eingenommen, um die Konstitution dessen, was im Kontext von Präventionsangeboten als Rechtsextremismus verstanden wird, nicht täterorientiert, sondern interaktionistisch und situativ zu rekonstruieren. Durch die Kontrastierung mit dem, was im Kontext von Prävention als Islamismus verstanden wird, können die Spezifika des als Rechtsextremismus konstruierten deutlicher erkannt werden. Zudem werden im Rahmen eines selbstreflexiven Forschungsverständnisses auch die Beiträge der Forschung zu diesen Konstitutionsprozessen einbezogen.

Analysiert werden zunächst die Perspektiven von Fachkräften der Extremismusprävention auf ihr Arbeitsfeld. Dem Rechtsextremismus werde in der Ausstiegsarbeit vor allem dadurch begegnet, dass den als biografisch und sozial verstandenen Problemlagen im Rahmen biografischer und sozialpädagogischer Arbeit begegnet werde, um den Klient:innen durch die Entwicklung neuer Perspektiven zu helfen, sich einer Normalbiografie anzunähern. Politische und ideologische Inhalte würden dabei weniger thematisiert, da die Einstellungsebene als schwer bearbeitbar gelte (S. 165). In der Islamismusprävention werde dagegen nicht von Ausstieg, sondern von Deradikalisierung gesprochen, wobei islamistische Radikalisierung als diffuses, religiöses Phänomen verstanden werde (S. 171). Der Beitrag beschränkt sich in seiner Anlage darauf, durch die Analyse der Präsentation von Präventionsakteur:innen und Adressat:innen „die“ Konstruktion des Rechtsextremismus „der“ Konstruktion des Islamismus gegenüberzustellen. Auf diese Weise bleiben die erheblichen Differenzen in diesen Feldern unberücksichtigt und schränken die Aussagekraft der Analyse ein. Möglicherweise hängt diese Beschränkung mit der Untersuchungsgruppe zusammen, die sich auf die Akteur:innen eines Präventionsprogramms bezieht, aber auch diese Begrenzung hätte reflektiert gehört.

Die Interviews mit den Adressat:innen werden von Leimbach unter subjektivierungstheoretischer Perspektive analysiert, wobei sich Anzeichen dafür finden, dass „Adressat:innen an der Produktion von Wissen um Radikalisierung beteiligt sind“ (S. 239) und durch die Subjektivierung von Diskursen die Konstruktion von sozialen Problemen aktiv mitgestalteten. Die Annahme des Labels als radikalisierte Person führt Leimbach zufolge zu einem „Masterstatus“ (S. 213), der dem oder der Einzelnen Bedeutung verleiht und Zugang zu Hilfsleistungen und einer intensiven Betreuung biete. Für die Beziehungen zwischen Ausstiegsbegleitenden und Klient:innen werden wechselseitige Abhängigkeiten konstatiert. Leider werden auch die Besonderheiten und Einschränkungen der Datengrundlage auf der Ebene der Adressat:innen bei der Analyse nur teilweise berücksichtigt – was bei der Befragung von überwiegend männlichen, als rechtsextrem gelabelten Personen wichtig gewesen wäre (nur eine als islamistisch gelabelte Person und eine Frau konnten erreicht werden). Durch die anschauliche Schilderung der Schwierigkeiten beim Zugang zu den Adressat:innen werden die Besonderheiten dieses Arbeitsfeldes der Extremismusprävention plausibel herausgearbeitet.

