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Wie Psalmen wirken – Erfahrungen von pflegenden Angehörigen und kirchlich Freiwilligen

  • Alexander Bischoff

    Dr. phil., Jahrgang 1956, von Beruf Pflege- und Public Health-Experte, war zuletzt tätig als Dekan für Forschung und Entwicklung an der Hochschule für Gesundheit Fribourg und als Titularprofessor an der Universität Genf (Institut de santé globale). Er ist Mitglied der Communität Don Camillo.

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    , Stefanie Koch

    Jahrgang 1982, ev. Theologin und Germanistin, seit 2017 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Liturgik und Homiletik an der Universität Zürich (Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät). Von 2017–2020 Forschungsassistentin für angewandte Forschung und Entwicklung an der Hochschule für Gesundheit Fribourg. Sie leitet das Netzwerk Sorgende Gemeinde an der UZH.

    and Ralph Kunz

    Prof. Dr. theol., Jahrgang 1964, reformierter Pfarrer, seit 2004 tätig als Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Liturgik und Homiletik an der Universität Zürich (Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät). Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe für Religionsgerontologie am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich.

Published/Copyright: March 27, 2025
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Zusammenfassung

In diesem Beitrag geht es um die Bedeutung von Psalmen und ihre Anwendung im Kontext von Spiritual Care auf Gemeinde-Ebene. Der Einsatz von Psalmen war integraler Bestandteil einer Schulung und Intervention für pflegende Angehörige und kirchliche Freiwillige. Die Erlebnisse mit dem Rezitieren, Lesen, Vorlesen, persönlichen Meditieren, Diskutieren, Singen und der gottesdienstlichen Verwendung von Psalmen lassen sich in vier Dimensionen aufteilen, in denen die Verwendung von Psalmen als hilfreich und stärkend empfunden wurde: (1) einer persönlichen, (2) einer mitmenschlichen, (3) einer Dimension von Agency (Aktivwerden) und (4) einer „göttlichen“ Dimension. Die Verwendung von Psalmen scheint einen persönlichkeits- und resilienzstärkenden Effekt zu haben. Außerdem hat sich Spiritual Self-Care in unserer Studie als zentrales Mittel herauskristallisiert, anhand dessen pflegende Angehörige und Freiwillige dank der Psalmen in ihrem Leben neue Ressourcen entdecken konnten.

Abstract

This article is about the importance of psalms and their use in the context of spiritual care at a community level. The use of psalms was an integral part of a training and intervention for carers and church volunteers. The experiences of reciting, reading, reading aloud, personal meditation, discussion, singing and worshipful use of Psalms can be divided into four dimensions in which the use of Psalms was found to be helpful and empowering: (1) personal (2) and community, (3) dimension of agency (becoming active) and (4) “divine” dimension. The use of psalms appears to have a personality- and resilience-strengthening effect. In addition, spiritual self-care emerged in our study as a central means by which carers and volunteers were able to discover new resources in their lives thanks to the psalms.

Schlüsselwörter: Psalmen; Spiritual Care; Selbstsorge

Hintergrund

Das Buch der Psalmen ist eine Sammlung von hundertfünfzig poetischen Texten in Form von Gebeten, Liedern, Klagen und ethischen Verhaltensanweisungen. Es ist eines der Weisheitsbücher des Judentums. In den christlichen Kirchen ist es zum Gebetsbuch schlechthin oder besser noch zu einer Einführung ins Beten geworden. Es ist lange Zeit vor unserer Zeitrechnung entstanden (2.–6. Jh. v. Chr.) und wurde über Jahrhunderte hinweg überarbeitet. In den Psalmen werden existenzielle Erfahrungen beschrieben, in denen sich auch heute noch jede/-r Einzelne wiederfinden kann. Dadurch geben sie Trost, Hoffnung und Lebensweisung – und sind aufgrund dessen auch heute noch relevant. Psalmen bieten seit jeher, was Spiritual Care verspricht: Begleitung von Menschen in ihren spirituellen und religiösen Bedürfnissen; insbesondere in Krankheits- und Krisenzeiten sowie am Lebensende, wenn die Suche nach Lebenssinn und Lebensdeutung existenziell ist.

Für den Kontext von Spiritual Care ist die Unterscheidung von Walter Brueggemann in „Spirituality of the Psalms“ (Brueggemann 2002) bedeutsam. Er unterscheidet drei Phasen (er schreibt seasons, Jahreszeiten), die in den Psalmen zum Ausdruck kommen: orientation, disorientation, new orientation. Orientation ist eine ruhige stabile Phase, wenn „alles gut läuft“ und Psalmen der Dankbarkeit leicht über die Lippen kommen. Psalm 104 ist ein Beispiel für diese Phase: „Sie alle warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit. Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein; öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem.“ Orientation kann umschlagen in eine Zeit der Orientierungslosigkeit: Menschen sind Verunsicherung ausgesetzt sowie Verletzung, Entfremdung, Verlust und Leiden. Viele Psalmen beschreiben diesen Zustand von disorientation; als Beispiel soll ein Ausschnitt aus Psalm 88 dienen: „Herr, du Gott meines Heils, zu dir schreie ich am Tag und bei Nacht. Lass mein Gebet zu dir dringen, wende dein Ohr meinem Flehen zu! Schon zähle ich zu denen, die hinabsinken ins Grab, ich bin wie ein Mann, dem alle Kraft genommen ist. Du hast mich ins tiefste Grab gebracht, tief hinab in finstere Nacht.“ Schließlich können Menschen wieder Boden unter den Füßen finden und sich neu orientieren. Auch diese dritte Phase – new orientation – wird in vielen Psalmen poetisch ausgedrückt, wie zum Beispiel in Psalm 73: „Ich aber – fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe wäre ich gefallen. Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Ich aber – Gott nahe zu sein ist mein Glück.“

Man kann Psalmen lesen, vorlesen, hören, meditieren, beten, memorieren, singen, diskutieren und findet darin das Zeugnis von Menschen, die sich vergewissern, ihre Not beklagen und sich wieder aufrappeln. Entsprechend können Psalmen im Spiritual Care-Bereich in vielfacher Weise Anwendung finden. Zum Beispiel:

Revheim und Greenberg beschreiben ihre Erfahrungen mit Menschen mit psychischen Behinderungen in einem Reha-Programm und erklären Folgendes: Das Lesen ausgewählter Psalmen in der Gruppe, gefolgt von persönlichem Austausch, macht bewusst, dass es etwas Universelles ist, Konflikte und Kämpfe im täglichen Leben zu erleben. Die Konzentration auf Elemente des Glaubens lenkt die Aufmerksamkeit auf Ressourcen, die während dieser Schwierigkeiten Kraft und Ausdauer geben (Revheim & Greenberg 2007).

