Reviewed Publication:
Hartmann Tyrell, „Religion“ in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014, LIII und 357 S., gb., 74,00 €
Mit Blick auf Max Webers 150. Geburtstag am 21. April 2014 hat der in Bielefeld lehrende Religionssoziologe Hartmann Tyrell nun einige seiner zahlreichen Weber-Studien zu einem Aufsatzband zusammengestellt, der seine ganz eigene Sicht von Webers Interesse an der „Kulturbedeutung“ von „Religion“ gut erkennen lässt. Der älteste Text, „Worum geht es in der ‚Protestantischen Ethik‘. Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers“, wurde 1990 veröffentlicht, der jüngste eigens für den Band als „Einleitung“ in „Max Webers Soziologie – Einige Anmerkungen zur Einführung“ geschrieben – diese „Anmerkungen“ umfassen vierzig Druckseiten (XIII–LIII). Neu ist auch das „Vorwort“ (IX–XI).
Tyrell hat seine älteren, zumeist in den 1990er Jahren „recht verstreut“ (X) veröffentlichten Texte nicht chronologisch geordnet, sondern in vier thematischen Kapiteln: „I. Werkgeschichtliches“, „II. Zum Religionsbegriff“, „III. Potenz und Depotenzierung“, „IV. Wertkollision und ,Sinn‘-Semantik“.
Unklar bleibt, warum der Autor seinen 2000 publizierten Text „,Das Gesellige in der Religion‘ – Soziologische Überlegungen im Anschluß an Schleiermachers ‚Vierte Rede‘“, also primär eine Deutung von Schleiermachers erstmals 1799 veröffentlichten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, in eine Sammlung seiner Weber-Studien aufgenommen hat; der zutreffende Hinweis darauf, dass Weber, der schon als Heidelberger Student die „Reden“ gemeinsam mit seinem Theologen-Vetter Otto Baumgarten gelesen hatte, aus Schleiermachers „Künstlern der Religion“ bzw. „Virtuosen der Religion“ seine „religiösen Virtuosen“ gemacht hat, reicht als Argument nicht aus. Auch die gelungene „Begriffsgeschichtliche Notiz“ über „Pessimismus“, erstmals 1992 im „Simmel-Newsletter“ publiziert, bietet mehr zu Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Jakob Burckhardt und Georg Simmel als zu Weber, der nur auf der letzten Seite des Textes Erwähnung findet. Es irritiert zudem, dass der Autor einige seiner Studien zu Webers Religionssoziologie, die er im Literaturverzeichnis selbst aufführt, nicht in den hier anzuzeigenden Band aufgenommen hat: etwa den 2011 veröffentlichten Text „Max Webers ,jüdisches Pariavolk‘ – Zur Ideengeschichte einer folgenreichen Begriffsbildung“ oder die Studie „Katholizismus und katholische Kirche“ aus dem von Hartmut Lehmann und J. M. Quedraogo 2003 herausgegebenen Tagungsband „Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive“.
Zum Entstehungszusammenhang seiner gelehrten Weber-Studien schreibt der Autor selbst: „Sie fallen in eine Zeit, in der das Interesse am historischen Kontext und an den Quellen der wissenschaftlichen Arbeit Webers durchaus geweckt war, in der man die Auseinandersetzung mit seinem Gedankengut aber noch als Forschung verstehen und die Arbeit an seinen Gegenständen noch als Weiterarbeit betreiben konnte. Die Aufsätze gehören sachlich eng zusammen, sie werden hier erstmals im Zusammenhang veröffentlicht und in kaum veränderter Gestalt. In ihnen kreuzen sich systematisch soziologische Intentionen mit Versuchen, Linien, die (wie im Entzauberungsfall) von Weber nur angedeutet sind, historisch-soziologisch stärker auszuziehen. Der Verfasser will nicht verhehlen, rückblickend den Eindruck zu haben, dass er gelegentlich den Mund etwas voll nimmt“ (X). Leider gibt er nicht zu erkennen, an welchen Stellen er die alten Texte überarbeitet und verändert hat. Auch sagt er nicht, wo genau er denn den Mund vielleicht zu „voll“ genommen hat. Auch fehlt – und dies ist ein großes Manko – ein Personenregister. So lassen sich seine Wahrnehmung prägender Zeitgenossen und Gesprächspartner Webers und seine kritische Auseinandersetzung mit den Arbeiten anderer Weber-Forscher nur sehr mühevoll nachvollziehen. Da sich in anderen Aufsatzbänden der Verlagsreihe „Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien“ sehr gut gearbeitete Personenregister finden, drängt sich die Frage auf, warum der Verlag im Falle Tyrells darauf meinte, verzichten zu können.
