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Felsenmelodie und Kontrapunkte. Die Ausgewählten Schriften von Claus Offe

Claus Offe, Macht und Effizienz. Studien zur kapitalistischen Rationalisierung der Arbeit, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 1), 2018. 384 S., gb., 64,99 € Claus Offe, Der Wohlfahrtsstaat und seine Bürger, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 2), Wiesbaden: Springer VS, 2019, 336 S., gb., 64,99 € Claus Offe, Institutionen, Normen, Bürgertugenden, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 3), 2019, 434 S., gb., 69,99 € Claus Offe, Liberale Demokratie und soziale Macht. Demokratietheoretische Studien, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 4), 2019, 388 S., gb., 59,99 € Claus Offe, Staatskapazität und Europäische Integration, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 5), 2019, 395 S., gb., 64,99 € Claus Offe, Übergänge. Vom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 6), 2020, 388 S., gb., 59,99 €
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Published/Copyright: November 24, 2021
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Rezensierte Publikationen:

Claus Offe, Macht und Effizienz. Studien zur kapitalistischen Rationalisierung der Arbeit, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 1), 2018. 384 S., gb., 64,99 €

Claus Offe, Der Wohlfahrtsstaat und seine Bürger, Wiesbaden (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 2), Wiesbaden: Springer VS: Springer VS, 2019, 336 S., gb., 64,99 €

Claus Offe, Institutionen, Normen, Bürgertugenden, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 3), 2019, 434 S., gb., 69,99 €

Claus Offe, Liberale Demokratie und soziale Macht. Demokratietheoretische Studien, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 4), 2019, 388 S., gb., 59,99 €

Claus Offe, Staatskapazität und Europäische Integration, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 5), 2019, 395 S., gb., 64,99 €

Claus Offe, Übergänge. Vom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus, Wiesbaden: Springer VS (Ausgewählte Schriften von Claus Offe Band 6), 2020, 388 S., gb., 59,99 €


Für wen werden diese sechs Bände „Ausgewählte Schriften“ veröffentlicht? Immerhin knapp hundert Kapitel mit fast zweieinhalbtausend Seiten. Der Verlag scheint sich unsicher zu sein. Auf der Umschlagrückseite des ersten Bandes sind „Wirtschafts- und Arbeitssoziologen“, „Politikwissenschaftler“ und „Gewerkschaftler“ als „Zielgruppen“ aufgelistet, bei den Bänden 2, 3 und 4 „Sozialwissenschaftler“ und „Politikwissenschaftler“, und bei den Bänden 5 und 6 fehlt diese Empfehlung ganz. Jeder der Bände wird durch das gleiche 5-seitige „Generalvorwort“ eingeleitet, gefolgt von einem ebenfalls 5-seitigen Vorwort, der in das Thema des jeweiligen Bandes einführt. Wer kann das lesen? Die englisch geschriebenen Texte wurden nicht übersetzt; eine Volksausgabe der best of sind die „Ausgewählten Schriften von Claus Offe“ nicht. Wenn man ein Vorbild sucht für den „teutonischen Stil“, den Johan Galtung in einem berühmten Aufsatz über die unterschiedlichen Herangehensweisen der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Kulturen identifiziert, dann wird man in den „Ausgewählten Schriften“ leicht fündig. Offe selbst scheint von einer gewissen Vermittlungsbedürftigkeit seiner Schriften auszugehen, wenn er im „Generalvorwort“ eine Reihe von „Fremdeinschätzungen und Selbstauskünften zu den Entstehungskontexten der Arbeiten sowie Beurteilungen und Interpretationen derselben“ auflistet. Im „Generalvorwort“ schreibt Offe, die Idee zur Herausgabe „Ausgewählter Schriften“ stamme von Adalbert Hepp, der im Campus Verlag mit großem Engagement den Sozialwissenschaften ein Forum geboten hat. Offes „Ausgewählte Schriften“ sind bei Springer erschienen. Hepp hat allerdings zwei anderen wichtigen Sozialwissenschaftlern mit ihren „Ausgewählten Schriften“ Präsenz zu schaffen versucht, M. Rainer Lepsius und Fritz J. Scharpf (Hepp/Löw, 2008; Hepp/Schmidt, 2017). In beiden Fällen wird der Band (jeweils nur einer!) durch umfangreiche, das Werk im Gespräch mit der Person erschließende Interviews eröffnet. Ein derartiges Erschließen und Kontext herstellen gibt es bei den Offe-Bänden nicht, und wird auch weder im „Generalvorwort“ noch in den Bandeinleitungen angestrebt.