Owens zeigt, wie Psalmen in der Psychotherapie verwendet werden können. Die Psalmen werden in einem historischen Kontext untersucht und ihre Struktur und ihr Inhalt werden auf ihre Anwendbarkeit in zeitgenössischen Kontexten geprüft. Auf Grundlage dieser phänomenologischen Studie wurden Vorschläge im Hinblick auf eine Therapie der Worte entwickelt. Die Studie bietet eine Theorie für die Verwendung von Sprache in therapeutischen Kontexten, die Identifizierung von Archetypen in den Psalmen und ein Verfahren zur heuristischen Erkundung von Texten für den therapeutischen Gebrauch (Owens 2005).

Eine kürzlich erschienene quantitative Studie wertet eine „meditative Psalmen-Intervention“ aus, indem sie Auswirkungen von Psalmen vor und nach ihrer Anwendung untersucht und die Ergebnisse der Interventionsgruppe mit einer Kontrollgruppe vergleicht. Sie untersucht insbesondere die positiven Auswirkungen von Psalmen auf Hoffnung, „flow“ und Wohlbefinden. In der Interventionsgruppe wurden im Gegensatz zur Kontrollgruppe signifikante Verbesserungen in Bezug auf Hoffnung und Wohlbefinden festgestellt; Verbesserungen, die in den vier Bereichen Perspektiven, Beziehungen, persönliche Werte und Emotionen messbar waren. Die Autoren sehen in den Ergebnissen ihre Annahme bestätigt, dass die Psalmen-Meditation als „kulturell sensible und persönlich relevante hoffnungsfördernde Intervention“ eine Wirkung erzielt. Die explorative Studie belegt „the beneficial effects of meditative psalm reading on hope, flow, and well-being integrating the benefits of Christian meditation with the powerfully poetic and positive psychological content of the psalms“ (Button & De Pretto 2023: 200).

In diesem Beitrag geht es um die Bedeutung von Psalmen und ihre Anwendung im Kontext von Spiritual Care auf Gemeinde-Ebene. Der Einsatz der Psalmen war integraler Bestandteil einer Schulung und Intervention für pflegende Angehörige und kirchliche Freiwillige.

Methoden

Das Projekt „Kirchliche Freiwillige in der Gemeindepflege: Entlastungsangebot für pflegende Angehörige“ (kurz KiPA: Kirchliche Freiwillige und Pflegende Angehörige) hatte zum Ziel, kirchliche Freiwillige in die Community Care zu integrieren, pflegende Angehörige zu entlasten und deren Resilienz zu stärken. KiPA wurde als Schulungs- und Forschungsprojekt aufgegleist und in zwei Kirchgemeinden im Schweizer Mittelland durchgeführt (Bischoff et al. 2021).

Zu den beiden Personengruppen, die für die Durchführung der Studie gesucht wurden, zählen zum einen pflegende Angehörige. Hierunter werden all jene Angehörigen verstanden, die regelmäßig (einmal bis mehrmals wöchentlich) Aktivitäten des täglichen Lebens für ihre erkrankten, behinderten oder hochbetagten Angehörigen übernehmen – unabhängig davon, ob diese im gleichen Haushalt leben oder nicht. Alle pflegenden Angehörigen der Projektgemeinde, die Interesse am Projekt bekundeten, konnten sowohl am Training als auch an weiteren Komponenten des Projekts teilnehmen, unabhängig von der Erkrankung der zu betreuenden Person und der Betreuungsintensität. Zum anderen wurden kirchlich Freiwillige rekrutiert. Hierunter werden Personen verstanden, die ohne Anstellung auf freiwilliger/ehrenamtlicher Basis gemeinnützige Dienste innerhalb der Kirchgemeinde übernehmen. Im Rahmen des Projekts begleiteten die Freiwilligen chronisch Kranke, Pflegebedürftige oder die Angehörigen selbst. Das Engagement dieser Freiwilligen ist sowohl Ausdruck ihres Interesses am Gegenüber als auch ihrer Verbundenheit mit der Kirchgemeinde. Sie sind motiviert, sich mit spirituellen Themen auseinanderzusetzen und sich auch weiterhin für den Besuchsdienst einzusetzen oder sich für diesen neu gewinnen zu lassen. Die Schwelle, als Freiwillige am Training teilzunehmen, wurde bewusst niedrig gehalten und an keine Vorbedingungen geknüpft.

Die Teilnehmenden (TN), d. h. sowohl pflegende Angehörige wie auch kirchliche Freiwillige, wurden vor und nach der Schulung (die sich über ca. vier Monate erstreckte), interviewt. In den Interviews ging es in erster Linie um Belastungen der pflegenden Angehörigen – physische, psychische, soziale, spirituelle – sowie um mögliche Entlastungsmöglichkeiten, ebenfalls in den vier Bereichen des Physischen, des Psychischen, des Sozialen und des Spirituellen.

Die Interviews wurden alle aufgenommen, transkribiert und anonymisiert und für die elektronische Datenanalyse aufbereitet. Das Datenkorpus umfasst 91 Gespräche mit insgesamt 61 Personen. Nicht allen Personen, die sich für ein Anfangsgespräch bereit erklärt hatten, war es möglich, auch an der nachfolgenden Schulung teilzunehmen: in der einen Gemeinde nahmen 25 Frauen und 6 Männer teil, in der anderen 27 Frauen und 3 Männer.

