Home Stefanie Hürtgen / Stephan Voswinkel, Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte. Berlin: Edition Sigma 2014, 391 S., br., 29,90 €
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Stefanie Hürtgen / Stephan Voswinkel, Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte. Berlin: Edition Sigma 2014, 391 S., br., 29,90 €

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Published/Copyright: January 11, 2017
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Stefanie Hürtgen / Stephan Voswinkel, Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte. Berlin: Edition Sigma 2014, 391 S., br., 29,90 €


Nichtnormale Normalität – ein Blick in das Subjekt als Labor seiner Ansprüche

Der Titel verweist auf einen Widerspruch. Und diese Rezension versucht etwas ebenso Widersprüchliches – die Zusammenfassung eines Buches, das man kaum zusammenfassen kann. Warum dies so ist, kläre ich im zweiten Schritt, zunächst aber genau dies: Der Versuch einer Zusammenfassung.

Eine nicht-zusammenfassende Zusammenfassung

Einleitend konstatiert das Buch: Subjekte sähen sich mit widersprüchlichen Anpassungs- und Aktivierungserwartungen konfrontiert (13–14). Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die fast 400 Seiten starke Studie bewusst nicht auf die prekären Ränder, sondern auf die „Arbeitnehmermitte“ oder die sogenannten „NormalarbeitnehmerInnen“, also unbefristet und relativ sicher Beschäftigte mittleren Alters und mittlerer Qualifikation (15–16). Ziel der qualitativen Studie ist es herauszufinden, welche Ansprüche diese Mitte in Bezug auf ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse entwickelt.

Die zwei zentralen Befunde werden in der Einleitung auf den Punkt gebracht: Erstens zeigen die Befragten sich weder als rein „marktgetriebene [...] Subjekte“ noch als rückwärtsgewandte „Traditionalisten“, sondern sie entwickeln „arbeitsbezogene Anspruchslogiken und – damit zusammenhängend – Normalitätsvorstellungen in Richtung einer sozialen, (mit-)menschlichen und leistungsgerechten wie auch -verantwortlichen Arbeitswelt, zu der sie sich als zugehörig ansehen (wollen)“ (18–19). Zweitens lässt sich eine Verunsicherung der Mitte konstatieren, und zwar in Bezug auf die Basis der eigenen Ansprüche. Unsicher sei zunehmend, ob deren zugrundeliegende Normen und Werte noch als in der Gesellschaft allgemein gültige angenommen werden können. Unsicher sei die Mitte also in Bezug auf „die gesellschaftliche Gültigkeit normativer Normalitätsvorstellungen“ oder die „Allgemeinverbindlichkeit dessen, was als normal angesehen wird“ (20). Methodisch wird der gesamte Lebenszusammenhang qualitativ und mit prospektiv-biographischen Interviews von 42 interviewten Personen erfasst und nicht nur ausgewertet, sondern zur Entwicklung theoretischer Konzepte benützt (22).

Die Studie gliedert sich in sieben Kapitel und einen über 15-seitigen Anhang zu den Ansprüchen prekär Beschäftigter. Kapitel 1 führt in die Debatte ein, skizziert Absicht, Methode und zentrale Ergebnisse der Studie und gibt einen Überblick zum Aufbau (13–22). Das kurze Fazit in Kapitel 7 greift noch mal alle Fäden auf, führt sie zusammen und diskutiert die Gefahr einer Privatisierung von Ansprüchen (349–347).