Ohne den Anspruch auf hohe und bleibende Relevanz gäbe es eine derartige Sammlung „Ausgewählter Schriften“ nicht. Offe gibt einen deutlichen Hinweis, wo er den Grund für diese fortdauernde Relevanz sieht. Im „Generalvorwort“ schreibt Offe, er sei nicht bereit, sich vom „‘Physik-Neid‘ mancher sozialwissenschaftlichen Theoretiker und Empiriker fernzuhalten.“ Er hält diesen „Physik-Neid“ für „irregeleitet“, und sieht einen Grund in der Schwierigkeit – oder dem Vorwurf – dass aufgrund der „Verwicklung“ in tagespolitische Aktualitäten und der Prägung der „Forschungsgegenstände und Untersuchungsperspektiven [...] [durch] akademische und gesellschaftspolitische Themenkonjunkturen“ die „akademischen Äußerungen von Autoren unserer [sozialwissenschaftlichen] Fächer von bloßen Meinungsbeiträgen bisweilen kaum unterscheidbar werden lässt“ (V f.). Die „Berechtigung entsprechender Vorwürfe“ ließe sich, so Offe, „mit der Erinnerung an die spezifische Natur der Gegenstände von Soziologie und Politikwissenschaft in Zweifel ziehen.“ Diese „Erinnerung“ kann auch als Bekenntnis seines Berufs als Sozialwissenschaftler verstanden werden und verdient deshalb die ausführliche Wiedergabe:

„Anders als die Gegenstände von Physik und Biologie handelt es sich bei sozialwissenschaftlichen Studienobjekten, also bei sozialen Akteuren und den Folgen ihres Handelns, um solche, die mit dem Wissen (oder doch impliziten Vorstellungen und Annahmen) über die Gründe und Ursachen des eigenen Handelns und Erlebens begabt sind. Dieses Wissen kann wahr sein oder im Gegenteil auf (Selbst-)Täuschung beruhen. Dabei beziehen sich Täuschungen sowohl auf die Gesamtheit des Wirklichen und seine Triebkräfte wie auf die Sphären des (Un-)Möglichen. Ich betrachte es als den Sinn und wichtigsten, wenn auch bisweilen nicht ohne Recht als subversiv beargwöhnten Auftrag sozialwissenschaftlicher Forschung, solche Täuschungen zu ‘enttäuschen‘ und so die von ihnen verbreiteten Gewissheiten zu erschüttern. Was damit zugleich erschüttert wird, ist der faule Frieden irrigen Einverständnisses“ (VI).

Das ist eine besondere, ausgesprochen politische Sicht auf die „spezifische Natur der Gegenstände von Soziologie und Politikwissenschaft“, freilich eine Sicht, die hilft zu verstehen, warum Offe in sechs Bänden Schriften aus fast fünfzig Jahren sozialwissenschaftlicher Forschung veröffentlicht. Denn mit diesem Absatz bringt Offe die letztlich unpolitische Überzeugung zum Ausdruck, dass die Gesichtspunkte und Theoreme seiner Sozialwissenschaft so etwas wie eine objektive Grundlage jenseits des expliziten oder impliziten Wissens der Menschen hätten. Also etwas, was ihm erlaubt, Vorstellungen und Handlungen der Menschen als „Täuschung“ und „Irrtum“ zu behandeln.