Das Durchschnittalter der TN betrug 68,5 Jahre in der einen und 65,1 Jahre in der anderen Gemeinde. Der Altersunterschied resultiert daraus, dass sich in der ersten Gemeinde vor allem Menschen für die Schulung gemeldet hatten, die sich um hochaltrige Pflegebedürftige kümmerten, während es sich in der zweiten vermehrt um Betreuende von pflegebedürftigen Kindern handelte. Die Zitate werden mit zwei Zahlen gekennzeichnet: die erste gibt die fortlaufende Nummerierung der Interviews an, die zweite die Zeilenreferenz.

Um der Frage nach der Wirkung von Psalmen im Zusammenhang mit Spiritual Care im Rahmen der vorliegenden Studie nachzugehen, wurden alle Interviews untersucht, in denen Psalmen thematisiert wurden. Dies wurde nach den Prinzipien der strukturierten Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (2010) durchgeführt. Die Kategorienbildung wurde nach Bradley et al. (2007) vorgenommen.

Resultate

Die Teilnehmenden der Schulung des Entlastungsangebotes für pflegende Angehörige in den zwei Kirchgemeinden äußerten sich differenziert über die Verwendung von Psalmen in ihrer Tätigkeit.

Die Erlebnisse mit dem Rezitieren, Lesen, Vorlesen, persönlichen Meditieren, Diskutieren, Singen und der gottesdienstlichen Verwendung von Psalmen lassen sich in vier Dimensionen aufteilen, in denen die Verwendung von Psalmen als hilfreich und stärkend empfunden wurde.

I

Die Beschäftigung mit Psalmen hat die Teilnehmenden zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst geführt. In dieser persönlichen Dimension konnten verstärkte Selbstreflexion und Selbstsorge festgestellt werden. Zum Beispiel in folgendem Interviewausschnitt:

Also das ist so: Ich hadere nicht mit Gott oder mit dem Schicksal. Das ist jetzt einfach [so]. Und das nehme ich an. Und die Psalmen, die haben mir jetzt auch geholfen. Das ist so eine Hilfe. Und von daher war es auch gut, dass Sie diese Psalmen in den Besprechungen haben. Es hat keinen Sinn zu hadern, warum und weshalb und wir haben doch immer das Rechte getan und gelebt und so. (44.94)

Dass dieser Person die Psalmen so geholfen haben, kommt nicht von ungefähr, schließlich ist ein großer Teil der 150 Psalmen von Klage und persönlichem Ringen geprägt. Interessant ist, dass dieses Wissen zu weniger Hadern im eigenen Leben führen kann.

Eine andere Teilnehmerin bringt den Anwendungscharakter von Psalmen für Selbsterkenntnis schön zum Ausdruck:

Ich finde es immer spannend, wenn ich etwas wie gerade anwenden kann. […] Das hat so etwas mit den Psalmen angefangen […]. Ich habe ja auch schon Psalmen gelesen und dann …, ich habe mir zum Beispiel auch vorgenommen, ich werde jetzt mal den ganzen Psalter, einfach mal für mich durchlesen. Also ich bin noch längstens … Ich bin noch am Anfang, aber trotzdem. (90.49)

„Selbstsorge ist die Fähigkeit von Personen und Gemeinden zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit mit oder ohne Unterstützung von Gesundheitsdienstleistern. Der Mensch übernimmt Verantwortung und sorgt sich sowohl um sich selbst als auch um andere“ (Bischoff et al. 2021). Der folgende Interviewausschnitt eines Teilnehmers, der eine Krebsdiagnose und Behandlung verkraften musste, illustriert eine solche Selbstsorge:

Ich war aus einer einfachen Familie: Handwerker und so, die nicht große Ansprüche hatte. Ich wurde irgendwie einfach von allen Leuten immer als der Gescheiteste angesehen – auch in der Schule und noch heute, von den Großkindern und allen – aber ich bin es nicht mehr. […] Und dann habe ich natürlich diese Psalmen auch gelesen als Schüler – wir mussten die auch auswendig lernen am Gymnasium. Und dann habe ich auch ein paar [gelernt; unter anderem Psalm 23]: ‚und ob ich schon wanderte im finsteren Tal‘, das ist einer, der mich auch in den wichtigsten Momenten ganz fest gestützt hat […]. Ich hatte also Tumorleiden etc. Und als es mir jeweils schlecht ging, habe ich diese sagen können. (36.91)

Ähnlich äußert sich eine andere Teilnehmerin, wenn sie von Psalm-Therapie im Sinne von Selbstsorge spricht: „Ah, da ist noch etwas, das ich vergessen habe: die Psalter-Therapie habe ich super gefunden. […] Das ist etwas, das mir sehr gutgetan hatte, und wo ich auch mitverwende.“ (39.133)

Auf der persönlichen Ebene ist auch die kritische Auseinandersetzung mit Psalmen zu nennen:

Psalmen sind für mich sehr oft streng – so alttestamentarisch (lacht). […] Das hat mir zuerst am Anfang ein wenig [Mühe gemacht] und nachher bin ich nach Hause gegangen und nachher habe ich durch diese Psalmen gelesen. […]; ich bin irgendwie wie ein wenig überfahren gewesen. […] Dass Psalmen helfen würden! Einfach diese Psalmen, dass man mit denen die Leute begleiten würde! […] Dass man mit den Psalmen sicher die Leute gut begleiten könnte! (37.34–36)

Das Zitat zeigt, dass die persönliche Dimension der Selbstsorge sich vermischen kann mit der mitmenschlichen: Man kann dank dem, was man mit Psalmen erlebt hat, auch anderen helfen und sie begleiten, im Sinne von Spiritual Care.

