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Von der interkulturellen Kommunikation zur transkulturellen Praxis: Fallgestützte Analysen der muslimischen Asyl- und Spitalseelsorge

From intercultural communication to transcultural practice: Case-based analyses of Muslim chaplaincy for asylum seekers and patients
  • Andrea Lang

    Lic. sc. rel., studierte an den Universitäten Zürich und Wien Religionswissenschaft und Religionssoziologie. Ihre Lizentiatsarbeit verfasste sie im Rahmen des NFP-Projekts „Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik in der Schweiz?“. Nach dem Studium war sie als Deutsch- und Berufsschullehrerin tätig. Seit 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg und ist Leiterin des Weiterbildungslehrgangs „Muslimische Seelsorge und Beratung im interreligiösen Kontext“.

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    , Hansjörg Schmid

    Dr. theol., ist Professor für Interreligiöse Ethik und christlich-muslimische Beziehungen an der Universität Freiburg und seit 2015 Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG). Er ist Begründer des wissenschaftlichen Netzwerks Theologisches Forum Christentum – Islam und war bis 2014 dessen Koordinator. Seine Forschungen sind auf sozialethische Fragen in interreligiöser Perspektive sowie auf Muslime in der Schweiz und in Europa fokussiert. In diesem Rahmen befasst er sich mit muslimischer Seelsorge an der Schnittstelle von Religion und Gesellschaft.

    and Amir Sheikhzadegan

    Dr. phil., studierte an den Universitäten Teheran und Zürich Soziologie, Ethnologie und Informatik. Nach seiner Promotion an der Universität Zürich folgten Postdoc-Projekte an den Universitäten Zürich, Freiburg, Berlin und Sydney. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. narrative Identität, spirituelle Transformation, Seelsorge und muslimische Organisationen. Zurzeit ist er im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit sowie am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg als Senior-Forscher tätig.

Published/Copyright: November 9, 2019
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Zusammenfassung

Muslimische Seelsorge bildet nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Hintergründe von Musliminnen und Muslimen einen zentralen interkulturellen Erfahrungsraum. Angesichts von homogenisierenden Engführungen von Interkulturalität knüpft der Beitrag an Konzepte von Transkulturalität und Transdifferenz an. Damit wird einerseits der Vermischung von kulturellen Elementen, andererseits aber auch dem Fortbestehen von Differenten und Abgrenzungen Rechnung getragen. Anhand von Beispielen aus der Praxis muslimischer Asylseelsorge wird aufgezeigt, wie sich interkulturelle Konfliktnarrative auf die Tätigkeit der Seelsorgenden auswirkten und wie diese in Abgrenzung davon eine transkulturelle Brückenfunktion wahrnehmen konnten. In einer Weiterbildung für muslimische Spitalseelsorge ging es um im Zusammenhang mit Krankheit und Tod wirksame muslimische Sinngebungen, die die Seelsorgenden entschlüsseln können, ohne sie automatisch auf die Seelsorgeempfänger zu projizieren. Abschließend wird aufgezeigt, dass muslimische Seelsorgende in der Lage sein müssen, religiöse Deutungen zurückzustellen, aber gleichzeitig auch ihre Wirkmächtigkeit und ihre konfliktgenerierende Wirkung zu erkennen. Bei allem Bemühen um interkulturelles Verstehen ist auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass muslimische Seelsorge selbst das Produkt einer kulturellen Hybridisierung darstellt. Von daher erweist sie sich prädestiniert dafür, eine inter- und transkulturelle Vermittlungsfunktion wahrzunehmen.

Abstract

Muslim chaplaincy constitutes a central space of intercultural experience not least because of the diverse backgrounds of Muslims. In view of the narrowness of the concept of interculturality, this article is based on the notions of transculturality and transdifference. Thus, not only the mixing of cultural elements is taken into account but also the persistence of differences and delimitations. On basis of examples from the practice of Muslim asylum chaplaincy, it is shown how intercultural conflict narratives affected the activities of the chaplains and how, in contrast to these narratives, they were able to apprehend a transcultural bridging function. A further training for Muslim chaplaincy in hospitals dealt with relevant Islamic interpretations in connection with illness and death, which the chaplains can decipher without automatically projecting them onto the spiritual care recipients. Finally, it is shown that Muslim chaplains must be able to put religious interpretations aside, but at the same time recognize their power and conflict-generating effect. In all efforts to achieve intercultural understanding, the fact that Muslim chaplaincy itself is the product of cultural hybridization must also be taken into account. Therefore, it is predestined to fulfil an inter- and transcultural mediation function.

Einführung

In Notsituationen, bei Krankheit und Todesfällen wünschen sich viele Menschen Beistand und auch religiöse Begleitung. In mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern übernahmen früher Familienangehörige, Verwandte und die Gemeinde die Betreuung von Kranken und Notleidenden. Die Fürsorge für Bedürftige und Kranke stellt im Islam eine religiöse Pflicht dar, welche der Lehre des Korans wie auch dem Wirken und Vorbild des Propheten Muhammad folgt (Tittus-Düzcan 2018). Durch den Wandel des gesellschaftlichen und familiären Gefüges zeigt sich sowohl in Europa wie auch in muslimischen Ländern eine zunehmende Nachfrage nach einem professionalisierten Angebot an muslimischer Seelsorge und religiöser Begleitung (Ucak-Ekinci 2019).