Auf einer dritten Ebene werden institutionelle Eigenheiten der Radikalisierungsprävention analysiert. Dabei wird die hohe Bedeutung der finanziellen Förderung der Radikalisierungsprävention durch Bundesmodellprogramme betont, die bei den Fachpersonen zu Wahrnehmungen von „Überfinanzierung“ und zu der Sorge um den seriösen Einsatz von Fördermitteln führten (S. 241–242). In diesen Programmen seien Sicherheitsbehörden und Wissenschaftler:innen, die über Evaluationen die Wirksamkeit der Evaluation ermitteln und sicherstellen sollen, als relevante Akteur:innen substanziell eingebunden. Wissenschaft und Fachpraxis seien miteinander verflochten und voneinander abhängig und konstituierten die Situation der Prävention und die Problemkategorie Radikalisierung gemeinsam (S. 256). Abschließend wird die Problemkategorie Radikalisierung vor dem Hintergrund der von Norbert Elias entwickelten Figurationstheorie und der Soziologie Sozialer Probleme theoretisch reflektiert. Vor diesem Hintergrund wird „Doing Radikalisierung“ für Leimbach zur Schlüsselkategorie, wobei sie die Unterschiede im Umgang mit Rechtsextremismus und Islamismus als Ausdruck des jeweiligen soziologischen Alters versteht. Das höhere soziologische Alter von Rechtsextremismus führe zu der Wahrnehmung, dass dieser vertraut und bearbeitbar sei, während das jüngere Phänomen Islamismus als das gefährlichere konstruiert werde (S. 267–268). Für Rechtsextremismus wird dabei von verfestigten Wissensstrukturen ausgegangen, die sich sowohl in den Interviews mit den Fachkräften zeigten als auch in der wissenschaftlichen Literatur zu Rechtsextremismus (S. 266).

Mit diesem Buch präsentiert Leimbach einen interessanten Untersuchungsansatz, der quer zu der im Feld der Begleit- und Evaluationsforschung üblichen Wissensproduktion liegt und neue Perspektiven eröffnet. Vorgelegt wird damit eine Analyse zur Konstitution des Rechtsextremismus im Kontext von Präventionsdiskursen und -praxen, die ihre Überzeugungskraft vor allem durch ihre Perspektivenvielfalt gewinnt. Gewinnbringend erscheint einerseits die Kontrastierung zwischen dem, was als Rechtsextremismus und dem, was als Islamismus verstanden und präventiv bearbeitet wird, andererseits die Berücksichtigung der Sichtweisen von Fachkräften, Adressat:innen, wissenschaftlichen Diskursen und der Bezüge zwischen diesen Akteur:innen. Die konsequente Orientierung an einer Analysehaltung, die das interaktive Zusammenwirken der verschiedenen Akteur:innen und Instanzen in den Blick nimmt und als Ausdruck der Situation versteht, wirkt dabei besonders produktiv. Allerdings geraten durch die Beschränkung auf ein bestimmtes Förderprogramm sowie die Fokussierung auf Gemeinsamkeiten bzw. das Typische mitunter die Vielgestaltigkeit der Ausstiegs- bzw. Deradikalisierungsarbeit sowie die Heterogenität der Adressat:innen aus dem Blick.

Bei den hier besprochenen Büchern nimmt der Band von Madlen Böert eine Sonderstellung ein, da hier keine Bezüge zur Rechtsextremismusforschung hergestellt werden. Die Autorin befasst sich in ihrem Buch mit dem sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), d. h. mit der rechtsterroristischen Gruppe, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordete sowie zahlreiche Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle verübte. In Hinblick auf den NSU-Komplex legt dieses Buch den Fokus auf einen spezifischen Aspekt, dem die Autorin große Bedeutung dafür zurechnet, dass es zu dieser Häufung zunächst nicht entdeckter Morde und Anschläge kommen konnte: die erfolgreiche Geheimhaltung durch die NSU-Kerngruppe, bestehend aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. In ihrer Analyse orientiert sie sich an einer gruppensoziologischen Perspektive und formuliert die These, „der NSU-Kern [konnte] 14 Jahre unentdeckt im Untergrund leben [...], weil sich durch die Gruppenstrukturen Instrumente und Praktiken ausbilden, die zur Geheimhaltung der illegal operierenden Terrorgruppe und damit zu ihrer Nichtentdeckung beitragen“ (S. 11). Es bleibt unklar, wie diese These entwickelt wurde, und auch die Entscheidung für die gruppensoziologische Analyseperspektive wird nicht erläutert. Jedenfalls wird mit diesem Buch eine spannende und interessante Arbeit vorgelegt, die die Rechtsextremismusforschung ergänzt, obwohl sie diese nicht erkennbar zur Kenntnis nimmt.