Aus dieser biografischen Perspektive legt das zweite Kapitel (23–50) die „konzeptuellen Schneisen“, widmet sich also den theoretischen Grundlagen. Dabei werden Identität und Lebensorientierung (23–31) jeweils als Selbstkonstitution gefasst. Besonders zentral ist der Begriff der Selbstauffassung, verstanden als Selbstkonstitution und in Bezug auf das „In-der-(Arbeits)-Welt-Sein“ (31–40) und differenziert nach Selbstauffassungen als Lebenskraft, als Mensch und als Sozialwesen. Zwei weitere Theoriekapitel befassen sich mit dem zentralsten Begriff der Studie: Ansprüche werden im Unterschied zu Wünschen eingebettet in Fragen der Normativität, Legitimität und damit verbundene Relationierungen und Kontextualisierungen (40–50). Besonders bedeutsam ist den AutorInnen dabei erstens, dass Ansprüche Anliegen sind, „die von denen, die sie hegen, als normativ legitimiert angesehen werden“ (41). Zweitens zeichnen sie empirisch nach, wie Ansprüche sich als Subjektleistung entwickeln, und zwar im Zusammenhang mit den Lebensorientierungen und den [drei] Selbstauffassungen“ (50).

Nach der kurzen Darstellung von Anlage und Methode sowie des Samplings im dritten Kapitel (51–56), folgen gehaltvolle Kapitel zu den empirischen Ergebnissen, deren Detailtiefe und Ausführlichkeit hier zusammenfassend nicht annährend gewürdigt werden können.

Kapitel 4 (57–158) zeigt, wie der Umgang mit den Ansprüchen an Arbeit und damit deren „Gewichtung, Verschiebung, Priorisierung“ in hohem Maße von den Lebensorientierungen abhängen. Die dazu vorgestellte Typenbildung bezieht sich „nicht auf die Ansprüche selbst, sondern auf den Umgang mit ihnen“ (57) und extrahiert mehr als fünf Typen solcher Lebensorientierungen, teils mit Untertypen: Durchkommen im Leben; Aufstieg und Prestige; Selbstentwicklung und Balance im Leben; das Leben absichern; menschlich muss es stimmen. Diese Typen werden nicht im Sinne Weberscher Ideal-, sondern als empirisch gewonnene Realtypen (58) vorgestellt. Dimensionen sind dabei innere Souveränität (Agency), die Legitimation von Ansprüchen und Selbstauffassungen sowie die Bedeutung von Sicherheit (59–60).

In Kapitel 5 (159–296) stehen die Ansprüche in einer normativen Arbeitswelt im Fokus, verbunden mit zugrundeliegenden Selbstauffassungen und Legitimationsmustern. Die zentrale Frage, die hier an dichte Empirie gerichtet ist: „Wie kommen die Beschäftigten überhaupt dazu, Ansprüche zu stellen, also etwas von ihrer sozialen Umwelt zu erwarten? Und darüber hinaus: was befähigt sie dazu?“ (159). Verfolgt wird dabei keine zweite Typenbildung, sondern eine Darstellung entlang verschiedener Betrachtungsebenen. Zunächst werden die Interviewten als Träger von Ansprüchen gezeichnet (163–170), diese im Lichte von grundlegenden Normalitätsvorstellungen und Legitimationen verortet (163–170), um sie schließlich auch im Hinblick auf Anspruchsadressaten (kleine und große Unternehmen) zu unterscheiden – wobei letztere als Maßstab für Normalitätsvorstellungen fungieren (170–277). Dieser zweite empirische Schritt macht das rund 100-seitige Kapitel 5.2 empirisch dicht und analytisch stark aufgefächert. Diese Fülle ist hier nicht annähernd wiederzugeben, sondern ich kann nur schlicht festhalten: Formulierte normative Ansprüche „beziehen [...] sich auf grundlegende Auffassungen von sich als Leistungskraft, menschliches Wesen und Sozialwesen“ und entwickeln damit Legitimationsmuster (etwa „das Leistungsprinzip, die Menschenrechte, die Selbstsorge und die Vielfalt gesellschaftlicher Existenz“) (169).