In der Schweiz wird das Seelsorgeangebot in öffentlichen Institutionen von den kantonal anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften, meist den katholischen und reformierten Landeskirchen, sichergestellt. Dieses Angebot steht auch für andersreligiöse Personen offen, sofern diese es selber wünschen. Sobald hier jedoch Fragen zu einer religionsbezogenen Begleitung auftauchen, stößt die christliche Seelsorge an ihre Grenzen. Um ein Mindestangebot an muslimisch-religiöser Begleitung zu gewährleisten, haben einige Spitäler und Gefängnisse Listen mit Kontaktdaten von muslimischen Vereinen und Imamen erstellt, welche meist in Todes- und Notfällen kontaktiert werden. Da diese Praxis von Patienten und Patientinnen und den Institutionen vielfach nicht als ausreichend erfahren wird, wurden in den letzten Jahren in verschiedenen öffentlichen Institutionen und Kantonen Schritte hin zu einem regelmäßigen und von in Grundlagen qualifizierten Seelsorgenden geleisteten Angebot eingeleitet (Schmid et al. 2018).

Da muslimische Seelsorgende einerseits mit ihren christlichen Kollegen und Kolleginnen, aber auch Behörden, und andererseits mit einer ethnisch wie weltanschaulich sehr heterogenen Klientel zu tun haben, stellt sich die Frage, wie sich die entsprechende interkulturelle Kommunikation gestaltet und mit welchen Herausforderungen diese konfrontiert ist. Der vorliegende Beitrag knüpft an diese Fragestellung an und analysiert anhand zweier im Kanton Zürich realisierter Projekte zu muslimischer Seelsorge aus der Warte der interkulturellen Kommunikation. Der Beitrag beginnt mit einer theoretischen Einbettung im Blick auf Interkulturalität, dann liefert er in je einem Abschnitt eine Analyse der Fallbeispiele, um dann in einem abschließenden Abschnitt die theoretische Diskussion und die dargelegten empirischen Befunde auf Konsequenzen für muslimische Seelsorge hin zusammenzuführen.

1 Theoretische Annäherung und Forschungsstand

Eine grundsätzliche Problematik des Begriffs „interkulturelle Kommunikation“ besteht darin, dass dieser a priori eine essentialistische Annäherung zur Kultur impliziert. Welsch (2005) hebt in diesem auf Herder (1744-1803) zurückgehenden Kulturverständnis drei problematische Aspekte hervor:

  1. Soziale Homogenisierung: Eine Kultur prägt das gesamte Leben sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene. Aus dieser stark vereinheitlichenden Sicht würden sämtliche Angehörige einer Kultur ähnlich denken, empfinden und handeln.

  2. Ethnische Fundierung: Jede Kultur gehört einer bestimmten Ethnie bzw. einem bestimmten Volk und stellt die „Blüte ihres Daseins“ dar (Herder 1989; zit. nach Welsch 2005: 42).

  3. Interkulturelle Abgrenzung: Kulturen sind kugel- oder inselähnliche Entitäten mit klar umrissenen Grenzen.

Während die soziale Homogenisierung mit sozialen Gruppen innewohnenden internen Differenzierungen unvereinbar ist und sich deshalb jeder Entsprechung der Lebensrealität entzieht (für die Heterogenität intrakultureller Wirklichkeitskonstruktion vgl. Srubar 2009), wurden die ethnische Fundierung und interkulturelle Abgrenzung bereits Ende der 1960er Jahre durch die Arbeiten des norwegischen Ethnologen Fredrik Barth in Frage gestellt. Ihm zufolge ergeben sich ethnische Zugehörigkeiten nämlich nicht „quasi-organisch aus der Summe objektiver kultureller Unterschiede“ (Wimmer 2008: 64), sondern durch dynamische Prozesse der Grenzziehung. Anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht Wimmer, wie die ethnische Zugehörigkeit durch Grenzziehungsprozesse dynamisch und situativ bestimmt wird:

Die ‚asiatische‘ Person [in den USA] stammt beispielsweise aus Taiwan und würde wahrscheinlich ihre Identität als Hakka-Sprecherin betonen (einer der taiwanesischen Dialekte), wenn sie einen Holo-sprachigen Haushalt besucht. Sowohl Hakka wie Holo würden aber von einem Mandarin-sprachigen Taiwanesen, dessen Familie nach 1948 nach Taiwan kam, als ‚Insulaner‘ kategorisiert. Alle drei grenzen sich wiederum von neuen Immigranten aus dem chinesischen Festland ab [...] (Wimmer 2008: 64).

Aus einer sozialpolitischen Warte nimmt Radtke (2011, 2016) den interkulturellen Dialog kritisch unter die Lupe. Zum einen moniert er, dass solche Dialoge gerade in Konfliktsituationen hoch unwahrscheinlich seien, „weil sie voraussetzen müssen, was sie erst schaffen wollen, nämlich die Kooperations- und Verständigungsbereitschaft aller Beteiligten“ (Radtke 2016: 49). Zum anderen weist er darauf hin, dass interkulturelle Dialoge in einem Kontext entstanden sind, in welchem Kulturrelativismus zu einer Ideologie hochstilisiert und als Basis einer Politik der Anerkennung herangezogen wurde: „Mit dieser Wendung wird nicht nur eine Ausweitung der Kampfzone auf kollektive Anerkennung verlangt, sondern eine quasi religiöse Dogmatisierung partikularer Kulturen zu Bekenntnisgemeinschaften betrieben“ (Radtke 2016: 47-48).