Grundsätzlich problematisch erscheint die der Analyse zugrundeliegende Empirie, nicht nur weil es hier um den NSU geht, der auf die Wahrung des Geheimnisses um sein Innenleben angewiesen war und sich auch nach seiner Enttarnung nur durch taktisch motivierte Aussagen vor Gericht „offenbarte“ (S. 18), sondern auch weil sie auf Dokumenten beruht, die nicht zu Forschungszwecken entstanden und als systematisch verzerrt und interessengeleitet charakterisiert werden können (S. 21): zum einen zwei Protokoll-Serien zum NSU-Prozess, zum anderen die Abschlussberichte zweier parlamentarischer Untersuchungsausschüsse (S. 19). Die Autorin ist sich dieser fragwürden Basis bewusst und relativiert vor diesem Hintergrund immer wieder die Aussagekraft ihrer Ergebnisse. Während in dieser kritischen Distanz zum Datenmaterial eine Stärke der Arbeit gesehen werden kann, liegt bei der wenig transparenten Datenanalyse eine ihrer Schwächen, sodass z. B. der Ertrag eines Vergleichs der Protokolle unklar bleibt. Eine Ausnahme: In Hinblick auf die Gestaltung der Binnenbeziehungen des NSU-Trios wird deutlich, dass die beiden Protokoll-Serien diesbezüglich leicht unterschiedliche Interpretationen zulassen, womit Möglichkeiten und Grenzen der vorliegenden Analyse deutlich werden (S. 75).

Zunächst steht die NSU-Kerngruppe im Zentrum der Analyse. Diese Dreiergruppe wird als Freundesgruppe mit engen persönlichen Beziehungen charakterisiert, bei der sich eine „eigentümliche Vermischung freundschaftlicher und romantischer Beziehungen“ (S. 10) gezeigt habe. Für die Mitglieder dieser engen Dreierkonstellation sei es nicht möglich gewesen, exklusive Bindungen zu Außenstehenden zu unterhalten; die Dreierkonstellation sei als Beziehungsmonopol angelegt gewesen (S. 58). „In der Klandestinität muss die Gruppe weitreichende Aufgaben übernehmen, denn es müssen nun sämtliche Bedürfnisse aus verschiedenen Lebensbereichen gruppenintern erfüllt werden“ (S. 75). Der Ausstieg Einzelner, der die Existenz des NSU bedroht hätte, sei außerdem durch Schuldverstrickung sowie durch finanzielle und emotionale Abhängigkeiten verhindert worden (S. 81).

Ein weiterer Schwerpunkt der Analyse fokussiert auf die Praktiken der Geheimhaltung der NSU-Kerngruppe, durch die sie ständig die Grenze zwischen sich als Wissenden und den Unwissenden aufrechterhalten hätten. Dafür seien physische und performative Wahrnehmungsbarrieren errichtet worden. Als performative Barrieren werden der vor allem durch Beate Zschäpe geleisteste Aufbau und die Pflege einer bürgerlichen Fassade sowie alltäglicher Kontakte angeführt, die von der Autorin als „Unsichtbarkeit durch Sichtbarkeit“ (S. 105) charakterisiert wird. Schließlich wird die Analyse durch die Einbeziehung des Unterstützungsnetzwerkes ergänzt. Die zuvor als scharfe Grenzlinie zwischen Wissenden und Unwissenden vorgestellte Unterscheidung wird dafür aufgeweicht, d. h. es habe Personen gegeben, die etwas, aber nicht alles wussten. „Die Gruppengrenze sollte dementsprechend nicht als Trennlinie, sondern vielmehr als Grenzraum gedacht werden“ (S. 130). Der Beitrag der Unterstützenden wird dabei im stellvertretenden In-Kontakt-Treten mit der Umwelt gesehen, da sie Dinge tun könnten, die für das NSU-Trio zu risikoreich wären. Um die dadurch unvermeidlichen Risiken zu begrenzen, seien durch den Aufbau von Vertrauensbeziehungen und Schuldverstrickung eine gewisse Loyalität sichergestellt worden (S. 129).