Schließlich fand eine Teilnehmerin, dass sie auf einer persönlichen Ebene lernen konnte, was ganzheitliche Herangehensweise bedeutet: „Ihr seid das sehr ganzheitlich angegangen vom einerseits sehr Gesundheitspflegeorientierten zum eher Theologischen oder jetzt auch mit diesen Psalmen destillieren.“ (82.111)

Zwischenfazit

Die Verwendung von Psalmen hat als Erstes eine persönliche Dimension; diese kann Selbsterkenntnis, Selbstreflexion und Selbstsorge verstärken. Die Stärkung dieser persönlichen Kompetenzen ist besonders gefragt in Situationen von Not, Krankheit oder in einer Lebenskrise.

II

Eine zweite Dimension betrifft die mitmenschliche Ebene. Psalmen sind ein beliebtes Gesprächsthema, nicht zuletzt, weil vielen vor allem älteren TN etliche der „klassischen“ Psalmen bekannt sind. Sie sind Psalmen in persönlichen Notsituationen oder im kirchlichen Kontext begegnet. Psalmen erlauben es, persönlich von Erfahrungen zu sprechen, ohne sich selbst bloßzustellen. Psalmen erscheinen als eine Art lingua franca in der religiösen Kommunikation. Im mitmenschlichen Bereich ist es zudem ein enormes Plus der Psalmen, dass es nie nur eine einzig gültige Auslegung (oder Übersetzung) derselben gibt. Überhaupt scheint die Anwendung von Psalmen die Kommunikationsfähigkeit zu verstärken. Ein Teilnehmer berichtet:

Es war höchst interessant, die Menschen kennenzulernen und ich habe mich jedes Mal unheimlich gefreut, wenn die Schulung anstand. Und bin jetzt ein wenig traurig, dass es schon fertig ist, weil ich muss sagen, das ist wirklich über meinen Erwartungen. (47.25–29) Mit der Kommunikation, da habe ich geschäftlich schon damit zu tun, aber die anderen Themen, ja die Psalmen natürlich, […] einfach ganz eine andere Dimension. (47.45)

Eine weitere Teilnehmerin drückte es so aus:

Am Anfang haben wir Psalmen durchgenommen, das wunderbare Psalmenbuch da. Psalmen destilliert. Geistliche Lieder, geistlicher Austausch ist sehr gut, da kann auch die Mutter [an Demenz erkrankte Angehörige] sich beteiligen. Das ist etwas, das uns sehr interessiert. Psalmen, weil das so die einfachen Sätze destilliert – das ist dann für ihn so gut. Nicht ein riesiger langer Satz, sondern ein Satz und das war sehr gut. Wir haben Psalmen und so durchgenommen und dann das nächste Mal einen Spaziergang gemacht, an einem wunderschönen Spätherbst-Nachmittag. (43.43)

Diese mitmenschliche Dimension der Psalmen scheint also nicht nur die Kommunikationsfähigkeit, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Sie hilft, ins Gespräch und in ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu gelangen.

Das folgende Zitat zeigt den Zusammenhang von Psalmenkenntnis und Demenz; demente Menschen können sich durchaus noch an auswendiggelernte Psalmen erinnern:

Also was mir besonders gut gefallen hat, sind die Diskussionen rund um die Psalmen, welche wir hatten, also die kirchlichen Diskussionen, welche wir gehabt haben. Und nachher auch die Referate; eines ist ja auch auf die Demenz eingegangen. (49.49)

Auch für eine Agnostikerin bieten Psalmen keine Schwierigkeit in der Kommunikation:

Ich bin einfach ein Realist. Ich bin der Agnostiker. […] Ja, wenn ihr mich nicht haben möchtet, […] ja, dann helfe ich euch auch nicht mehr in der Gemeinde. (35.133–149) Sie hat, eben mit den Psalmen und so, das ist ihr sehr wichtig, in allem und die Kirche ist wichtig; sie ist eine gläubige Christin. Aber das ist überhaupt kein Problem zwischen uns, sie weiß meine Meinung und ich weiß ihre. (35.237–241)

Die folgende Teilnehmerin empfindet die Verwendung von Psalmen als therapeutisch, wie Gemeinschaft auch therapeutisch wirken kann; sie selbst ist Apothekerin und beschreibt die Psalmen als Entdeckung:

Psalmentherapie: Es ist ein Ansatz, der sehr interessant ist, weil man sich löst aus diesem Kreis, in welchem man sich sonst bewegt, uns Pflegenden, oder man rotiert zwischen den eigenen Problemen, den Problemen in der Familie, mit der Person, die zu pflegen ist und den restlichen Angehörigen, die auch noch irgendwo in diesem Kuchen drinstecken. (82.175)

Zwischenfazit

Mit der zweiten Dimension ist die positive Wirkung der Psalmen hinsichtlich der Kommunikation und des Gemeinschaftsgefühls der Gruppe gemeint. Psalmen sind ein dankbares Gesprächsthema („ein bisschen wie das Wetter“) und haben dazu einen ästhetischen Aspekt. Weil Psalmen weniger „fromm“ (oder weniger religiös aufgeladen) sind als viele andere Bücher der Bibel, ist es nicht schwer, über sie miteinander ins Gespräch zu kommen. Der Austausch über Psalmen kann einen sozialen Effekt haben; auch hilft er eine gemeinsame Sprache zu finden. Ein Teilnehmer erzählt (nicht in einem aufgenommenen Interview, sondern in einem der informellen Gruppengespräche), dass die Psalmen über drei Generationen ein „gemeinsamer Nenner“ sind: die hochbetagte und zunehmend demente Mutter will die Psalmen gerne im Originalton vorgelesen haben; der 60+ Jahre alte pflegende Angehörige liest am liebsten die theologischen Erklärungen und die 30+ Jahre alte (Groß-)Tochter – kirchlich nicht sozialisiert –, die zu Besuch ist, interessiert sich für die Psalm-Illustrationen. So seien alle zufrieden mit dem gemeinsamen Psalmenlesen.

III

Psalmen können zum Handeln befähigen. Eine dritte Dimension des Gebrauchs von Psalmen kann demnach mit Agency oder Aktivwerden bezeichnet werden.