Während die empirischen Kapitel 4 und 5 sich auf die Prozesse innerhalb der Subjekte konzentrieren, stellt das sechste Kapitel (297–348) stärker den Bezug zur wahrgenommenen Umwelt mit einem Schwerpunkt auf den Kontext der Finanzkrise her. Dabei zeigt sich, dass die Interviewten ihre „Normaliät“ als eine Sondersituation in einer prekärer werdenden Umwelt wahrnehmen. Ihre normativ legitimierten Ansprüche reiben sich an der Einschätzung, dass diese Normativität selbst alles andere als eine noch sichere Normalität darstellt. Auch dieses Kapitel erscheint angesichts seiner Differenziertheit und Länge hier nur sträflich verkürzt: Einerseits schlussfolgern die AutorInnen, dass die untersuchte Mitte „in erheblichem Maße“ Ansprüche an ihre Arbeit aufrechterhält und die häufig zu findende „These der verunsicherten und verängstigten Mitte“ nicht aufrecht zu erhalten sei (297). Die „NormalarbeitnehmerInnen“ seien sich ihrer Sondersituation aber bewusst (ebd.).

Kapitel 7 resümiert, die Studie habe gezeigt, dass sich der Umgang mit Ansprüchen nicht nur aus der Arbeitswelt, sondern auch aus übergreifenden Lebensorientierungen speise und keine generelle Reduzierung von Ansprüchen festzustellen sei (349–351). Die empirisch destillierte Verunsicherung beziehe sich weniger auf die direkte Bedrohung des eigenen sozialen Abstiegs, sondern vor allem auf die erodierende Gewissheit, „in welcher normativen Ordnung wir eigentlich leben (359).“

Im besten Sinne: Ein nicht-normales Buch

Das Buch ist eine Zumutung – im besten Sinne! Es zeigt, wie qualitative Forschung zu elaborierter Theorieentwicklung beitragen und ein konsequentes Bekenntnis zum verstehenden Paradigma eine kritisch-analytische Perspektive ermöglichen kann. Es ist ein wichtiges Buch, denn es gibt Einblicke in die Subjektperspektive derer, denen es eigentlich (noch) gut geht. Die aber schon spüren und artikulieren, dass das, was sie als ihnen legitimerweise zustehend betrachten, zunehmend an gesellschaftlichem Legitimationsboden verliert. Wie unterschiedlich die nachgezeichneten Lebensorientierungen und Biografien auch sind, so konsistent scheint das sich durch alle(s) durchziehende Grundgefühl: Ein Buch daher mit zeitdiagnostischer Sprengkraft.

Ob jede empirische Verästelung nachvollziehbar gemacht werden muss? Ob jede Ineinander-Verschachtelung der vorgestellten Theoriekonzepte der Erkenntnisabsicht zuträglich ist? Darüber ließe sich streiten. Ein gutes Buch muss nicht alles wiedergeben, was die Empirie hergibt oder was man sich an Forschungsstand erarbeitet hat. Sondern zuspitzen und sinnvoll – d. h. an einem Erkenntnisneu- oder Mehrwert orientiert – auswählen und auch mal weglassen. Das hätte gut getan! Ein unschätzbarer Gewinn für die soziologische und gesellschaftliche Debatte wären auf Basis dieser ausführlichen Studie daher zugespitzte und pointierte Artikel.

Das Buch fordert. Es kommt nicht leichtfüßig daher und lässt nicht locker. Es erschlägt manchmal mit Detailtiefe. Diese Schwächen werden zu Stärken, wenn man sich auf das Buch einlässt und in die Tiefe liest, anstatt nur Einleitung sowie Fazit zu scannen, um schnell Zitierfähiges zu extrahieren. Dann zeigt sich, dass das Buch trotz der abschreckenden Fülle gut lesbar, sinnvoll strukturiert, stringent argumentiert, „handwerklich“ hervorragend gemacht und intellektuell inspirierend ist. Es ist ein Buch, das ich allen so genannten Bindestrich-Soziologien ans Herz legen möchte. Als Beitrag zur Zeitdiagnose ist es zu wichtig, als dass es unbemerkt zwischen die Stühle der Biografieforschung und der Arbeitssoziologie rutscht.