Zusammengenommen ist das Buch von Böert als mutiger Versuch zu werten, trotz sehr begrenzter Datenlage eine soziologisch relevante Analyse vorzulegen, die vorliegende Untersuchungen durch ihren Fokus auf das NSU-Kerntrio ergänzt. Im Rahmen des engen Fokus der vorgelegten Analyse, die das Trio und seine Gruppenstruktur ins Zentrum stellt und auf Geheimhaltung fokussiert, überzeugt der Erklärungsansatz. Aber dieser Analysefokus hat auch seinen Preis: Obwohl die Autorin die zunächst scharf gezogene Grenze des Trios nach außen durch Einführung des Grenzraumes zum Unterstützungsnetzwerk aufweicht, funktioniert der Erklärungsansatz nur mit der Annahme der Trio-These und ist nicht mehr offen für andere Annahmen zur NSU-Struktur, wie dies im Fazit suggeriert wird (S. 153). Auch andere Fragen werden durch diese enge Fokussierung außen vorgelassen: Gruppensoziologisch wäre interessant gewesen, die im Buch nur kurz skizzierte Frage der Stabilität des NSU-Trios jenseits der Notwendigkeit zur Geheimhaltung zu thematisieren und dafür z. B. auf den Umgang mit Konflikten einzugehen. Auch eine stärkere Berücksichtigung der ideologischen Fundierung des NSU wäre möglicherweise interessant gewesen. Anregungen hierzu hätten der Forschungsliteratur zum Rechtsextremismus entnommen werden können. Die von der Autorin gezogene Parallele des NSU-Trios zu den „RAF-Rentnern“ und zu der Frage, inwieweit die Analyse auf andere Fälle übertragbar ist, eröffnet spannende Perspektiven und erscheint ertragreich.

Die zu Beginn dieser Rezension formulierten Eindrücke können nun konkretisiert werden. Auch wenn sich in den besprochenen Büchern an verschiedenen Stellen an Arbeiten und Perspektiven orientiert wird, die die Rechtsextremismusforschung schon seit längerem bestimmen, lassen sich doch auch wichtige neue Akzente und Weiterentwicklungen feststellen. Am deutlichsten bezieht sich die Arbeit von Fahrig auf seit längerem etablierte Traditionen der Rechtsextremismusforschung (Hopf et al., 1995; Wahl, 2003), entwickelt diese dadurch, dass sowohl (ehemals) rechtsextrem orientierte Söhne als auch ihre Mütter einbezogen werden, aber auch weiter. Auch die sozialräumlich orientierte Forschung, die in dem von Mullis und Miggelbrink herausgegebenen Band präsentiert wird, knüpft maßgeblich an den Analysen an, die Wilhelm Heitmeyer vor mehr als 20 Jahren vorstellte (Heitmeyer, 2002, S. 523); allerdings lassen sich hier, ähnlich wie in dem von Garszecki et al. herausgegebenen Band, auch wichtige Neuerungen ausmachen, die mittels vergleichender Analysen, neuer Fokussierungen sowie innovativer methodischer Verfahren entwickelt wurden und dabei auch Vernetzungen in der rechtsextremen Szene und längerfristige Entwicklungen in den Blick nehmen. Auch Leimbach bezieht sich auf das inzwischen etablierte Feld der Begleit- und Evaluationsforschung zur Extremismusprävention (Rieker, 2009), entwickelt dabei allerdings einen ganz eigenen, theoretisch und methodologisch fundierten Zugang, der die durch die Akteur:innen gemeinsam geleistete Konstitution von Rechtsextremismus fokussiert und dabei auch die Einbindung der Wissenschaft in diese Prozesse berücksichtigt. Alleine bei Böert fehlen Bezüge zur traditionellen Rechtsextremismusforschung.