Wie kann aber Kultur und Interkulturalität thematisiert werden, ohne dass man dabei in die bereits erwähnten konzeptionellen wie auch sozialpolitischen Tücken und Fallen fällt? Welsch (2005) schlägt hierzu den Begriff „Transkulturalität“ vor und argumentiert dabei, dass moderne Kulturen einander durchdringen und deshalb weithin durch Mischungen gekennzeichnet sind (Welsch 2005; vgl. auch Lösch 2016; Merz-Benz 2016; Nollert & Sheikhzadegan 2016). Auf der Makroebene ließe sich diese Vermischung durch externe Vernetzung der Kulturen, Hybridcharakter sowie Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz ausmachen und auf der Mikroebene durch transkulturelle Prägung der Individuen sowie Entkoppelung von kultureller und nationaler Identität (Welsch 2005: 48-54). Die Quintessenz dieses Begriffs bringt Baumann (2019) folgendermaßen auf den Punkt:

Transkultur steht in diesem Sinne quer zu Raum und Zeit, es ist eine Kultur des Vermischens und des Transformierens [...]. Im ‚globalen Dorf‘ von heute basieren die Prozesse der interkulturellen und transnationalen Durchlässigkeit auf den Einwirkungen einer akzelerierten Globalisierung und deren homogenisierenden, zugleich auch fragmentierenden und hybridisierenden Momenten (Baumann 2019: 64).

Die Existenz der Prozesse der Hybridisierung in modernen Gesellschaften bedeutet allerdings keineswegs, dass diese mit keiner kulturell definierten Differenz oder sogar Konflikten konfrontiert sind. Um mit Lösch (2016) zu sprechen, lösen sich in modernen Gesellschaften nicht jegliche Formen der Alienität (Fremdheit) in Alterität (Andersheit) auf. Deshalb schlägt Lösch als Ergänzung zur Transkulturalität, aber auch zur Multikulturalität, den Begriff „Transdifferenz“ vor: „Der Transdifferenzbegriff zielt auf die Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonstruktionen auf der Basis binärer Ordnungslogik ausgeblendet werden“ (Lösch 2005: 252 f.). Die zweideutigen Räume setzen aber eindeutige Kategorisierungen voraus. Als Beispiel erwähnt Lösch den rassenspezifischen political correctness in den USA, der nur Sinn macht, wenn es Rassismus gibt. „Transdifferenz ist somit an Differenz gebunden und nicht als Überwindung von Differenz, als Entdifferenzierung misszuverstehen“ (Lösch 2016: 83).

Aus einer sozialpolitischen Perspektive heraus schlägt Radtke schließlich vor, dass kulturelle Differenzen kognitiviert werden:

Wie im Alltag, wo moralische Verurteilungen durch das Sprechen über Moral vermieden werden kann, bringt die Kognitivierung ethnisch kodierter Konflikte diese gezielt auf Distanz und vermeidet mit der Moralisierung auch die Kränkung der ‚Kulturträger‘ (Radtke 2016: 60-61).

Zudem sollen die den Konflikten zugrundeliegenden Interessen bestimmt und danach pragmatische Kompromisse angestrebt werden. Die in den modernen Gesellschaften verankerte Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre kann dazu genützt werden, partikulare Weltbilder und Überzeugungen zu de-thematisieren, zu privatisieren und zu individualisieren (Radtke 2016: 51). Da moderne Gesellschaften in Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Gesundheit, Erziehung usw. gegliedert sind, sollen Anerkennungsforderungen statt an die Gesamtgesellschaft an Funktionssysteme adressiert werden: „Weil es konkret um Teilnahmechancen [in Funktionssystemen] [...] geht, können [auf diese Weise] Anerkennungsforderungen in Verteilungsfragen übersetzt werden“ (Radtke 2016: 53).

Während die in diesem Abschnitt skizzierten Ansätze sich auf die Kultur sowie Multi- und Interkulturalität im Allgemeinen beziehen, haben kulturalistisch gedeutete Konflikte rund um den Islam in Europa in den letzten Jahrzehnten eine besondere Brisanz erfahren (Spielhaus 2006; Daniel 2012; Lingen-Ali 2012; Hafez & Schmidt 2015). Umso dringlicher scheint deshalb, dass sich zum Islam bekennende Menschen in Europa an gesellschaftlichen Dialogen beteiligen können und zwar unter der Vermeidung der bereits erwähnten konzeptionellen wie auch sozialpolitischen Tücken und Fallen. Während in der Öffentlichkeit der Streit um kollektive Identitäten das Feld des interkulturellen Dialogs mit „dem Islam“ dominiert, zeichnet sich in jüngster Zeit eine neue Tendenz dazu ab, im Bereich der funktionalen Subsysteme mit Musliminnen und Muslimen in Bezug auf konkrete Funktionen Dialoge zu führen und gemeinsam mit ihnen nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Zu diesen gehört auch die interreligiöse Kommunikation im Bereich der Seelsorge.

Obwohl interkulturelle Kommunikation in der muslimischen Seelsorge noch ein weitgehend unerforschtes Feld ist, lassen sich aus kultur- und religionsübergreifenden Studien verschiedene Anhaltspunkte dazu gewinnen. Anhand zweier Fallstudien etwa hat Lartey (2003) die Notwendigkeit einer Seelsorge, die Menschen in ihrer Andersheit, Eigenheit und Ähnlichkeit ernst nimmt, veranschaulicht. Frame (2004) hat in einer Studie die Herausforderungen der Seelsorge im Blick auf interkulturelle Ehen in den USA untersucht. Chaturvedi et al. (2009) befassten sich in einer Studie mit der Einmischung („collusion“) der Verwandten bei der palliativen Behandlung von Patienten und verwiesen dabei auf die diesbezüglichen Unterschiede zwischen indischen und westlichen Kulturen. Balci-Sentürk & Freund (2018) kamen in einer Online-Befragung in Deutschland zum Schluss, dass hochreligiöse Musliminnen und Muslime bei belastenden Problemen häufiger Imame und weibliche Religionsbedienstete aufsuchen als Psychotherapeuten. Schließlich haben Epner & Baile (2012) anhand der Geschichte von vier Krebserkrankten aus unterschiedlichen Kulturen die Problematik eines essentialistischen Kulturverständnisses in der Pflege aufgezeigt und zugleich zu einer transkulturellen Annäherung angeregt:

A newer, cross cultural approach to culturally competent clinical practice focuses on foundational communication skills, awareness of cross-cutting cultural and social issues, and health beliefs that are present in all cultures (Epner & Baile 2012: 33).

