Zusammenfassung
2017 legte der französische Psychoanalytiker Fethi Benslama anhand ausgewählter Texte eine psychoanalytische Deutung des Islam vor, der in eine Krise geraten sei. Symptomatisch hierfür seien Forderungen an Frauen, einzelne Körperteile oder den gesamten Körper zu bedecken. In der Frühzeit des Islam habe eine Verdrängung einer bestimmten Art des Frau-Seins stattgefunden; die Krise habe eine Wiederkehr des Verdrängten ausgelöst, auf die die Vorschriften reagierten.
Der vorliegende Aufsatz reanalysiert die Erzählung von der Zeugung des Propheten Mohammed mit der Methode der Objektiven Hermeneutik. Die Geschichte kann sowohl mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse im Islam interpretiert werden als auch als Mittel zur Herstellung von Glaubwürdigkeit im Kontext des mit der Prophetie Mohammeds verbundenen (zunächst politisch gelösten) Glaubwürdigkeitsproblems. Bekleidungsvorschriften könnten einen Versuch darstellen, die Krise des Islam zu beenden und die Glaubwürdigkeit wieder herzustellen.
Einleitung
Warum spielen im Diskurs über den Islam – nicht nur in Deutschland und anderen europäischen Ländern, sondern letztlich in allen Ländern, in denen Muslime leben – Kleidungsvorschriften für Frauen eine so herausragende Rolle? Warum fokussiert sich der Diskurs über den Islam so häufig auf die Frage nach dem Kopftuch bzw. nach Nikab, Hidschab, Tschador und Burka?
Für den französischen Psychoanalytiker Fethi Benslama ist dieses Phänomen ein ‚Symptom‘ für den gegenwärtigen Zustand ‚des Islam‘, ein Symptom, das es zu verstehen gelte. In seiner Praxis hat Benslama es mit einzelnen muslimischen Patienten zu tun, deren Symptome er zu verstehen versucht, in seinem 2017 erschienenen Buch Psychoanalyse des Islam. Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt verfolgt er jedoch das Ziel, den gegenwärtigen Zustand ‚des Islam‘ überhaupt zu verstehen. Dabei geht er – wie bei der Behandlung seiner Patienten – davon aus, dass ein Symptom Ausdruck einer Krise sei – hier nicht einer individuellen, sondern einer kollektiven – und dass dieses Symptom nur verstanden werden könne, wenn in die Vergangenheit geblickt werde (nicht in die Vergangenheit eines einzelnen Individuums, sondern in die ‚des Islam‘). Seine These lautet, dass in der Frühzeit des Islam eine Verdrängung stattgefunden habe, die über Jahrhunderte hinweg konstant geblieben sei. Seit einiger Zeit jedoch befinde sich der Islam in einer Krise und diese habe bedingt, dass das Verdrängte wieder aufgetaucht sei.
Was aber ist es, das Benslama zufolge verdrängt wurde? Seine Antwort lautet: Die Frau wurde verdrängt, präziser formuliert, bestimmte Facetten von Weiblichkeit. Dies geschah in der Frühzeit des Islam, und aktuell kommt – eben im Kontext der Krise des Islam – das Verdrängte wieder zum Vorschein. Jene Fülle von Fatwas (Rechtsgutachten), in denen gefordert wird, dass Frauen sich (genauer: ihre Haare, ihr Haupt, ihren Körper) bedecken sollten – es sind so viele Fatwas, dass Benslama von einem regelrechten „Fatwawahn“ spricht –, ist aus der Sicht Benslamas als eine Reaktion auf die „Wiederkehr des Verdrängten“ [1], der verdrängten Facetten von Weiblichkeit zu interpretieren, genauer gesagt, als der Versuch, diese wieder einzuhegen und zu kontrollieren. [2]
Benslama versucht seine These auf unterschiedliche Weise zu plausibilisieren, u.a. auf dem Weg einer Interpretation der biblischen Geschichte von Abraham. Dieser ist sowohl für das Judentum als auch für den Islam eine zentrale Figur, denn von ihm leiten sich beide Religionen her: Die jüdische Abstammungslinie verläuft über Sarah, Abrahams Frau, und deren Sohn Isaak, die islamische Linie über die Magd Hagar und deren Sohn Ismael. Benslamas Interpretation zufolge sind mit beiden Frauen unterschiedliche Facetten von Weiblichkeit verbunden. Sarah sei die „legitime Frau“ Abrahams, während Hagar die „andere Frau“ sei, die „das Begehren“ verkörpere. Dass die durch Hagar repräsentierten Facetten von Weiblichkeit verdrängt wurden, zeige sich daran, dass der Name Hagar (so gut wie gar) nicht im Koran erwähnt werde (siehe auch Twardella 2022).