Die Aufsätze aus den 1970er und 1980er Jahren sind von der Überzeugung getragen, dass theoretische Einsichten leistungsfähigere Argumente fundieren als jene Erkenntnisse, denen im Rahmen eines „empiristischen Reglements“ Validität zugesprochen wird. Gegen die Präskriptionen eines „methodologischen Individualismus“ hielt Offe damals fest, „dass Machtverhältnisse begrifflich durchaus von der Kategorie des sozialen Handelns getrennt werden können, gesellschaftliche Strukturen als subjektlose Machtverhältnisse angenommen [...] werden können“ (Bd. 4: 11). „Gesellschaftliche Akteure“ werden auf „‘Träger’ bestimmter, von einer Produktionsweise vorgezeichneten Funktionen [reduziert], [...] als Exekutoren struktureller Imperative und institutionalisierter Vorentscheidungen“ funktionalisiert. Wobei Offe durchaus die Gefahr erkennt, „die Nebelfelder einer rein objektivistischen, auf nicht-empirischen Strukturen und ‘Bewegungsgesetze‘ abhebende Konzeptualisierungen gesellschaftlicher Macht“ zu unterschätzen (Bd. 4: 13). Die sehr viel größere Gefahr für objektive Erkenntnis sieht Offe indes in „perspektivischer Beliebigkeit“ und „normativem Subjektivismus“ (Bd. 4: 17). Es ist Theorie, die der Sozialforschung ihre „objektiven Bezugspunkte“ gibt. Diese Überzeugung ist auch die Folie seiner Kritik des empirischen Mainstreams der amerikanischen Sozialforschung, die „nicht selten“ auf die „Notlösung“ zurückgreife, „theoretische Defizite behelfsweise durch Komparatistik auszugleichen“ (Bd. 4: 19). Die Wirklichkeitsarmut der frühen Aufsätze und die Bestimmtheit und Ausschließlichkeit der der immer wieder neu durchdeklinierten theoretischen Konstruktionen des „freien Arbeitsvertrages“, der „kapitalistischen Gesellschaft“ und des „kapitalistischen Staates“ erzeugen eine gewisse Monotonie, ja diese Arbeiten erwecken den Eindruck jener „grotesken Felsenmelodie“, den Karl Marx bei seiner ersten Begegnung mit Hegels Schriften gewonnen hatte. Die Höchstschätzung der Theorie ist für Galtung eines der Wesensmerkmale des teutonischen (und des gallischen) Stils in den Sozialwissenschaften: „[T]o the teutonic and gallic intellectual, potential reality may be not so much the reality to be even more avoided or even more pursued than the empirical one but rather a more real reality, reality free from the noise and impurities of empirical reality“ (Galtung, 1981: 828 – Hervor. i. O.).

Offes Physikalismus – oder Objektivismus – steht nicht nur gegen die bereits von Aristoteles hervorgehobene Plastizität des Sozialen und Gesellschaftlichen und das damit verbundene unaufhaltsame Veralten ihrer Formen, sondern auch gegen die Eigenart des sozialwissenschaftlichen Denkens, dass ihr Anstoß immer von außen kommt, mithin dieses Denken seinen Grund nicht in der Erforschung eines unveränderlichen Wesens hat wie etwa die von ewig geltenden „Naturgesetzen“ beherrschten Naturtatsachen. Dagegen ist der Ausgangspunkt von Sozialwissenschaft eine „Wirklichkeit, die uns um Kopf und Kragen zu bringen droht [...]“, und diese Wirklichkeit ist „eine Wirklichkeit, die überlieferten Normen immer wieder davonläuft, weil Richtung und Geschwindigkeit ihrer Transformation von ihnen nicht mehr eingefangen werden“ (Plessner 1959: 13 und 15). Entsprechend beschränkt, unsicher und zeitgebunden ist das Wissen der Sozialwissenschaften. Von „Wahrheit“ im Sinne einer unumstößlichen „Objektivität“ war bei Aristoteles nicht die Rede, sondern allein von dem, was „Allen“ oder „den Vielen“ als Wahrheit erscheint. Genau diese Aristotelische Einsicht in die Eigenart sozialer Tatsachen hat Max Weber dazu geführt, in seinem anlässlich der Übernahme der Herausgeberschaft des Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlichten Programmaufsatz im Titel Objektivität in Anführungszeichen zu setzen – und später im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ zu betonen, es sei Sinn und Zweck wissenschaftlicher Arbeit, „überholt“ zu werden. „Wissenschaftliche Arbeit“, so Weber, „ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts. [...] Jeder von uns [...] in der Wissenschaft weiß, dass das, was er erarbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ‘Erfüllung’ bedeutet neue ‘Fragen’ und will überboten werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiss dauernd, als ‘Genussmittel’, ihrer künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, dass andere weiter kommen als wir“ (Weber, 1982/1919: 592).