Tyrell kennt die Kontroversen in der Weber-Forschung gut. Mehrfach ergreift er Partei für Wilhelm Hennis‘ Versuche, das Thema „Lebensführung“ als das Gravitationszentrum in Webers weit verzweigtem und bekanntlich fragmentarischem Ouevre zu erweisen. Von Friedrich Tenbruck hat er, jedenfalls laut des einunddreißig Druckseiten umfassenden Literaturverzeichnisses (325–356), deutlich mehr gelesen, als von Rainer Lepsius. In der katholischen Theologie kennt er sich besser aus als in der protestantischen, obwohl er deutlich sieht, wie stark der Autor der „Protestantischen Ethik“ von einem, den innerprotestantischen Konfessionsvergleich vorantreibenden, klassischen Vermittlungstheologen wie Matthias Schneckenburger geprägt ist. Das entscheidende Buch Schneckenburgers, die 1855 von Eduard Güder aus dem Nachlass herausgegebene „Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs“, wird im Literaturverzeichnis aufgeführt, Albrecht Ritschls für Weber sehr wichtige „Geschichte des Pietismus“ aber nicht. Auch Georg Jellineks Studie zu den „Menschenrechten“ taucht in Tyrells Literaturverzeichnis nicht auf, obgleich sie, wie Tyrell selbst betont, für das methodische Konzept der „Protestantischen Ethik“ von elementarer Bedeutung ist.
Besonders stark interessieren Tyrell die Dramatisierung der Wertkonflikte bzw. Wertekollisionen, die für Weber kennzeichnend sind, und die „Sinn“-Semantik, die für Weber ungleich wichtiger ist, als in manchen relativ engen soziologischen Deutungsperspektiven erkannt werden kann. Die Kontexte, die Tyrell als für Weber besonders relevant und prägend entwirft, sind kenntnisreich erschlossen. Tyrell schreibt über „Max Weber im Verhältnis zu Tolstoi und Dostojewski“, betont aber auch thematische Linien von Autoren wie Schopenhauer und Nietzsche hin zu Weber. Oft dient Weber Tyrell nur als Anlass dazu, ein für Weber zentrales Konzept oder ein ihm elementar wichtiges Thema eigenständig und mit Gegenwartsbezügen zu entfalten – dafür steht etwa die 1999 veröffentlichte Studie „,Kampf der Götter‘ – ,Polytheismus der Werte‘: Variationen zu einem Thema von Max Weber“. Auch im 1997 publizierten Text „Die christliche Brüderlichkeit: Semantische Kontinuitäten und Diskontinuitäten“ wird ein wirklich umfassender, kundiger Überblick geboten über die Brüderlichkeitssemantik des Alten wie des Neuen Testamentes, bei den Kirchenvätern und im Mönchtum bis hin in die Neuzeit, mit nur einzelnen Bezügen auf Weber; hier irritiert allerdings, dass Tyrell beim Thema Sektenbildung von „der Troeltsch / Weberschen Typenbildung“ (264) spricht – obwohl die beiden Heidelberger Fachmenschenfreunde ja gerade in der Typenbildung bald je eigene Wege gingen. Seine wirklich große Belesenheit verführt Tyrell nicht selten dazu, die Kontexte, die er als für Weber (und deshalb auch die Weber-Deutung) relevant erachtet, allzu weit zu definieren.
Ein Wort noch zur Einleitung, die Tyrell eigens für den Sammelband geschrieben hat. Hier setzt er ein mit der „Annäherung: Max Weber und seine Jahrhunderte“. Ist Max Weber ein Denker des „langen“, „bürgerlichen“ 19. Jahrhunderts, der am Ende dieses Jahrhunderts starb? Oder gehört er mit seinen Fragen und Problemen, mit der prägnanten Härte seiner Kapitalismusanalyse und Gegenwartsdiagnostik eher ins 20. Jahrhundert? Der bekannte Weber-Forscher Dirk Kaesler hat in seiner katastrophal misslungenen umfangreichen Weber-Biographie im Jubiläumsjahr 2014 die, höflich formuliert, einfach nur gedankenlose These vertreten, dass Weber nur noch Vergangenheit sei, ein Mann der fernen Zeiten vor den großen Kriegen unseres Jahrhunderts, gewiss aber kein Zeitgenosse mehr.[1] Peter Ghosh, einer der besten Weber-Kenner der Gegenwart und der mit großem Abstand führende Deutungsexperte für die „Protestantische Ethik“,[2] hat dagegen zurecht betont: „So if the proposition ,Max Weber is not our contemporary‘ has any substantial meaning, if he ist truly detached from our present, then we should not have celebrated his anniversary at all. [...] But in fact such a thesis only has meaning as an extract from the official record of births and deaths, as a biological fact. Whether we consider the way in which the historical process actually works, which is also the way Weber conceived it, as a complex and slow-moving continuum; or the literal presence and volume of Weberian ideas on the page or screen in front of us today; or the more substantial ,inner‘ fact that when we read Weber, he persuades us that what he has to say is of utmost importance, so that we feel it is our verdammte Pflicht to engage in critical debate with him – then he is eminently our contemporary and very much alive.“[3]
Als Hartmann Tyrell in den 1990er Jahren seine Weber-Studien schrieb, konnte er von diesen im Jubiläumsjahr ausgetragenen Kontroversen um die Aktualität Max Webers noch nichts wissen. Aber seine Studien und erst recht die nun geschriebene „Einleitung“ lassen erkennen, dass er von der Gegenwartsrelevanz der religionsdiagnostischen und problemgeschichtlichen Analysen tief überzeugt ist. Die weiten diskursiven Kontexte, die er entwirft, erlauben es ihm, immer wieder Linien in aktuelle Debatten auszuziehen. Gerade in dieser unaufgeregten Aktualisierung von Webers Fragen und Begriffen liegt die besondere Relevanz seines Beitrags zum Jubiläum von Max Webers 150. Geburtstag.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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