In diesem Forschungsfeld hat, so mein Eindruck, ein sensibler Umgang mit schwierigen Forschungskontexten und fragwürdigen Informationen ebenso an Bedeutung gewonnen wie eine Reflexion zur Forschung selbst. Teilweise wird Fragwürdiges offengelegt und in seiner Interessengebundenheit reflektiert, so etwa, wenn es um die Aussagen aus dem NSU-Kontext vor Gericht geht, für die sich Böert auf Protokollierungen verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteur:innen bezieht und auch Interessenbindungen sowie Verzerrungen reflektiert. Auch Leimbach verdeutlicht mit Verweis auf die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Interviewpartner:innen die Besonderheiten des Forschungsfeldes und legt damit auch Fragwürdigkeiten in Hinblick auf die Datengrundlage offen. Zudem wird hier mitgedacht, wie Forschung an der Produktion dessen, was sie als Ergebnis formuliert, beteiligt ist. Ganz ähnlich bemerken auch Mullis und Miggelbrink (in Mullis & Miggelbrink, S. 13), dass die Forschungspraxis selbst dazu beiträgt, durch ihren Fokus auf Ostdeutschland den Osten als Problem zu formieren. In Bezug auf die Forschung, die sich in dem Band von Garsztecki et al. auf Äußerungen in sozialen Netzwerken bezieht, wird aus meiner Sicht dagegen ein Nachholbedarf in Hinblick auf entsprechende Reflexionen zur Datengrundlage und zu deren Zustandekommen deutlich.

Hinzu kommt, dass auf Praktiken bezogene Arbeiten, so wie in anderen Forschungsgebieten, auch in Hinblick auf Rechtsextremismus an Relevanz gewonnen haben. Auf diese Weise wird dann z. B. der Frage nachgegangen, wie das NSU-Trio Beziehungen zu Dritten gestaltet hat und auf diese Weise im Verborgenen bleiben konnte (Böert). An anderer Stelle wird deutlich, wie soziale Medien durch AfD-Abgeordnete kontextspezifisch unterschiedlich eingesetzt werden (Tell in Garsztecki et al.). Oder es kann gezeigt werden, wie Ausstiegshelfer:innen und Aussteiger:innen ein gemeinsames Verständnis von Rechtsextremismus herstellen und dabei auch an wissenschaftlichen Erkenntnissen anknüpfen (Leimbach). Aber auch die Triangulation subjektiver Perspektiven in der Dissertation von Fahrig schließt hier an, indem gezeigt wird, wie Rechtsextremismus in der Familie gemeinsam bearbeitet und auch ein Verständnis biografischer Verläufe gemeinsam hergestellt wird.

Begrifflich zeigt sich in den besprochenen Arbeiten ein Changieren zwischen verschiedenen Bezeichnungen, wobei mal von „rechten“, mal von „rechtsextremen“ Phänomenen die Rede ist, obwohl eigentlich durchweg Aspekte von Rechtsextremismus gemeint sind. In dem von Garsztecki et al. herausgegebenen Band lässt sich mit Bezug auf „neue“ Rechte bzw. „Neue Rechte“ eine eher unglückliche, verwirrende und auch inkonsistente Begriffsverwendung feststellen. Einen entscheidenden Kritikpunkt an dieser Begriffsverwendung bringen Grunert und Kiess folgendermaßen auf den Punkt: „Wirklich ‚neu‘ ist an der Neuen Rechten jedenfalls im Jahr 2023 nichts mehr“ (Grunert & Kiess in Garsztecki et al., S. 158). Aus Sicht des Rezensenten wäre es gut gewesen, diese Begriffsverwirrung dadurch zu vermeiden, dass am Begriff „Rechtsextremismus“ festgehalten wird, wenn Rechtsextremismus gemeint ist.

Zusammengenommen kann dem Eindruck, dass es in „den vergangenen 10 Jahren nur wenige neue empirische Untersuchungen zu Rechtsextremismus gegeben habe, dass aber die Untersuchungen der 1980er bis heute relevant seien“ (Leimbach, S. 266, mit Bezug auf Möller & Neuscheler, 2019, S. 14), m. E. daher nicht mehr ohne Weiteres zugestimmt werden. Die hier in den Blick genommenen Arbeiten zeigen Neuentwicklungen in Hinblick auf multiperspektivische Forschungen im Kontext der Familien Rechtsextremer (Fahrig), die Einbeziehung zusätzlicher theoretischer Perspektiven (Böert), sozialräumliche Analysen (Garsztecki et al.; Mullis & Miggelbrink) und die Analyse der Rechtsextremismusprävention unter Einbeziehung soziologischer Theorie (Leimbach). Die „verfestigten Wissensstrukturen“ (Leimbach, S. 266) der Rechtsextremismusforschung scheinen in Bewegung zu geraten.

Literatur

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Online erschienen: 2025-10-20

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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