Nun hat Offe selbst festgehalten, in der Rede anlässlich der Verleihung des Theodor-Eschenburg-Preises der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft für sein Lebenswerk, „auch als zweifach emeritierter Professor“ habe man „Interessanteres zu tun, als in den eigenen Werken zu blättern“ und sprach von den mit den Jahren häufiger werdenden „leicht befremdlichen Erlebnissen, dass von dritter Seite etwas zitiert wird, in dem man die eigene Handschrift und Denkungsweise nicht auf den ersten Blick wiedererkennt. Bei solchen Gelegenheiten festigt sich dann die schöne Gewissheit, dass es auch im Felde der Politikwissenschaft einen wissenschaftlichen Fortschritt gibt: Behauptungen, die man vor vielen Jahren einmal aufgestellt und publiziert hat, erscheinen aus heutiger Sicht manchmal nicht so sehr als inhaltlich unvertretbar denn als allzu nebulös und unzulänglich begründet“ (Offe, 2012: 601). Aber der Sache nach richtig, trotz der (manchmal?) „überambitionierten oder untersubstantiierten Behauptungen“, wie es wenige Zeilen später heißt? „Fortschritt“ scheint Offe an der „Bemühungen um begriffliche Präzisierung und Unterscheidung“ festzumachen. Das Bezugsproblem sieht er in dem Umstand, dass in den Sozialwissenschaften mit Begriffen gearbeitet wird, die im außerwissenschaftlichen Bereich ihre erste Heimat haben, und dass in umgekehrter Richtung Fachbegriffe der Sozialwissenschaften in die Alltagssprache diffundieren. Aus dieser „Nähe der Fachsprache zur Alltagssprache ergibt sich für Wissenschaftler die laufende Herausforderung, die verwendeten Begriffe zu schärfen, d. h. die Frage zu beantworten: Woran erkennen wir und wie lässt sich begründen, dass ein Begriff auf eine bestimmte Kategorie sozialer Phänomene angewendet werden muss, während er auf andere, oft zum Verwechseln ähnliche Sachverhalte nicht aus ebenso guten Gründen ‘passt’“ (Generalvorwort: VI). Für Offe liegt der Wert der Sammlung „Ausgewählter Schriften“ in dem materialen Gesichtspunkt des „in seinen Ergebnissen nachhaltig ungewissen Spannungsverhältnis zwischen den institutionellen Strukturen liberaler und zugleich wohlfahrtsstaatlicher Demokratien einerseits und der Dynamik kapitalistischer Wirtschaftssysteme und ihrer strukturbildenden, gesellschaftsverändernden Effekte andererseits“ (Generalvorwort: VII). Dieses „Spannungsverhältnis“ zwischen verkürzt ausgedrückt Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft ist tatsächlich der rote Faden, der die Bände zusammenhält, und zwar gerade in seinem Weiterspinnen in den institutionellen Konstellationen der europäischen Integration und supranationalen Verbandsbildung (Bd. 5, Nr. 11–17) und der postsozialistischen Transformation zum „demokratischen Kapitalismus“ (Bd. 6). Wobei freilich in den frühen Aufsätzen von einem „nachhaltig ungewissen Spannungsverhältnis“ gerade nicht die Rede war (meine Hervorhebung, ER). Denn dort werden in kategorialen Begriffen „Widersprüche“ als Ergebnisse von „Bewegungsgesetzen“ identifiziert. Seine Diagnose des Endes der Nachkriegszeit mit ihrer „Erschöpfung“ sozialpolitischer Kompensationsressourcen und einer endzeitlichen „Krise des Krisenmanagements“ (Bd. 5, Nr. 4) scheint die Parole des Punk vorwegzunehmen: No Future! In den 1990er Jahren wird seine Felsenmelodie differenzierter, nicht nur was die Offenheit für die Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsdeutung der Bürger angeht, sondern auch sein analytisches Instrumentarium. Das zeigt sich vor allem bei seiner Beschäftigung mit den Transformationsproblemen im wiedervereinigten Deutschland und in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Was man dort erkennen kann, ist die Erweiterung der Perspektive der Politischen Ökonomie um die einer Moralischen Ökonomie, die um die Fragen nach Gerechtigkeit kreist. Auch im Zusammenhang mit seiner eher soziologisch als politikwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzung mit der europäischen Integration spielen anders als bei seiner frühen Beschäftigung mit Sozialpolitik und Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik die normativen Fragen einer sozialen Integration über Werte eine zentrale Rolle.

