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Habitus als non-deklaratives Gedächtnis

Zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Soziologie
Published/Copyright: February 9, 2017
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Allgemeiner Teil Jörg Michael Kastl Habitus als non-deklaratives Gedächtnis Zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Soziologie „ C'est parce que nous sommes impliqués dans le monde qu'il y a de l'implicite dans ce que nous pensons et disons à son propos." - Pierre Bourdieu 1 Einleitung: Vom Habitus einer Schnecke „Der Leib", sagt Bourdieu, „ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus" (1993: 35). Der Habitus, ein System von Erzeugungsschemata (1993: 102), sei „als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte (...) Präsenz der gesamten Vergan-genheit, die ihn erzeugt hat" (1993: 105) und zugleich „Vorwegnahme der Zu-kunft" (1993: 22). Berührt man die Atemorgane der Meeresschnecke Aplysia californica mit ei-nem Pinsel, beantwortet das Tier diesen Reiz mit einer Rückzugsbewegung. Setzt man es wiederholt dieser harmlosen Belästigung aus, „gewöhnt" es sich daran. Die Intensität der Reaktion nimmt sukzessive ab und am Ende wird der Reiz ignoriert. Wenn man über vier Tage hinweg jeden Tag zehnmal die Berüh-rung wiederholt, kann die Meeresschnecke dieses neue Muster über drei Wo-chen hinweg „speichern", auch wenn in der Zwischenzeit keine weitere Reizung mehr erfolgte (Squire/Kandel 1999: 41). Ein Schema des Verhaltens („Atemor-gane zurückziehen, wenn irgend eine Außenberührung erfolgt") hat sich diffe-renziert bzw. ein neues Schema ist an dessen Stelle getreten.1 Die Schnecke hat 1 Das - so wäre meine Vermutung - insofern durchaus produktiven Charakter haben kann, als es die Generierung einer prinzipiell offenen und transformierbaren Klasse von Verhaltensweisen gestatten kann. Nur dann sprechen wir von „Lernen", denn ge-nau genommen wiederholen sich nie genau dieselben Reizkonstellationen. Die Schnecke erwirbt eben ein Schema, dem in einem wie immer bescheidenen - Rah-men möglicherweise ganz unterschiedliche Reize assimiliert werden können: in der Literatur zu Kandels Experiment ist die Rede von Pinsel, Feder, Wasserstrahl usw. Auch bezüglich Druck, Lokalisation, Umfang, Intensität der Reizung dürfte ein ge-wisser Spielraum bestehen. Es geht hier m.a.W. um eine Typik. sozialersinn, 2/2004, S. 195-226
Published Online: 2017-02-09
Published in Print: 2004-11-01

© 2004 by Lucius & Lucius, Stuttgart

Downloaded on 9.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sosi-2004-0204/html?srsltid=AfmBOorxQjFKOuVIRTIbBMpEev8bDrl5CcPggDJqjtSRwZ8jqgNntrHU
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