Diese exemplarisch herangezogenen Studien machen deutlich, dass kulturelle und religiöse Differenzen ebenso wie transkulturelle Querverbindungen für Seelsorge in hohem Maße relevant sind, was Arbeiten zur „interkulturellen Seelsorge“ bereits in Ansätzen aufgegriffen haben (Schneider-Harpprecht 2001; Federschmidt 2002).

2 Muslimische Seelsorge im Asylwesen

Als erstes Fallbeispiel dient die muslimische Asylseelsorge im Bundesasylzentrum Juch in Zürich, wo seit 2014 der Testbestrieb für beschleunigte Asylverfahren mit maximal 140 Tagen Aufenthaltsdauer durchgeführt wird. Im Rahmen eines Pilotversuchs waren dort von Juli 2016 bis Juni 2017 insgesamt drei muslimische Seelsorgende mit einem Stellenumfang von insgesamt 70 % tätig, deren Tätigkeit und Interaktionen in einer formativen Evaluation über 10 Monate intensiv begleitet und mittels unterschiedlicher Erhebungsmethoden evaluiert wurde (Schmid et al. 2017). In dieser Zeit lebten Gesuchstellende aus 49 Herkunftsländern in dem Zentrum. Die Mitarbeitenden des Zentrums in den verschiedenen Diensten wiesen ebenfalls sehr unterschiedliche Hintergründe auf. Damit bestand ein hohes Maß an kultureller Diversität auf sehr engem Raum, was vielfältige Interaktionen und Konflikte hervorbringen kann. Hinzu kommen mögliche Konflikte in Bezug auf den schweizerischen Kontext.

In den Jahren, in denen besonders viele Gesuchstellende aus muslimisch geprägten Kontexten in die Schweiz kamen, entstand die Idee, neben der bestehenden katholischen und reformierten Seelsorge im Juch-Zentrum eine muslimische Seelsorge einzurichten. Die sprachliche, kulturelle und religiöse Nähe der muslimischen Seelsorgenden zu dieser Gruppe der Gesuchstellenden sollte als Ressource dafür dienen, einen Zugang zu finden zu Personen, den andere nicht herstellen können. In diesem Sinne äußerte sich auch ein Sicherheitsmitarbeiter des Testbetriebs in einem Interview im Rahmen der Evaluation: „Wenn man merkt, dass man selber keinen Zugang zu dieser Person findet, der Seelsorger aber schon, dann ist eine Zusammenarbeit sinnvoll.“ So fand an verschiedenen Schnittstellen auch eine interprofessionelle Zusammenarbeit statt, insbesondere mit dem Gesundheitspersonal, das in manchen Fällen gezielt die Seelsorge einbeziehen konnte. Aufgrund der begrenzten Stellenanteile der muslimischen Seelsorgenden und aufgrund der zunächst unzureichenden Information der anderen Dienste über deren Tätigkeit hielt sich diese Zusammenarbeit jedoch in Grenzen.

Anhand von ausgewählten Beispielen basierend auf der bereits erwähnten Evaluationsforschung soll aufgezeigt werden, wie muslimische Asylseelsorge als Steuerungsinstrument in Bezug auf kulturelle Diversität fungieren kann:

Ein erstes Phänomen, das sich beobachten ließ, ist ein gewisser Rückzug von Gesuchstellenden in „ethnische Kolonien“ (Heckmann 1991), in denen sie sich geborgen fühlen und in ihrer Muttersprache ausdrücken können. Dadurch kann aber auch das Risiko von interethnischen und interkulturellen Konflikten ansteigen, zu denen es im Juch-Zentrum auch immer wieder kam. Die Seelsorgenden konnten meist einen Zugang zu unterschiedlichen Gruppen finden und führten vertiefte Seelsorgegespräche mit Gesuchstellenden aus 20 verschiedenen Ländern. Dabei wirkte sich die kulturelle und sprachliche Affinität zwischen Gesuchstellenden und Seelsorgenden förderlich auf das Zustandekommen von Seelsorgegesprächen aus. Die Gesuchstellenden wandten sich jedoch quer zu ihrer kulturell-ethnischen Herkunft mit ganz unterschiedlichen alltagsbezogenen, psychologischen, sozialen und religiösen Anliegen an die Seelsorgenden und wiesen unterschiedliche Grade von Religiosität und verschiedene Formen von Spiritualität auf.