Ein Veralten leitender Gesichtspunkte will Offe nicht sehen, auch wenn er bei seinen arbeitsmarkt- und industriesoziologischen Arbeiten die „zeitdiagnostischen Intuitionen“ hervorhebt, die sie inspiriert haben. Die Auseinandersetzung mit diesen Studien könnten „auch heute noch von mehr als antiquarischem Interesse sein [...], weil die Kerninstitutionen kapitalistischer (Erwerbsarbeits-)Gesellschaften mit ihren Machtstrukturen, Verteilungsergebnissen und ihrer Konfliktdynamik zu wesentlichen Teilen unverändert geblieben sind“ (Bd. 1: XIV). In dieser Formulierung steckt weit mehr als die Behauptung einer strukturellen Kontinuität der kapitalistischen Gesellschaft. Sie suggeriert auch die Ohnmacht des demokratischen Staates, oder, anders ausgedrückt, die Indifferenz von kapitalistischer Ordnung und politischem System. Diese Sicht geht auf ein negatives Verständnis von Gesellschaftspolitik wie auch von Gesellschaftstheorie zurück. Im Grunde wiederholt Offes politische Skepsis die Einschätzung von Eugen von Böhm-Bawerk, der in dem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1914, „Macht oder ökonomisches Gesetz“, nachweisen wollte, dass das ökonomische Leben von Gesetzen beherrscht ist, denen politische Macht, sprich gewerkschaftliche Macht und staatlichen Interventionen, kurzfristig zwar beträchtliche Erfolge abringen kann, langfristig sich aber in den Grenzen bewegt, die ihr durch die Sachlogik der Marktwirtschaft und des Kapitalismus gesetzt werden. Offe bezieht sich zwar auf Karl Marx, was den „Grundwiderspruch“ kapitalistischer Gesellschaften angeht, folgt aber genauso wie dieser und Böhm-Bawerk jenem naturwissenschaftlich-mechanistischen Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung, die von einer „sozialen Physik“ entschlüsselt werden kann. Im Titel von Offes Sammlung arbeitsmarktsoziologischer Studien in den Ausgewählten Schriften, „Macht und Effizienz“, kehrt zwar Böhm-Bawerks Grundüberzeugung wieder, allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Das „und“ in Offes Titel zeigt an, dass sich seine Theorie des Arbeitsmarktes mit einer Konstellation auseinandersetzt, in der sich die Politik „mit den Möglichkeiten [befasst], der Aktualisierung von Beschäftigungsrisiken vorzubeugen, ohne zugleich der Rentabilität des eingesetzten Kapitals Abbruch zu tun“ (Bd. 1: XIV – meine Hervorhebung, ER). Während Böhm-Bawerk sich von der Rationalität und überlegenen Leistungsfähigkeit des ökonomischen Gesetzes überzeugt zeigt, sieht das Vorzeichen von Offes Beschäftigung mit dem Arbeitsmarkt ganz anders aus. Das gilt vor allem für die früheren Schriften aus den 1980er Jahren, wo er vom Arbeitsmarkt als einem „versagenden Allokationsprinzip“ spricht und eine „Ergänzungsbedürftigkeit“ konstatiert. In einem jüngeren, 2003 zuerst veröffentlichten Beitrag kommt dann allerdings eine hohe Wertschätzung des sozialpolitisch überformten Arbeitsmarktes zum Ausdruck: „Ein funktionierender Arbeitsmarkt ist ein durch vielfältige und kostspielige politisch verbürgte Arrangements ‘eingerahmter' Arbeitsmarkt, dessen allgemeine Bestimmung darin besteht, das am Arbeitsmarkt herrschende Machtgefälle zumindest abzuflachen und dadurch der Arbeitskraft mehr Optionen zu gewähren, als die, über die sie in einem unregulierten Arbeitsmarkt verfügen würde“ (Bd. 1: 70). Wie ein derartiger Arbeitsmarkt zustande kommt und wie er verteidigt bzw. abgebaut wird, wird bei Offe nicht näher untersucht. Tatsächlich besteht die Eigenart von Offes Politischer Ökonomie genau darin, sowohl Politik und Staat wie auch die intermediären Institutionen und das kollektive Handeln als jeweils eigenlogisch funktionierende Sphären zu behandeln. Theoretische Gesichtspunkte, die in einer Sphäre entwickelt und fruchtbar gemacht werden, scheint in den anderen Sphären keine Bedeutung zuzukommen. So kommt dem „demokratischen“ Staat mit seiner adaptiven Fähigkeit einer „Rückwirkung auf sich selbst“, seine Eigenschaft, als sozialer Verband hauptsächlich in seinen Studien zur Demokratie eine kritische Bedeutung zu. Dass man es auch bei der kapitalistischen Gesellschaft mit einem „selbstempfindlichen Beobachtungsstoff“ (Hellmuth Plessner) zu tun, und dass den Sozialwissenschaften eine kritische Rolle bei dieser „Selbstempfindlichkeit“ zukommt, ist bei den arbeitsmarktsoziologischen Studien genauso wie bei den früheren Arbeiten zur Sozial- und Bildungspolitik so gut wie überhaupt nicht zu bemerken. Damit fällt Offe noch hinter Karl Marx zurück, der im ersten Band von Das Kapital die englische „Fabrikgesetzgebung“ als „erste bewusste und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses“ charakterisiert hat (Marx, 1967/1867: 504).