Eine Teilnehmerin berichtet, wie ihr ein Psalm in der Vergangenheit geholfen hat, als sie nach der Geburt ihrer behinderten Tochter in eine Depression fiel und wie der Psalm ihr auch heute noch wieder hilft.

Und ja, es ist gut gewesen. Eben die Psalmentherapie. Ich habe das schon selber erlebt nach der Geburt, dass mir das wirklich sehr geholfen hat. (87.349) Den 62. Psalm lese ich immer wieder und ich habe das Josua Boesch-Buch wieder hervorgenommen, das mir sehr nahe war nach der Geburt der jüngsten Tochter, die behindert gewesen ist, wo ich auch eine schwierige Zeit gehabt habe. (87.261)

Im folgenden ausführlichen Interviewausschnitt kommt eine Agency-Dimension zur Geltung, die sich in einer Haltung von Resilienz (die Teilnehmerin erwähnt das Wort selber) und von Empowerment äußert. Sie erzählt, wie sie nach der Schulung ihren dementen und zunehmend gewalttätigen Mann wieder akzeptieren, ja sogar „auf neue andere Art lieben“ lernen konnte.

Ich bin aufgestellt. Und ich sehe auch in die Zukunft, dass ich möglichst lange so aufgestellt auch bleiben möchte und ich fühle die Kraft, dass ich das auch kann. Dass ich einfach in der Mitte zurückkommen kann – resilire, oder? – auf das, was ich schon erarbeitet habe […]. Ich hole mir immer so Schwung unten – unten im Abgrund. Deswegen habe ich auch den Psalm Tiefseeerlebnis [für mich ausgewählt]. Es ist mir so entgegengekommen mit dieser Überschrift, diesem Erlebnis, es ist Psalm 130. Und dort steht: ‚Aus tiefem Abgrund […] komm ich herauf. Ich komme ans Licht. Und ich werde nicht verschluckt.‘ Ich nehme dann da unten so Schwung und schaue, dass ich nach oben komme – auch mit meinem Herzen. Oder, dass ich mich wieder M. zuwenden kann, nachdem er mir vielleicht irgendetwas an den Kopf geschmissen hat […]. Dann schaue ich, was ich mit dem mache. Und ich übernehme auch die Verantwortung, dass ich ihn dann nicht ‚heruntermache‘ in mir selber, sondern verstehe. Also das Verständnis ist dann größer von mir gegenüber ihm. Ich verstehe: Aha, er ist eben reduziert. Er hat eben diesen Schlag gehabt, den er noch nicht akzeptieren kann – und ich offenbar auch noch nicht, sonst hätte ich nicht so Mühe mit ihm. Und ich schaue, dass ich, dass ich – in erster Linie ich – diesen Schlag akzeptieren kann und schaue, was ich daraus lernen kann. Nämlich, dass er mir hilft, mich selber auch zu beobachten und gewisse Unannehmlichkeiten auch, ohne dass ich mich ärgere und so, zurückstecken kann, wegstecken kann und einfach loslassen kann. (45.26–46)

Im Folgenden zwei Beispiele, die zeigen, wie Psalm 23 resilienzstärkend sein kann. Das erste beschreibt, wie der Psalm in einer Mobbing-Situation wirksam wurde; das zweite weist auf die stärkende „Grünkraft“ einer zum Handeln befähigenden Spiritualität hin.

Also erstens einmal: Das Buch (‚Psalmen destillieren – alte Gebete neu lesen‘) hat mich sehr angesprochen. Ich habe das wirklich unter die Lupe genommen und für mich ist der Psalm 23 der Leitfaden vom Leben. Ich habe den Psalm 23 durch meinen Konfirmationspfarrer [kennengelernt]. Ich habe eine sehr, sehr gute Beziehung gehabt zu meinem Konfirmationspfarrer. Da ich als Kind sehr schwer krank gewesen bin und in der Schule immer gemobbt wurde […], habe ich zu dem Pfarrer [eine besondere Beziehung gehabt], er hat mich verstanden. Bei ihm konnte ich meinen Kropf leeren und er hat mich so angehört und so angenommen, wie ich war. (86.32)

Ich habe damals Psalm 23 genommen, einfach wegen den Bildern, die Bestand haben. Und vielleicht mehr halt in einer ganzheitlichen, sag ich jetzt mal, franziskanischen oder ökologischen oder keltischen Christlichkeit […]. So mit halt Wasser oder grüner Aura oder was weiß ich. Das sind einfach Bilder, die für mich mehr Bestand haben in der heutigen Zeit. […] Der Psalm 23 hat jetzt einfach noch die besondere Qualität, weil er sozusagen ganz viel Grünkraft hat. (82.403–425)

Des Weiteren kann die Agency-Dimension eines Psalms auch zu einem Coping führen, in dem die Neuinterpretation einer Situation die Lage erträglicher macht. Das berichtet folgende Teilnehmerin:

Aber der Psalm 121 ist eben ein wunderbarer Psalm […]. Da steht: ‚Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen‘ – ist ja auch schon wunderschön vertont worden, darum gefällt er mir auch so gut. Und mein Mann [den ich pflege], der stolpert ja dauernd, der fällt ja immer um. Wenn er umgefallen ist und dann sehe ich ihn am Boden liegen, und dann grinst er unten rauf, weißt Du, ist nichts Schlimmes passiert. Und dann ist mir aufgegangen, bei diesem Psalm, es gibt ja auch ein inneres Gehen, oder. Und das dünkt mich so schön an dem Psalm, dass mein Mann nach wie vor aufrecht ist. Aufrechtes inneres Gehen! […] Also im übertragenen Sinne ist er festen Fußes unterwegs, obwohl er im Rollstuhl ist. (81.283–295)

Zwischenfazit

Die dritte Dimension haben wir mit Agency umschrieben. Dieses Aktivwerden erweist sich in Empowerment und gestärkter Resilienz. Agency kann auch Verantwortung übernehmen heißen, Verantwortung für das eigene Handeln und Reagieren auf die Handlungen anderer. Im Englischen ist im Wort Agency denn auch der Aspekt von Verantwortung enthalten (Hsieh 2016). Gerade die lange Beschäftigung mit einem einzelnen Psalm hat mehrere TN aktiv, ermächtigt und widerstandsfähig werden lassen. Diese TN mögen durch ihre Agency eine neue Freiheit entdeckt haben, entsprechend einem Gedanken des Theologen Stanley Hauerwas: Freiheit äußert sich darin, dass wir alles, was uns passiert, in einer zusammenhängenden Geschichte erzählen können (Hauerwas 1983).