Die Seelsorgenden waren auch selbst in Konflikte involviert. Manche Mitarbeitende des Zentrums, die aus islamisch geprägten Ländern stammten, schienen in Bezug auf den Islam und bestimmte kulturelle Praktiken Deutungshoheit zu beanspruchen. Es lässt sich vermuten, dass sie deshalb ihre eigenen Weltbilder und Erinnerungen auf die muslimischen Seelsorgenden projizierten. Ein solch negatives Vorverständnis trug zu Misstrauen und auch zu Konflikten bei. So kam es zu Situationen, in denen einem muslimischen Seelsorgenden vorgeworfen wurde, sich politisch geäußert zu haben. Der Konflikt ließ sich von außen nicht genau rekonstruieren. So kann man nicht sagen, ob sich ein Seelsorgender tatsächlich politisch geäußert hat, ob er sich von einem anderen Mitarbeitenden provozieren ließ und welche Interaktion zwischen den beiden stattfand. Eine Mitarbeiterin des Zentrums führte diesen Zwischenfall auf eine Verlagerung der ethnisch-kulturellen Konflikte aus dem jeweiligen Herkunftsland in die Schweiz zurück: „Es ist offensichtlich, dass es Schwierigkeiten gab wegen der Herkunft der muslimischen Seelsorger und diesen Mitarbeitern. Sie sind ja Kurden, und diese sind Türken. Und das ist glaube ich so die große Schwierigkeit.“ Das Narrativ eines interethnisch-interkulturellen Konflikts zwischen Türken und Kurden wurde jedenfalls wirksam und trug teils zu Misstrauen bei, das durch eine dezidiert laizistische Kritik an religiöser Seelsorge im Allgemeinen verstärkt wurde. Die letztere Position wurde kulturübergreifend von verschiedenen Akteuren vertreten. Dieser Konflikt führte aber dazu, dass die Seelsorgenden danach noch vorsichtiger geworden sind und auch nach außen noch stärker ihre spezifische Rolle deutlich gemacht haben.

Die interkulturellen Konfliktlinien ließen sich im Laufe des Pilotprojekts durch eine stärkere Betonung transkultureller Dimensionen überwinden. Die Möglichkeit dazu war bereits strukturell im Pilotprojekt angelegt. Als muslimische Partnerorganisation für das verantwortliche Staatssekretariat für Migration (SEM) fungierte die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ), die ein breites Spektrum unterschiedlicher kulturell geprägter muslimischer Gemeinschaften repräsentiert und nach außen vertritt. Auch die Biografien der drei muslimischen Seelsorgenden weisen verschiedene Bezugspunkte auf: während eine Person aus Syrien stammt und erst seit wenigen Jahren in der Schweiz lebt, ist die zweite türkischstämmig und in der Schweiz aufgewachsen und die dritte ebenfalls türkischstämmig, hat aber auch in Syrien und in der Schweiz studiert, wo sie seit 2002 lebt. Wenn die beiden Letztgenannten im Asylzentrum als Türken bezeichnet werden, so wird dies in keiner Weise ihren hybriden Identitäten gerecht. Und auch die Gesuchstellenden stehen selbst vor der Herausforderung, ihre erinnerte Herkunft, die Lebenshorizonte im Asylzentrum und die Realität in der Schweiz, der sie durch gemeinnützige Arbeitseinsätze und Besuche außerhalb des Zentrums begegnen, zusammenzuführen. Wie die Seelsorgenden berichteten, haben manche Gesuchstellende ein einseitiges Bild von europäischer Kultur und Lebenspraxis, mit dem sie sich gemeinsam mit den Seelsorgenden auseinandersetzen konnten. Da die Seelsorgenden vielfach Sprache, Kultur oder Religion mit den Gesuchstellenden teilten, konnten sie diese vielleicht glaubwürdiger an den Schweizerischen Kontext heranführen, als eine neutrale oder allein in der Schweiz verankerte Person dies hätte tun können.

Die Seelsorgenden konnten hier also eine auf Transkulturalität beruhende Brückenfunktion wahrnehmen, indem sie diese nicht nur im Alltag vorlebten, sondern auch eine pluralitätskompatible, dialogfähige und auf die Schweiz bezogene Islamauslegung vertraten. Durch Herstellen eines neuen Identitätsangebots konnte vermieden werden, dass Konflikte und Abgrenzungen, die in den Herkunftskontexten wirksam sind, importiert wurden. So gingen in der Zeit des Pilotprojekts auch die Indikatoren abweichenden Verhaltens verglichen mit dem Vorjahr deutlich zurück, auch wenn sich das nicht automatisch auf die Präsenz der muslimischen Seelsorgenden zurückführen lässt. Die Seelsorge erwies sich über ihre stabilisierende, tröstende und heilende Funktion für die Seelsorgeempfänger hinaus als Konfliktprävention und Integrationsmittel. Ihre Tätigkeit im Asylzentrum liegt weniger in der Konfliktschlichtung, sondern weitgehend im Vorfeld von Konflikten. Die interreligiöse Zusammenarbeit diente ebenfalls dazu, Konfliktlinien zu überlagern, indem muslimische und christliche Seelsorgende intensiv zusammenarbeiteten, für sie wichtige Lernprozesse vollzogen und damit – auch entgegen manchen Vorerwartungen – ein friedliches Miteinander praktizierten. In gemeinsamen interreligiösen Feiern aus Anlass von Weihnachten, des Ramadans und des islamischen Opferfests wurde dies auch sinnlich erfahrbar.

Die muslimischen Seelsorgenden waren schließlich auch Ansprechpersonen für nicht-muslimische Gesuchstellende, mit denen mehr als ein Fünftel ihrer Seelsorgegespräche geführt wurden. Somit erwies sich ihre Herangehensweise als adressatenoffen und inklusiv. Die menschliche Dimension stand bei der Seelsorge im Vordergrund, nicht die kulturelle. Einer der muslimischen Seelsorgenden brachte das wie folgt zum Ausdruck: „Die Religion, Nationalität, Hautfarbe oder Sprache spielen keine Rolle. In meinem Glauben und für mich sind alle Menschen gleich. Ich behandle alle Menschen, Muslime oder Nicht-Muslime, Araber oder Nicht-Araber gleich.“ Gesuchstellende konnten somit in der Begegnung mit den Seelsorgenden einen Raum des Vertrauens und des Angenommenseins erleben. Indem die Seelsorgegespräche Zuversicht vermittelten, trugen sie auch zu einem gelingenden Zusammenleben im Zentrum bei.