Ob freilich, und auch mit welchen Abstrichen, die Struktur und Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft „unverändert geblieben sind“, ist die entscheidende Frage. Claus Offe hat bekanntlich die Kategorie des Spätkapitalismus von Werner Sombart übernommen, für den nach dem Frühkapitalismus und dem Hochkapitalismus bereits die Zeit nach 1918 als „Spätkapitalismus“ firmierte.[1] Sombart hat allerdings im Schlussteil seiner großen historisch-systematischen Darstellung des Wirtschaftslebens betont, „[d]ass der Kapitalismus große äußere und innere Umbildungen auch in der Zukunft erfahren wird“ und die die doppelte Vermutung getroffen, dass der Kapitalismus die Vorherrschaft verlieren wird, und dass „der Kapitalismus [...] sich immer mehr Einschränkungen und Eingriffe abseiten der öffentlichen Gewalten gefallen lassen müssen [wird]: seine rein naturalistische Daseinsweise wird sich [...] immer mehr mit normativen Ideen durchsetzen“ (Sombart, 1987/1927: 1012). Der theoretische und politische Stellenwert „normativer Ideen“ ist der springende Punkt. In den frühen Arbeiten zum Arbeitsmarkt und zur Sozial- und Bildungspolitik dominiert eine funktionalistische Perspektive, für die „Objektivität“ behauptet wird – gegen den „Normativismus“ und „Voluntarismus“ handlungstheoretischer Ansätze. Seit der Mitte der 1990er Jahre erhalten die Wahrnehmungen und Einschätzungen der Akteure, mithin auch ihre normativen Ideen von Gerechtigkeit und Billigkeit sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch in Offes Engagement für jene alternativen Formen sozialer Sicherheit, die sich auf Konzepte wie Bürgergeld oder bedingungsloses Grundeinkommen konzentrieren. Allerdings betont Offe auch in den damit befassten Arbeiten, dass sich deshalb „funktionale Analysen“ der objektiven Funktionen von Arbeitsmärkten und Sozialpolitik keineswegs erübrigen würden.