IV

Als Viertes hatte der Gebrauch von Psalmen für die pflegenden Angehörigen und Freiwilligen unserer Studie einen Einfluss auf deren Gottesbeziehung. Wir nennen sie die „göttliche Dimension“. So spricht z. B. eine Teilnehmerin von der Sehnsucht nach der Gottesbeziehung, eine Sehnsucht, die ein Psalm bei ihr oder bei anderen („Leuten helfen, das Gebet zu finden“) stillen kann. Sie spielt dabei wohl auf den Kirchenvater Augustin an, der sagt, Sehnsucht nach dem Gebet sei bereits Gebet.

‚Ich habe Sehnsucht nach Sehnsucht nach dem Gebet‘: Das finde ich etwas ganz Gutes, […] dass man vielleicht das Gebet finden möchte oder den Leuten helfen, das Gebet zu finden. Dann könnten sie mit jemandem reden. Oder sie würden nicht mehr so alleine sein. Und da würden ihnen die Psalmen helfen. (37.36)

Die Verwendung von Psalm 16 hilft der folgenden Teilnehmerin, die Beziehung zu dem Gott aufzunehmen, der einen „Pfad zum Leben“ aufzeigt:

Ich habe mir dann einen ausgesucht: Das ist der Psalm 16 ‚Du zeigst mir nicht die geteerte Straße, sondern den Pfad zum Leben‘. […] Nur trage ich das Psalmenlesen vielleicht nicht so raus, sondern ich lebe es für mich. (80.123–147)

In der Dimension der Gottesbeziehung hat auch das Klagen dank den Psalmen seinen Platz:

Ja, das mit dem Jammern hat mir sehr gutgetan, das mit dem Jammern und das mit der Resilienz. Ich war nicht so, wie sagt man, in einer guten Verfassung, um alles durchzulesen, weil ich extrem müde bin. Ich kann nicht gut schlafen. Ich schlafe sehr schlecht und sehr wenig. (91.61) Darüber hinaus verwendet die Teilnehmerin ein originelles Bild für die Wohltat des Klagens in der Gottesbeziehung: Das mit der Klage als Ventil, also immer wieder bei Gott zu klagen. Das ist ein Kontra-Beispiel. (91.61)

Im nächsten Beispiel führt die göttliche Dimension – hier ausgedrückt durch den oft erwähnten Psalm 23 – von einer Krisensituation i. S. von disorientation (Brueggemann 2002) ins Licht und von Undankbarkeit in eine neue Dankbarkeit.

Da kann ich natürlich sehr, sehr gut mitfühlen mit ihr, weil ich selber immer wieder gesundheitlich anstoße und ich mich aber immer wieder raufarbeite und sage: ‚Hey! Mach weiter so.‘ In Psalm 23 steht ‚wir gehen durch das dunkle tiefe Tal und hinten irgendwo kommt wieder ein Licht‘. […] In den Not-Situationen sage ich es; hat es geheißen: ‚Oh ja, es geht mir doch schlecht und es ist scheiße und immer‘, dann sage ich immer: ‚Hey, hallo? Uns geht es so gut. Aber wir müssen es sehen.‘ (86.76)

Dank der Psalmen kann das klagende Anrufen Gottes sogar befreiend sein, wie folgende Sätze zeigen:

Und dann die Psalmentherapie, was auch ganz gut war in diesem Zusammenhang: ‚Dem Herrn sei es geklagt!‘ Du musst wissen, ich bin […] eine expressive Persönlichkeit und ich bin jetzt legitimiert zum Ausrufen. Und das ist total befreiend, oder. Jawohl, ich kann sagen: ‚So nicht!‘, oder, weißt Du, ‚Ja, Herrschafts-noch-einmal!‘, weißt Du und man kann ausrufen: ‚Dem Herrn sei es geklagt!‘. Also, das finde ich sehr entlastend. Man ist jetzt legitimiert. (81.319–323)

Beides gehört in die Dimension der Gottesbeziehung: das Loslassen und das Anrufen der höheren Macht, wie folgendes Beispiel formuliert:

Die Technik [der Resilienz] habe ich auch noch, schon vorher ein bisschen gehört – eben von dem Seinlassen und … und auch die höhere Macht anrufen – die geistige Welt. Also ich spüre das sehr, sehr gut. Deswegen sind mir die Psalmen auch so sehr entgegengekommen. Weil ich da schon Möglichkeiten hatte, das zu verstehen. Und zwar tief zu verstehen und zu brauchen. (45.182)

Zwischenfazit

Für etliche TN war die Schulung Anlass, wieder an die göttliche Dimension „anzuknüpfen“. Auch diese weitere Dimension scheint resilienzstärkend zu wirken. Interessant ist dabei, dass das Klagen Teil resilienten Verhaltens ist. Denn in der Klage wird die Gottesbeziehung nicht abgebrochen, sondern im Gegenteil neu eröffnet. Andrea Bieler hat gezeigt, dass die Grundstruktur der Klagepsalmen in die Richtung kognitiver Therapien geht. Die Klagen, die sich vor Gott und der Welt Gehör verschaffen, werden mit der Absicht erzeugt, ein „Gleichgewicht zwischen dem Ausdruck schrecklicher Erfahrungen und der Bereitstellung nützlicher Ressourcen, die den Lebensimpuls unterstützen, herzustellen“ (Bieler 2019: 224).