3 Weiterbildung für muslimische Spitalseelsorge

Die Weiterbildung zur muslimischen Seelsorge und Beratung, die das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) von 2017 bis 2019 in Kooperation mit der Trägerschaft QuaMS – Qualitätssicherung der muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen im Kanton Zürich durchführt, dient hier als zweites Fallbeispiel. Der Weiterbildungslehrgang von acht Tagen und das daran anschließende Praktikum von 60 Stunden bereiten zukünftige muslimische Seelsorgende auf eine Tätigkeit in öffentlichen Institutionen wie Spitälern vor. Die Entwicklung eines muslimischen Seelsorgeangebots antwortet dabei auf einen aktuellen gesellschaftlichen Bedarf. Für die im Kanton Zürich etwa 100.000 lebenden Musliminnen und Muslime gibt es dafür bis anhin kein geregeltes Angebot.

An der ersten Durchführung des Weiterbildungslehrgangs von September bis Oktober 2018 nahmen sechs Frauen und sechs Männer teil, die alle im Kanton Zürich beheimatet sind und entweder einen Grundkurs oder im Ausland ein Bachelor- bzw. ein Masterstudium in Islamwissenschaft oder islamischen Studien absolviert haben. Die Gruppe von Teilnehmenden war sehr heterogen zusammengesetzt und brachte unterschiedliche Erfahrungen im Bereich der Seelsorge mit. Zusätzlich waren am Lehrgang muslimische wie auch reformierte und katholische Seelsorgende als Referenten beteiligt. Dies eröffnete im strukturellen Sinne Räume interkulturellen und interreligiösen Lernens. Das Praktikum fand im Anschluss von Oktober 2018 bis April 2019 statt.

Muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen ist ein neues Tätigkeitsfeld. Während theologische, konzeptionelle und begriffliche Klärungen sich noch in den Anfängen befinden (Badawia et al. im Druck), zeichnet sich in der Praxis der Bedarf an der Bildung eines Rollenprofils und an einem professionellen Angebot muslimischer Seelsorge ab. Das Rollenprofil von Seelsorgenden sowie die Entwicklung einer professionellen Haltung waren denn auch ein durchgängiges Thema der Weiterbildung. Am dritten Kurstag zum Thema „Gesprächsführung, Beratung und Vermittlung“ wurden mittels theoretischer Grundlagen und der Durchführung von Rollenspielen die Teilnehmenden in die Gesprächsführung mit Patienten und Angehörigen sowie die Beratung im interprofessionellen Umfeld eingeführt (s. Programm zum Weiterbildungslehrgang). In den Rollenspielen führten die Teilnehmenden in Gruppen Seelsorgegespräche anhand fingierter Fallbeispiele aus dem Spitalkontext durch. Dabei nahmen sie abwechselnd die Rolle der Patienten, der Seelsorgenden, der Angehörigen oder als Beobachter ein. Im Anschluss wurden die gespielten Szenen im Plenum reflektiert. Neben dem Einüben der zentralen Fertigkeit des Zuhörens in der Seelsorge wurde auch darüber diskutiert, welche Worte den Patienten in schwierigen Situationen helfen könnten. Dabei stellten die Teilnehmenden die Krankheit der Patienten oft automatisch in einen Bezugsrahmen zur Religion. Eine Teilnehmerin formulierte dies wie folgt: „Sätze wie ‚vielleicht wollte Allah ja auch etwas Positives‘ hätten mich als Muslimin abgeholt.“ Eine andere erklärte: „Wir können nicht beurteilen, ob das, was uns geschieht, etwas Negatives oder Positives ist. Nur Gott kann dies beurteilen. Alles ist eine Prüfung und das hätte man anmerken können.“ Krankheit und Leiden werden im Islam vielfach als eine Prüfung durch Gott und als in einem größeren Sinndeutungshorizont stehend verstanden (Renz et al. 2008). Islamische Menschenbilder sind vielfach durch eine alles umfassende Beziehung des Menschen zu Gott geprägt. Für die Betreuung und Begleitung von muslimischen Patienten ist das Wissen und Verstehen um derartig theologische Deutungshintergründe grundlegend (Tittus-Düzcan 2018). Durch die kulturelle und religiöse Nähe zu den Patienten können muslimische Seelsorgende hierfür die nötige transkulturelle Übersetzungsarbeit leisten, ohne dabei jedoch automatisch gängige muslimische Deutungen auf die Patienten zu projizieren. Im Sinne der Patientenzentrierung von Seelsorge ist jeweils zu fragen, welche Sinnhorizonte und Deutungen für die Patienten mit ihren hybriden Identitäten prägend sind.