Weitere Spurensuche

Die AutorInnen beschreiben, wie Ansprüche nicht einfach als Folge der eigenen Arbeitssituation, sondern auch als Ausdruck komplexer Lebensorientierungen und Selbstauffassungen auf der Subjektebene entstehen. Der Blick des Buches ebenso wie die Perspektive der in ihm zu Wort kommenden zeigt, wie sehr dies Spiegel globaler und sehr realer Entwicklungen ist: Das Erodieren des vermeintlichen Normalarbeitsverhältnisses ist für Deutschland eine (noch) relativ neue Erfahrung, die in den USA seit Jahrzehnten zu beobachten ist (aktuell dazu PEW, 2016). Nirgendwo sind die ganz realen, gesellschaftlichen und individuellen Folgen des Verschwindens der Mitte eindrücklicher und einfühlsamer beschrieben, als in Packers „Unwinding“ (2013). Auch für Deutschland zeichnet sich der längerfristige Trend längst ab, dass trotz eines generellen Upgradings von Qualifikationen ein Schwinden der Mitte zu beobachten ist (etwa Oesch / Menés, 2011). Alle drei Studien werden nicht im rezensierten Buch besprochen, sondern als ergänzende Lektüre empfohlen.

Literatur

Oesch, D.; Menés, J. R. Upgrading or polarization? Occupational change in Britain, Germany, Spain and Switzerland, 1990–2008. Socio-Economic Review 2011, 9, 503–531.10.1093/ser/mwq029Search in Google Scholar

Packer, G. The Unwinding. Thirty Years of American Decline; Faber & Faber: London, 2013.Search in Google Scholar

PEW. America’s Shrinking Middle Class: A Close Look at Changes Within Metropolitan Areas. Pew Research Center. http://www.pewsocialtrends.org/files/2016/05/Middle-Class-Metro-Areas-FINAL.pdf (Zugriff Jul 03, 2016).Search in Google Scholar

Published Online: 2017-1-11
Published in Print: 2017-1-1

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Editorial
  5. Symposium
  6. Ethnisierung der Ungleichheit – und ihrer Erklärung
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  16. Über die Macht der Polizei und das Konstruieren von Sicherheit
  17. „Es ist alles schon einmal dagewesen.“ Die deutsche Kultursoziologie zwischen Vergangenheit und Zukunft
  18. Einzelbesprechung
  19. Veronika Wittmann, Weltgesellschaft. Rekonstruktion eines wissenschaftlichen Diskurses. Baden-Baden: Nomos 2014, 371 S., br., 69,00 €
  20. Saskia Sassen, Expulsions. Brutality and Complexity in the Global Economy. Harvard: Harvard University Press 2014, 298 S., gb., 24,95 €
  21. Stefanie Hürtgen / Stephan Voswinkel, Nichtnormale Normalität? Anspruchslogiken aus der Arbeitnehmermitte. Berlin: Edition Sigma 2014, 391 S., br., 29,90 €
  22. Hartmann Tyrell, „Religion“ in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014, LIII und 357 S., gb., 74,00 €
  23. Patricia Bromley / John W. Meyer, Hyper-Organization. Global Organizational Expansion. Oxford: Oxford University Press 2015, 225 S., kt., 26.00 €
  24. Linda Supik, Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität. Frankfurt am Main/New York: Campus 2014, 411 S., kt., 39,90 €
  25. Claus Offe, Europa in der Falle. Berlin: Suhrkamp 2016, 189 S., kt., 16,00 €
  26. Annette Treibel, Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland. Frankfurt a. M.: Campus 2015, 208 S., kt., 19,90 €
  27. Norman Braun / Nicole J. Saam (Hrsg.): Handbuch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Springer VS 2015, 1079 S., gb., 89,99 €
  28. Margaret S. Archer (Ed.), Generative Mechanisms Transforming the Social Order. Charm u.a.: Springer International Publishing 2015, 248 S., gb., 106,99 €
  29. Smail Rapic (Hrsg.), Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg / München: Karl Alber Verlag 2014, 440 S., br., 29,00 €
  30. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2017
  31. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 18.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2017-0013/html
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