Die Resonanz des Begriffes „A.“ bei Psychotherapeuten und Psychoanalytikern mag auf einer tiefen Intuition (Motto: Nur der gegenwärtige Moment ist „wirklich“), einem Missverständnis (Motto: Die Beachtung der Gegenwart ist gegenüber der Vergangenheit und Zukunft immer vorrangig) und einem impliziten Vorverständnis (Motto: Nicht-Wissen ist bedeutsamer als Wissen) beruhen. Auch bleiben der Hintergrund und die Herkunft des Begriffes meist im Dunkel. Klar ist dagegen, dass der japanische Zen-Meister Shunryu Suzuki, der in den 50iger Jahren nach San Francisco kam und dort mit großem Einfluss lehrte, den ursprünglich aus dem Japanischen stammenden Begriff in die westliche Welt einführte. Kaum ein spirituelles Buch ist so bekannt wie Suzukis „Zen-Geist – Anfänger-Geist“ (Suzuki 1990). Und kaum eine Stelle wird häufiger zitiert als die Folgende: „Des Anfängers Geist hat viele Möglichkeiten, der des Experten hat nur wenige.“ (Suzuki 1990: 21). Dabei wird diese Aussage nicht selten ohne Berücksichtigung des genauen Kontextes gelesen und damit vorschnell auf einen therapeutischen Kontext übertragen. Der Kontext des ganzen Buches und des Absatzes über den „A.“ ist jedoch der Folgende: Suzuki spricht zu seinen Schülern, die eine zen-buddhistische Meditationspraxis ausüben, die Zazen (absichtsloses Sitzen in Stille und Versunkenheit) genannt wird. Suzuki geht dabei auf die Schwierigkeiten des Meditierenden oder Praktizierenden ein, eine Geisteshaltung zu entwickeln, die nicht dualistisch ist, also einen mentalen Zustand zu entwickeln, der nicht ständig zwischen Polaritäten unterscheidet. Es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Text, in dem Begriffe auf eine philosophisch klare Definition eingegrenzt werden, sondern um eine anleitende Unterstützung der Zen-Praxis seiner Schüler: es geht also um eine profunde Unterstützung der meditativen Praxis, einer Praxis, die auf eine Jahrtausend alte Tradition zurückblickt und in der der japanische Zen-Meister Dogen aus dem 13. Jahrhundert wegweisend wirkte:
„Dogen-zenji, der Begründer unserer Richtung, betonte immer, wie wichtig es ist, unseren grenzenlosen, ursprünglichen Geist wiederzugewinnen. Dann sind wir immer uns selbst treu, im Einvernehmen mit allen Wesen, und können tatsächlich praktizieren“
Die Wiedergewinnung eines ursprünglichen, grenzenlosen Geistes, der sich im absichtslosen Sitzen aktualisieren kann, ist also der Kern dieser zentralen buddhistischen Praxis, die im Zazen eingeübt, aber auch in den Alltag übertragen werden kann.
Suzuki erwähnt aber auch den „Experten-Geist“, den er als Polarität zum „A.“ versteht und der in etwa dem Alltagsbewusstsein entspricht: dualistisch, absichtsvoll, intentional, fokussierend, reaktiv, vergleichend, bewertend. Demgegenüber wäre der „A.“ non-dual, absichtslos, nicht-wissend, öffnend, nicht-reaktiv, nicht-wertend. Etwas vereinfachend könnte man differenzieren zwischen dem Bewusstsein in seinem trennenden Modus und dem Gewahrsein in seinem nicht-trennenden Modus. Und hier nun lässt sich eine Verknüpfung zwischen dem meditativen Weg des Zen-Buddhismus und dem analytischen Weg der Psychoanalyse finden. Diese Verbindung besteht in der grundlegenden und sehr schwierig zu entwickelnden Haltung der von Freud beschriebenen ‚gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘ des Psychoanalytikers in der analytischen Situation. Diese Haltung enthält ein quasi-meditatives Element, die genau in dieser Entwicklung eines non-dualen Gewahrseins besteht, das man auf einer funktionellen Ebene auch als Zulassen und Loslassen aller mentalen Ereignisse beschreiben könnte (Zwiebel & Weischede 2015). Da aber die analytische Situation eine Beziehungssituation ist, wird es früher oder später zu einer fokussierenden, konzeptualisierenden und deutenden Bewegung des Analytikers kommen, die allerdings auf dem Hintergrund der angedeuteten meditativen Haltung potentiell eine grundlegend andere Qualität bekommt. Spricht man also bei Berücksichtigung dieser kurz angedeuteten Zusammenhänge vom A. des Analytikers, dann ist dieses initiale und immer wieder zu realisierende Gewahrsein gemeint, das durch Absichtslosigkeit als Manifestation des mentalen Zulassens und Loslassens charakterisiert ist. Diese Absichtslosigkeit ließe sich auch als Selbstzurücknahme definieren:
„Alle egozentrischen Gedanken begrenzen unser umfassendes Bewusstsein. Haben wir keinen Gedanken an Erfolg und Ansehen, denken wir nicht an uns selbst, so sind wir richtige Anfänger. Dann können wir tatsächlich etwas lernen“
Bions „No memory, no desire, no understanding“ (Bion 2002) oder W. Polands „disziplinierte Verwendung des eigenen Selbst“ (Poland 2012) lassen die Nähe zu Suzukis Formulierungen anklingen. Und man kann postulieren, dass diese Haltung ein impliziter Kern professioneller Psychotherapie sein sollte (Zwiebel 2013).
Literaturverzeichnis
Bion WR (2002) Anmerkungen zu Erinnerung Wunsch. In: Spillius EB (Hg.) Melanie Klein heute. Band 2. Stuttgart: Klett-Cotta.Search in Google Scholar
Poland W (2012) Die analytische Haltung: Neugier im Dienste des Anderen. Vortrag auf der Herbsttagung der DPV in Bad Homburg.Search in Google Scholar
Suzuki S (1990) Zen-Geist, Anfänger-Geist. Bielefeld: Theseus Verlag.Search in Google Scholar
Zwiebel R (2013) Was macht einen guten Psychoanalytiker aus? Grundelemente professioneller Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.Search in Google Scholar
Zwiebel R, Weischede G (2015) Buddha und Freud: Präsenz und Einsicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.Search in Google Scholar
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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