Ein wiederkehrendes Thema des Weiterbildungslehrgangs war zudem das Sprechen und die Benachrichtigung über unheilbare Krankheiten und den bevorstehenden Tod gegenüber muslimischen Patienten und deren Angehörigen. Gemäß der geltenden Patientenautonomie in Spitälern hat der Arzt die Pflicht, Patienten über ihren Krankheitsverlauf zu informieren und mit ihnen weitere Schritte, wie etwa die Umstellung von einer kurativen zu einer palliativen Behandlung, zu besprechen. Anhand von zwei unterschiedlichen Fallbeispielen wurde aufgezeigt, dass dieses Vorgehen zu Konfliktsituationen mit Familienangehörigen von muslimischen Patienten führen kann. In beiden Fällen verweigerten sie dem jeweiligen behandelnden Arzt, die Diagnose dem Patienten direkt mitzuteilen. Im Hintergrund steht hier auch die unter Muslimen verbreitete Vorstellung, dass Hoffnung beim Besuch von Kranken gefördert und gestärkt werden soll (Göksu & Ilkilic 2018). Die direkte Benennung des baldigen bevorstehenden Ablebens kann für muslimische Familien abschreckend wirken und sie dazu veranlassen, sich von den Ärzten und Pflegenden zu distanzieren, was wenig hilfreich für die Planung weiterer Behandlungsschritte ist. Es wäre aber eine Verengung, die ablehnenden Reaktionen von einem rein religiös-kulturellen Interpretationsmuster aus zu betrachten. Der Einbezug transkultureller Komponenten ist für das Gelingen einer seelsorgerischen Begleitung ebenso zentral. Persönliche Haltungen oder Ängste spielen auch hier eine Rolle. Diese können von Verunsicherung bis zu Schock oder einer allgemeinen Ablehnung gegenüber den Ärzten reichen. Einige Angehörige wollen auch schlichtweg den Patienten in seinen letzten Tagen nicht belasten, was auf Verwandte einer nicht-muslimischen Familie ebenso zutreffen könnte.

Zu den zentralen Standards der Seelsorge gehört das patientenzentrierte Gespräch, das, wie durch obiges Beispiel ersichtlich, eine wichtige transkulturelle Komponente in der Seelsorge bildet. Seelsorge in öffentlichen Institutionen findet in einem kulturell und weltanschaulich pluralen Gesellschaftskontext statt, wobei die Patienten mit ihren Anliegen und Sorgen im Vordergrund stehen. Die Teilnehmenden wurden in den Rollenspielen angehalten, dies ebenso zu berücksichtigen und nicht mit Vorannahmen bezüglich religiöser Praxis oder Bedürfnisse oder voreiligen Aussagen in das Gespräch hineinzugehen. Auch wenn es sich bei der muslimischen Seelsorge um ein Angebot auf Anfrage und nicht um eine aufsuchende Seelsorge handelt, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass bei den Patienten oder den Angehörigen ein religiöses Bedürfnis besteht und Religion und Glaube eine gemeinsame Basis für den Besuch bilden. Einige Teilnehmende stellten sich deshalb die Frage, ob beim Eintreten ins Zimmer der Patienten, wie unter Musliminnen und Muslimen weit verbreitet, mit „Salam Aleikum“ begrüßt und mit Du angesprochen werden solle oder ob nicht eine andere Begrüßungsformel und das Siezen angebrachter wären. Eine Teilnehmerin der Weiterbildung berichtete, dass sie beim Eintreten ins Zimmer einer türkischstämmigen Frau kurz gestockt und überlegt habe, ob sie nicht lieber „Merhaba“ anstatt „Salam Aleikum“ sagen sollte, da die Frau kein Kopftuch trug und von ihr allgemein als eher säkular eingeschätzt wurde. Die angehende Seelsorgerin entschied sich in Sekundenschnelle für die Begrüßungsformel „Merhaba“. Die Frau habe sogleich positiv reagiert und es habe sich ein längeres Gespräch zwischen den beiden ergeben. Hier fand die angehende Seelsorgerin aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und des gleichen kulturellen Hintergrunds einen raschen Zugang zur Patientin; Religion spielte bei diesem Besuch keine Rolle.

Muslimische Seelsorgende stehen somit vor der Herausforderung, in emotional belastenden Situationen zwischen verschiedenen Weltbildern, Positionen, Sichtweisen und Aufträgen der verschiedenen Berufsgruppen transkulturell zu vermitteln. In dem sie theologisches Wissen und religiöse Deutungs- und Sinnhorizonte mitnehmen, agieren sie zugleich aus einer transdifferenten Positionalität heraus.

4 Diskussion und Schlussfolgerungen

Interkulturelle Seelsorge basiert auf dem Gedankengut, dass bei der Betreuung von Menschen deren kulturelle Prägung zu berücksichtigen sei (Lartey 2003). Da christliche Seelsorgende in der Begleitung von andersreligiösen Menschen nicht selten an kulturelle Grenzen stoßen (Schneider-Harpprecht 2002), haben in den letzten Jahren verschiedene Akteure auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Seelsorge interkulturell und interreligiös zu gestalten. Es wäre aber irreführend, wenn dabei von einem essentialistischen Kulturverständnis ausgegangen würde. Gerade die Idee eines Imams als Seelsorger ist bereits das Produkt einer kulturellen Hybridisierung, weil hier die Rolle eines muslimischen Gelehrten als religiöse Autorität und die eines christlichen Krankenhausseelsorgers zu einem neuen Berufsbild verschmelzen (Nielsen 2018).

Muslimische Seelsorge steht vor der Herausforderung, eine vielschichtige, mit kulturellen Codes versehene Kommunikation mit verschiedenen Stakeholdern, von den Behörden und sonstigen in der Administration tätigen Personen über christliche Seelsorgende, Ärzte und Therapeuten bis hin zu einer ethnisch, religiös, sozial, demografisch und weltanschaulich heterogenen Klientel, zu bewältigen. In Bezug auf die letztere Dimension ist, wie dem Fallbeispiel der Asylseelsorge zu entnehmen ist, die Fähigkeit, ethnische, religiöse und konfessionelle Konflikte außen vor zu lassen, von zentraler Bedeutung. Demselben Beispiel ist aber auch zu entnehmen, dass kulturell kodierte Konflikte, in denen muslimische Seelsorgende für eine ganze Kultur verantwortlich gemacht werden, nicht ganz zu vermeiden sind, denn „[i]nterkulturelle Konstellationen produzieren geradezu kulturelle Konflikte, und diese werden dann in Individuen personalisiert ausgetragen“ (Hauschildt 2002: 261). Dennoch ist die Fähigkeit der muslimischen Seelsorgenden, transkulturell zu handeln, sowie ihre Bereitschaft, aus einer transdifferenten Positionalität heraus Menschen in ihrer kulturellen Welt abzuholen und zugleich hybriden Identitäten Rechnung zu tragen, konfliktmildernd. Nicht zuletzt lässt sich aus diesem Beispiel die Lehre ziehen, dass ein Gelingen der muslimischen Seelsorge auch davon abhängt, in welchem Ausmaß auch die restlichen Mitarbeitenden von Einrichtungen kulturell sensibilisiert worden sind und zwar in dem Sinne, dass sie in der Lage sind, grenzziehende, essentialistische kulturelle Kategorien zu überwinden.