Um seine These zu untermauern, bezieht sich Benslama jedoch nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf Quellen aus der Frühzeit des Islam, insbesondere auf eine Erzählung, die von der Zeugung des Propheten Mohammed handelt. Um diese soll es im Folgenden gehen; sie soll ein weiteres Mal interpretiert werden.
Das Warum und Wie einer Reanalyse der Erzählung von der Zeugung Mohammeds
Aus verschiedenen Gründen soll die Erzählung von der Zeugung Mohammeds hier erneut aufgegriffen und reanalysiert werden. Einer der Gründe besteht darin, dass diese Geschichte kaum bekannt, aber enorm faszinierend ist. Benslama ist zu verdanken, dass er auf sie aufmerksam gemacht und sie gedeutet hat, doch ist seine Interpretation in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend: Zum einen bleibt sie relativ grob, so dass die Feinheiten der Erzählung und die Vielzahl interessanter, überraschender und bedeutsamer Details kaum Berücksichtigung finden. Zum anderen kennzeichnet die Interpretation Benslamas, dass sie der Plausibilisierung der These von der Verdrängung des Weiblichen dient, was zur Folge hat, dass andere wichtige Aspekte der Erzählung außer Acht bleiben. Hinzu kommt schließlich, dass Benslamas methodisches Vorgehen alles andere als transparent ist.
Im Folgenden soll die Geschichte von der Zeugung Mohammeds also erneut analysiert bzw. interpretiert werden, und zwar mit Hilfe der Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2002: 58–156; siehe auch Wernet 2000). Mit dieser Methode ist es nicht nur möglich, die Feinheiten der Erzählung präzise herauszuarbeiten, sondern auch dergestalt eine Deutung zu entwickeln, dass dem Anspruch auf intersubjektive Überprüfbarkeit und Transparenz Genüge getan werden kann. Zudem wird die Reanalyse der Erzählung von der Zeugung Mohammeds dazu führen, dass Aspekte Berücksichtigung finden, die bei Benslama – aus dem oben genannten Grund – ‚unter den Tisch gefallen‘ sind. Neben Aspekten, die bei einer psychoanalytischen Deutung der Erzählung hervortreten, geraten auch solche in den Blick, die für eine Soziologie des Islam von Belang sind. Anders gesprochen: Es ergibt sich die Möglichkeit, die psychoanalytische Deutung mit einer soziologischen zu verbinden und auf diese Weise die Bedeutung dessen, was Benslama fokussiert hat, besser zu verstehen. Denn der Versuch, Kontrolle darüber zu haben, wie Frauen, wie ihr Körper in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Krise des Islam, die sich soziologisch gesehen als eine Krise der Glaubwürdigkeit bestimmen lässt. Dieses Problem taucht allerdings in der Erzählung von der Zeugung Mohammeds bereits auf – und wird gegenwärtig angesichts der Konfrontation des Islam mit der Moderne wieder akut. [3]
Bevor nun die Geschichte von der Zeugung Mohammeds reanalysiert wird, seien einige Bemerkungen vorweggeschickt: Unter welchen Bedingungen die Zeugung Mohammeds tatsächlich stattfand, lässt sich freilich nicht sagen. Die Geschichte, in der von ihr erzählt wird, ist – so könnte man behaupten – schlicht Fiktion. Vieles ist gewiss erfunden, doch dass sie in die Biographie Mohammeds aufgenommen wurde, bedeutet, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht nur dem Verfasser der Biographie, sondern auch deren Rezipienten plausibel erschienen sein muss. Und plausibel war sie – davon kann ausgegangen werden –, weil die Strukturen, die in ihr vorausgesetzt werden, ihren Rezipienten bekannt waren. Auch wenn es sich also bei dem Text, der von der Zeugung Mohammeds erzählt, um einen fiktionalen handelt, kann er dennoch als eine Quelle benutzt werden, die Auskunft über jene sozialen und kognitiven Strukturen gibt, welche in der Frühzeit des Islam auf der arabischen Halbinsel existierten.