Der entscheidende Faktor ist, dass die Person nicht von negativen Bildern und Gefühlen überwältigt wird. Insbesondere die Bereitschaft sein Leid zu beklagen, kann die Fähigkeit zur Entwicklung von Kreativität und Resilienz fördern. So können trotz der traumatischen Erfahrungen, die die Person gemacht hat, Bilder der Hoffnung und das Gefühl, dass die Zukunft Möglichkeiten bieten kann, entstehen. Die Dynamik eines Psalmtextes kann also eine therapeutische Wirkung haben.

Diskussion

Die Beschäftigung mit Psalmen (Vorlesen, Singen, Meditieren, Illustrationen anschauen, Diskutieren) wurde positiv bewertet. Psalmen scheinen einen persönlichkeitsstärkenden Effekt zu haben. Damit trugen sie entscheidend zum Gelingen der KiPA-Schulung und der gewünschten Verhaltensänderung hinsichtlich verstärkter Resilienz bei pflegenden Angehörigen und Freiwilligen bei. Tabelle 1 stellt überblicksartig dar, wie der Gebrauch von Psalmen auf die TN gewirkt hat.

Tab. 1:

Dimensionen der Wirkungen von Psalmen

Persönliche Dimension

Selbstreflexion

Selbstsorge

Kritische Wahrnehmung

Mitmenschliche Dimension

Verstärkte Kommunikationsfähigkeit

Verstärktes Gemeinschaftsgefühl

„Agency“-Dimension (aktiv werden)

Resilienz

Empowerment

„Göttliche“ Dimension

Wachsen der Gottesbeziehung

Zulassen von Klage (Gott gegenüber)

Trost (verstärkte Resilienz durch Gottesbeziehung)

Zweierlei fällt bei der Betrachtung dieser vier Dimensionen von Psalm-Wirkungen auf. Zum Ersten haben alle Dimensionen und Kategorien der Wirkungen von Psalmen direkt oder indirekt mit Resilienz zu tun.

Christian Frevel postuliert in „Du machtest mich stark – Resilienzmodelle in den Psalmen“ (Frevel 2022), dass Psalmen sich als „Resilienzressourcen“ (209) verstehen lassen, ja dass Psalmtexte als „Schule der Resilienz begriffen werden“ (211) können, „die auch ein präventives Orientierungswissen bereitstellen, durch das die Prognosefähigkeit gegenüber Krisen steigt und damit ihre Unvorhersehbarkeit reduziert wird.“ (211) Psalmen sind ein vielfältiges „Resilienznarrativ“ (211); sie sind „Zeugnisse gelungener Arbeit am Leiden“ (213). Dabei komme „der transformierenden und stabilisierenden Kraft des Gottesverhältnisses“ (214) in den Psalmen eine entscheidende Rolle zu. Man müsse das nicht Resilienz nennen, aber man könne es: Die Gottesbeziehung festigt den Beter auf der Grundlage eines stabilisierenden Vertrauens in die rettende Gerechtigkeit Gottes, die der Beter nicht selbst leisten kann (215). „Anthropologisch ist gerade das Herz ein Resilienzort, an dem Lebenskraft, Zuversicht und Widerstandsfähigkeit ebenso festgemacht werden, wie Depression und Perspektivenlosigkeit“ (217). Theologisch pointiert sagt Frevel schließlich: „Segen ist – zumindest im theologischen Gehalt – eine von Gott gewährte Resilienz. Gott sagt im Segen den Schutz zu, den der Mensch sich nicht selbst geben kann“ (218).

Frevel durchforstet alle Psalmen und sucht nach Resilienzfaktoren. Als Resultat schlägt er sieben „Resilienzmodelle“ im Psalter vor, siehe untenstehende Tabelle (Frevel 2022: 222). Es ist bemerkenswert zu sehen, dass die meisten dieser Resilienzmodelle von den TN des KiPA-Projektes erwähnt wurden, wenn auch mit ihren eigenen Worten.

Tab. 2:

Resilienzmodelle im Psalter nach Christian Frevel

a)

Resilienz durch göttlichen Schutz

b)

Resilienz durch Befähigung und Befreiung

c)

Stabilisierung durch Entängstigung und Zuversicht

d)

Autostabilisierung des Beters

e)

Stabilisierung durch das Tun der Tora

f)

Freude als Ausdruck vollkommener Resilienz

g)

Stabilisierung durch Reflexion und Aktivierung von Traditionswissen

Was zum Zweiten auffällt, ist der Zusammenhang von Spiritual Care und Spiritual Self-Care. Auch hier, ähnlich wie beim Thema Resilienz, wurden diese Begriffe praktisch nicht von den TN so formuliert, aber die Selbstbefähigung im Bereich der Spiritualität, die in der Anwendung von Psalmen erzielt werden kann, ist evident.

„In der Spiritual Self-Care ist die Selbstsorge auf den spezifischen Bereich der Spiritualität bezogen. Der Mensch übernimmt Verantwortung und sorgt sich sowohl um eigene spirituelle Ressourcen als auch um die seines Nächsten“ (Bischoff et al. 2021: 268). Spiritual Self-Care hat sich in unserer KiPA-Studie als zentrales Mittel herauskristallisiert, anhand dessen pflegende Angehörige und Freiwillige dank der Psalmen in ihrem Leben neue Ressourcen entdecken konnten. Dieser Ansatz kann idealerweise auf Community-Ebene umgesetzt werden, d. h. in einer Kirchgemeinde, in der die Mitglieder eine spirituelle Selbstfürsorge erlernen können, indem sie auf die individuellen spirituellen Ressourcen und die Ressourcen ihrer Religionsgemeinschaft zurückgreifen. Das Konzept der Spiritual Self-Care basiert auf dem Konzept der Self-Care (Selbstfürsorge), welches die WHO definiert als „die Fähigkeit von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften, die Gesundheit zu fördern, Krankheiten zu verhüten, gesund zu bleiben und mit Krankheit und Behinderung umzugehen, mit oder ohne Begleitung durch einen Gesundheitsdienstleister“ (WHO 2013). White hat darauf basierend das Konzept von Spiritual Self-Care entwickelt und definiert sie als

eine Reihe von Aktivitäten spiritueller Natur, die eine Person ausübt, um ihre persönliche Entwicklung zu erhalten und zu fördern, unabhängig davon, ob sie gesund oder krank ist. Spiritual Self-Care hängt von der Verbindung zwischen Intellekt, Seele und Körper eines Menschen ab, von seiner Erziehung, seinem moralischen und religiösen Hintergrund sowie von den Erfahrungen, die mit Glauben, Gefühlen und Emotionen verbunden sind (White et al. 2011: 53).