Die sechs Bände zeigen sehr viel mehr Brüche und perspektivische Umorientierungen, als das Generalvorwort erwarten lässt. Auch die Bandeinleitungen suggerieren eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit sozialwissenschaftlichen Denkens, die die einzelnen Beiträge zum Glück nicht haben. Aus der kategorialen Behauptung von systematischen, aus der kapitalistischen Produktionsweise resultierenden Strukturproblemen wird die „Erfahrung realer Strukturprobleme und Symptomen von ‘Unregierbarkeit’“, die jetzt allerdings auf das Konto einer staatlichen Politik geht, die sich „unfähig zeigt, selbst bescheidenen Ansprüchen an adäquates Krisenmanagement und effektives Regieren gerecht zu werden“ (Bd. 4: 376). Dieses Urteil findet sich in Offes „Notizen zur „politischen ‘Theorie’ des Populismus“, zuerst 2019 veröffentlicht. Sie zeigt nicht nur einen zurückhaltenden Gestus, was den Anspruch von „Theorie“ angeht, sondern offenbart auch ein Verständnis von staatlicher Politik, der nicht strukturbedingt Grenzen gesetzt sind und auch nicht irgendwie notwendig an gesellschaftlichen Widersprüchen scheitert, sondern eine den Problemen adäquates Regieren einleiten kann. Welche Bedingungen dafür notwendig sind, von der bürgergesellschaftlichen Kultur und ihren Habitusformen über die Strukturen der Verbände und Parteien bis zum Design von Verfassungen sind seit dem Ende der 1980er Jahre immer stärker in den Fokus seiner Aufmerksamkeit gerückt und haben auch sehr viel mehr empirische, auch historisch informierte Aufmerksamkeit erfahren als es in den früheren Arbeiten der Fall war. Auf dem Hintergrund der methodischen Festlegungen der früheren Studien überrascht dann auch die handlungstheoretisch fundierte Kritik des „Volks“ als Kollektivsubjekt mit einem einheitlichen Willen, wie es von Populisten konstruiert wird. Dagegen verweist Offe auf das empirische Faktum, „dass die meisten Bürger zu den meisten politischen Sach- und Streitfragen und zu den meisten Zeitpunkten ihre Interessen und Präferenzen gar nicht benennen können.“ Was Offe als Eigenart des „Volkswillens“ festhält, ist etwas, was sich nicht theoretisch fixieren oder aus Sozialstrukturen und Klassenverhältnissen ableiten lässt, sondern immer nur empirisch beobachten: Die Bürger „bilden Meinungen und Präferenzen und bekunden ihren Willen, wenn sie durch Ereignisse, mediale Berichterstattung, soziale Konflikte oder politische Wahlkämpfe gefragt oder herausgefordert werden“ (Bd. 4, 378). Genauso ist auch die Vorstellung des unvermittelten Wirkens „objektiver Verhältnisse“, Institutionen und „subjektloser“ aus dem sozialwissenschaftlichen Arsenal Offes verschwunden. Aus dem Arbeitsverhältnis wurden „wirtschaftliche Ereignisse und Entwicklungen [...], auf die sich politische Akteure in Parteien, Parlamenten und Regierungen beobachtend, reagierend und antizipierend kontinuierlich beziehen“ (Bd. 4: XIII). Also ebenfalls etwas, was sich nur über eine aufwändige empirische Rekonstruktion sozialwissenschaftlichen Fragen zugänglich zeigt. Obwohl Offe die berühmte Diagnose der „erschöpften Utopien“ von Habermas nicht anspricht, glaubt er, ausgehend von einem „anspruchsvollen Begriff des Bürgers“, den „bestandsfähigen Kern“ eines utopischen Denkens identifizieren zu können, das eine „transzendierende Dynamik“ freizusetzen in der Lage ist. „Transzendierendes“ sieht Offe nicht nur in der „Frontstellung gegenüber der Staatsgewalt, als deren aktive Urheber“ diese Bürger sich verstehen und handeln, sondern auch in der „Frontstellung gegenüber den Marktgewalten, deren struktureller Rücksichtslosigkeit Bürger im Sinne verantwortlicher und solidarischer Folgenberücksichtigung begegnen können“ (Bd. 3: 374). Was hier zum Ausdruck kommt ist eine ganz anders gelagerte Sozialwissenschaft als die fatalistische Sozialwissenschaft der „Strukturprobleme“ und der „Widersprüche“. Die Begrifflichkeiten dieser späteren Studien zeichnen sich durch eine sehr viel größere Anschlussfähigkeit an aktuelle politische Diskurse an und bieten deutlich mehr Orientierung in einer Welt, die dringend mehr von jener Übersicht braucht, die ihren Ausgangspunkt in der aufmerksamen Beobachtung, und nicht in den Dekreten einer weltflüchtigen „Theorie“ hat. Wir können uns glücklich schätzen, dass mit den sechs Bänden „Ausgewählte Schriften“ das Material geboten wird, über ein deutlich markiertes sozialwissenschaftliches Denken zu einem aufschlussreichen Wirklichkeitsverständnis zu kommen. Auch wenn wir zu dem Schluss kommen, dass mit bestimmten Denkweisen eher wenig anzufangen ist. Offe macht es uns mit diesen „Ausgewählten Schriften“ nicht leicht. Aber er führt uns vor, wie mühevoll die Konstruktion erkenntnisträchtiger sozialwissenschaftlicher Perspektiven ist, und wie leicht man dabei scheitern kann.