Bezüglich der Weiterbildung muslimischer Seelsorgender konnte anhand des Fallbeispiels gezeigt werden, dass eine Mischung von Muslimen und Nicht-Muslimen seitens der Dozierenden, eine kulturell, sozial und demografisch heterogene Teilnehmerschaft sowie auf die Überwindung von kulturellen und sozialen Grenzen ausgerichtete Rollenspiele die angehenden muslimischen Seelsorgenden frühzeitig für transkulturelle Räume sensibilisieren. Hier zeigt sich auch, wie wichtig es ist, dass Seelsorgende sensibel auf verschiedene kulturelle und religiöse Codes eingehen und Deutungen ihrer Gegenüber in ein plurales Spektrum muslimisch geprägter Positionen und Praktiken einzuordnen vermögen.

Eine transkulturell sensible Interkulturalität hat zur Folge, dass Seelsorgende ihrem Gegenüber nur dann gerecht werden, wenn sie darauf verzichten, zu werten oder vorschnell Verhaltensweisen vor einem angenommenen Deutungs- und Sinnhorizont erklären zu wollen und damit die individuellen Beweggründe von Patienten und Angehörigen zu vernachlässigen. Gleichzeitig bringen muslimische Seelsorgende im Sinne einer Transdifferenz das Wissen um theologische und religiöse Deutungs- und Sinnhorizonte mit, was für eine Begleitung von muslimischen Seelsorgeempfängern maßgebend ist und eine christliche Seelsorge nicht leisten kann. Sind diese Bedingungen erfüllt, so kann muslimische Seelsorge in emotional belastenden Situationen Räume für Gefühle und Gedanken öffnen, die Betroffenen begleiten und zur „Befreiung von Individuen und Gruppen zu selbstorganisiertem und selbstverantwortlichem Verhalten” (Schneider-Harpprecht 2002: 48) beitragen.

Über die Autoren

Andrea Lang

Lic. sc. rel., studierte an den Universitäten Zürich und Wien Religionswissenschaft und Religionssoziologie. Ihre Lizentiatsarbeit verfasste sie im Rahmen des NFP-Projekts „Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik in der Schweiz?“. Nach dem Studium war sie als Deutsch- und Berufsschullehrerin tätig. Seit 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg und ist Leiterin des Weiterbildungslehrgangs „Muslimische Seelsorge und Beratung im interreligiösen Kontext“.

Hansjörg Schmid

Dr. theol., ist Professor für Interreligiöse Ethik und christlich-muslimische Beziehungen an der Universität Freiburg und seit 2015 Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG). Er ist Begründer des wissenschaftlichen Netzwerks Theologisches Forum Christentum – Islam und war bis 2014 dessen Koordinator. Seine Forschungen sind auf sozialethische Fragen in interreligiöser Perspektive sowie auf Muslime in der Schweiz und in Europa fokussiert. In diesem Rahmen befasst er sich mit muslimischer Seelsorge an der Schnittstelle von Religion und Gesellschaft.

Amir Sheikhzadegan

Dr. phil., studierte an den Universitäten Teheran und Zürich Soziologie, Ethnologie und Informatik. Nach seiner Promotion an der Universität Zürich folgten Postdoc-Projekte an den Universitäten Zürich, Freiburg, Berlin und Sydney. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. narrative Identität, spirituelle Transformation, Seelsorge und muslimische Organisationen. Zurzeit ist er im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit sowie am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg als Senior-Forscher tätig.

Autorenbeteiligungen

Alle Autoren übernehmen die volle Verantwortung für den gesamten Inhalt und die Einreichung des Manuskripts.

Forschungsförderung

Keine

Widerstreitende Interessen

Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Einwilligungserklärung

Einwilligungserklärungen wurden von allen Studienteilnehmern eingeholt.

Erklärung zur ethischen Zulassung

Das Forschungsdesign, ethische Fragen und die Ergebnisse der Evaluation der muslimischen Asylseelsorge wurden vom Forschungsbeaufragten und weiteren Experten des Staatssekretariats für Migration (SEM) sowie von einem Projektbeirat aus Vertretern der Kirchen sowie der jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz validiert.

Author contributions

All the authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission.

Research funding

None declared.

Competing interests

Authors state no potential conflict of interest.

Informed consent

Informed consent was obtained from all individuals included in this study.

Ethical approval

The design of research, ethical issues and the results of the evaluation of the Muslim chaplaincy for asylum seekers were validated by the commissioner for research and further experts of the State Secretariat for Migration (SEM) and by a project advisory board comprising representatives of the churches and the Jewish and Muslim communities in Switzerland.

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Online erschienen: 2019-11-09
Erschienen im Druck: 2019-11-05

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 1.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/spircare-2019-0017/html
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