Zusammengefasst ist die Bedeutung, die die Psalmen für die pflegenden Angehörigen und die kirchlich Freiwilligen im Rahmen der Schulung bekam, eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Forschung. Damit hat sich die Erwartung, die wir mit diesem wichtigen Bestandteil der Ausbildung verknüpft hatten und die wir mit „Psalmtherapie“ bezeichnen könnten, erfüllt. In ihren Äußerungen stellten die meisten TN eine Verbindung zwischen der Stärkung durch das Anwenden (Lesen, Meditieren etc.) der Psalmen und der Stärkung ihrer Resilienz, ihrer Fähigkeit zur Selbstsorge sowie der Vermeidung von Erschöpfung her. Die Psalmen ermöglichen es, eigenes Leiden in Worte zu fassen, besser zu erkennen und anderen mitzuteilen und dadurch ein Narrativ für die neu gewonnene Freiheit zu entdecken.

Zu untersuchen, wie die Anwendung von Psalmen vertieft als Werkzeug von Spiritual Self-Care zum Einsatz kommen kann, ist zweifellos eine lohnende Frage für zukünftige Forschung.

Über die Autoren

Dr. Alexander Bischoff

Dr. phil., Jahrgang 1956, von Beruf Pflege- und Public Health-Experte, war zuletzt tätig als Dekan für Forschung und Entwicklung an der Hochschule für Gesundheit Fribourg und als Titularprofessor an der Universität Genf (Institut de santé globale). Er ist Mitglied der Communität Don Camillo.

Stefanie Koch

Jahrgang 1982, ev. Theologin und Germanistin, seit 2017 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Liturgik und Homiletik an der Universität Zürich (Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät). Von 2017–2020 Forschungsassistentin für angewandte Forschung und Entwicklung an der Hochschule für Gesundheit Fribourg. Sie leitet das Netzwerk Sorgende Gemeinde an der UZH.

Prof. Dr. Ralph Kunz

Prof. Dr. theol., Jahrgang 1964, reformierter Pfarrer, seit 2004 tätig als Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Liturgik und Homiletik an der Universität Zürich (Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät). Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe für Religionsgerontologie am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich.

  1. Author contributions: All the authors have accepted responsibility for the entire content of this manuscript and approved its submission.

  2. Research funding: None declared.

  3. Competing interests: Authors state no conflict of interest.

Literatur

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Online erschienen: 2025-03-27
Erschienen im Druck: 2025-08-13

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Psalmen im Kontext von Spiritual Care
  4. Übersichtsartikel
  5. Die Bedeutung der Psalmen für eine traumasensible spirituelle Praxis
  6. Originalia
  7. Heilsame Kraft der Psalmen – eine vorsichtige Begehung
  8. Erinnern – Deuten – Handeln als Resilienzstrategien in den Dankpsalmen
  9. Wie Psalmen wirken – Erfahrungen von pflegenden Angehörigen und kirchlich Freiwilligen
  10. Das Verständnis von Spiritualität von Schweizer Studierenden im Master of Science in Pflege – eine Online-Umfrage
  11. Von der tröstenden und spirituellen Bedeutung der Psalmen am Ende des Lebens
  12. Essay
  13. Alterstrost und Altersklage
  14. Report
  15. From the Inside Out: Integrating Jewish Meditation into Spiritual Care
  16. Erfahrungsbericht
  17. Die „Chuzpe“ der Psalmen
  18. Essay
  19. „Bei Gott bin ich geborgen, still wie ein Kind“
  20. Unser täglicher Psalm
  21. Jesu Selbst-Trost am Kreuz (Mt 27,46–47 / Mk 15,34–35)
  22. Research article
  23. Gender and radicalisation in the phenomenon of islamism in the age of new media: A project report
  24. Spiritueller Impuls
  25. Bin auf Zuspruch angewiesen
  26. Study protocol
  27. ZAPS Zu- und Angehörige Pflege Spiritualität – Family Caregivers and Spirituality (DRKS00036594)
  28. Rezensionen
  29. Beat Weber (2025) Psalmen in Wissenschaft und Praxis – Eine digitale Bibliographie. Academia, PDF „BiblioPss1990 ff.: Bibliography of Psalms and the Psalter since 1990“ (Zitierdatum 01.02.2025), abrufbar unter https://www.academia.edu/5910732. ISBN: keine; 309 Seiten; Preis D/A/CH: kostenlos
  30. Simon Peng-Keller, Fabian Winiger, Raphael Rauch (2022). The Spirit of Global Health: The World Health Organization and the ‘Spiritual Dimension’ of Health, 1946–2021. Oxford: Oxford University Press. ISBN: 978-0192865502; 256 pages; Price D, A, CH: 109,52 €; E-Book: 66,02 €
  31. Annette Haußmann & Christine Wenona Hoffmann (Hg.) (2024): Miteinander füreinander sorgen. Sorgende Gemeinschaften als Aufgabe von Seelsorge und Diakonie. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-044494-2; 229 Seiten; Preis: D 49,00 €; E-Book: 43,99 €
  32. Eckhard Frick (2024) Gerufen oder nicht gerufen. Spiritualität in der Analytischen Psychologie. Reihe: Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN: 978-3-17-042128-8; 176 Seiten; Preis D 36,00 €;
  33. Stichwort
  34. Sterbesegen
  35. Das Stichwort
  36. Bibel
  37. Mitteilungen
  38. Mitteilungen
Downloaded on 1.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/spircare-2025-0014/html
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