Literatur

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Offe, C., 2012. Rede anlässlich der Verleihung des Theodor-Eschenburg-Preises der DVPW, Politische Vierteljahresschrift 2012, 53, 601–606.10.5771/0032-3470-2012-4-601Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2021-11-24
Erschienen im Druck: 2021-11-18

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Beiträge zu Claus Offes Arbeitsmarktsoziologie
  6. Wohlfahrtsstaat und Legitimation – Wie denkt Offe über den Wohlfahrtsstaat?
  7. Felsenmelodie und Kontrapunkte. Die Ausgewählten Schriften von Claus Offe
  8. Themenessay
  9. Auf dem Weg zu einer digitalen Soziologie?
  10. Sammelbesprechungen
  11. Rechtsextremismusforschung im normativen Spannungsfeld
  12. Architektur und Gesellschaft
  13. Organisationen heute analysieren/heutige Organisationen analysieren?
  14. Doppelbesprechungen
  15. Das weite Feld der Kriegsforschung: Eindrücke aus Politikwissenschaft und Soziologie
  16. Bilanz der Biographieforschung
  17. Utopie und Apokalypse. Vom geplanten Mythos zu utopiefernen Zeiten
  18. Einzelbesprechungen
  19. Sybilla Tinapp, Eine fotografische Ethnografie zu Veränderungen im kubanischen Alltagsleben, Weinheim: Beltz Juventa 2019, 220 S., br., zahlr. Abb., 39,95 €
  20. Christian Fleck / Christian Dayé (Hrsg.), Meilensteine der Soziologie, Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2020, 678 S., gb., 29,95 €
  21. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Edition Suhrkamp 2019, 305 S., kt., 17,99 €
  22. Sammet, Kornelia / Erhard, Franz (Hrsg.), Sequenzanalyse praktisch. Weinheim: Beltz Juventa 2018, 479 S., br., 39,95 €
  23. Basil Wiesse, Situation und Affekt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2020. 162 S., br., 34,90 €
  24. G. Günter Voß, Der arbeitende Nutzer. Über den Rohstoff des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York: Campus 2020, 174 S., kt., 24,95 €
  25. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2021
  26. Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2021-0048/html
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