Die Entstehung dieser Geschichte, genauer gesagt, die Entstehung der Biographie von Mohammed, von der diese Geschichte nur ein kleiner Teil ist, muss man sich als einen komplexen Prozess vorstellen: Nach Mohammeds Tod kursierte eine Vielzahl von Erzählungen über ihn, seine Worte und seine Taten, Hadithe genannt. Erst Jahre oder gar Jahrzehnte später wurden diese Erzählungen gesammelt und ihre Sammlung in eine Struktur gebracht – in die Struktur einer Biographie. Und von dieser entstanden verschiedene Versionen, die mit der Zeit immer „ausgereifter“ wurden (Schöler 1996). Die im Folgenden (re-)analysierte Geschichte von der Zeugung Mohammeds stammt aus einer Fassung der Biographie, die einem Mann mit Namen Ibn Ishak zugeschrieben wird. Dieser ist – wie gesagt – nur bedingt als deren ‚Autor‘ zu begreifen, weil er sich auf frühere Fassungen stützte, die er umarbeitete und erweiterte. Der Analyse zugrunde gelegt wird jene Übersetzung der Geschichte, welche sich in der deutschen Ausgabe des Buches von Benslama findet. Sie wurde im Jahr 1864 von dem Orientalisten Gustav Weil angefertigt (Weil 1864). [4]
Devianz und Konformität mit patriarchalen Strukturen
Die Erzählung, wie sie in dem Buch von Benslama abgedruckt ist, beginnt folgendermaßen:
[Abdallah] ging an einer Frau von den Benu Asa I. Abd Aluzza I. Kussei I. Kilab u.s.w. vorüber, (Benslama 2017: 177; siehe auch Weil 1864: 75)
Es ist von zwei Personen die Rede: zum einen von einem Mann, zum anderen von einer Frau. Der Eigenname des Mannes wird explizit erwähnt. Es geht also um ein konkretes männliches Individuum, das bekannt ist bzw. als bekannt vorausgesetzt wird. Über dieses wird jedoch nichts Genaueres gesagt, als dass es unterwegs ist und dabei an einer Frau vorbeikommt. Die andere Person, die Frau, wird nicht beim Namen genannt. Von ihr wird nicht als einzigartiger Person gesprochen, sie wird vielmehr ‚Kategorien‘ zugeordnet, zum einen unter dem Gesichtspunkt des Geschlechts, zum anderen unter dem der Stammeszugehörigkeit. [5] Selbstverständlich haben beide Personen ein Geschlecht und gehören beide einem Stamm an, doch nur in Bezug auf eine der beiden Personen wird beides erwähnt. Während also die eine Person, der Mann Abdallah, als einzigartiges Individuum eingeführt wird, erscheint die Frau nicht als ein solches, sondern wird über Statusmerkmale bestimmt.
Es heißt nun, Abdallah sei an der Frau vorbeigegangen. Die Frau hat also einen festen Ort, an dem sie sich – sitzend, stehend oder liegend – befindet, während Abdallah in Bewegung ist. Diese Bewegung führt aber nicht auf die Frau zu; sie ist nicht das Ziel, auf das sich Abdallah hinbewegt. Angesichts dessen stellt sich zum einen die Frage, was denn das Ziel von Abdallah ist. Wohin will er sich begeben? Zum anderen ist fraglich, ob es zu irgendeiner Art der Kontaktaufnahme kommt. Beachtet er sie und/oder sie ihn? Tauschen die beiden Blicke aus; findet eine Begrüßung statt? Gibt es irgendeine Art von Austausch, von Kommunikation zwischen ihnen? Wenn ja: Wie verläuft sie? Sollte es zu einem Austausch zwischen beiden kommen, stellt sich zusätzlich die Frage, ob die Differenzen, die bereits deutlich wurden, für diese Begegnung von Bedeutung sind und den Austausch strukturieren, sowie, ob die Differenz der Geschlechter sowie Individualität und Stammeszugehörigkeit zum Tragen kommen.
[…] welche die Schwester des Waraka I. Naufal I. Sad I. Abd. Aluzza war.
Nach wie vor wird der Eigenname der Frau nicht genannt, wird über sie nicht als einzigartiges Individuum gesprochen. Wurde zuvor der Stamm angeführt, dem die Frau angehört, wird nun ihre Position innerhalb des Stammes genauer bestimmt, und zwar vermittelt über einen Mann, als dessen weibliches Geschwister sie erscheint. [6]
Die Nennung des Eigennamens des Bruders lässt erneut darauf schließen, dass auch dieser bekannt ist, bzw. wird er als bekannt vorausgesetzt. Auffällig ist, dass zu dem Namen von Waraka auch der Name Abd. Aluzza gehört, der auch in der Bezeichnung des Stammes, dem die Frau angehört, vorkommt. Es kann davon ausgegangen werden, dass jene Namen, welche in der Bezeichnung des Stammes aufeinander folgen – eine Kette von Namen, die, wie das „usw.“ zeigt, nicht vollständig wiedergegeben wird –, die Namen von Stammesoberhäuptern sind. Wenn nun einer dieser Namen auch im Zusammenhang mit Waraka, dem Bruder der Frau, auftaucht, kann vermutet werden, dass Waraka nicht nur bekannt ist, sondern auch innerhalb seines Stammes aufgrund der Verwandtschaft mit einem Stammesoberhaupt eine besondere Stellung innehat. Das „I.“ im Namen des Mannes steht für ‚Ibn‘, was ‚Sohn‘ bedeutet und somit eine direkte Verwandtschaftslinie anzeigt.
Für die Frage, ob es nun zu einem Austausch zwischen Abdallah und der Frau kommt und wie dieser strukturiert ist, ist bedeutsam, dass die Frau nicht als Gattin, sondern als Schwester einem Mann – eben Waraka – zugeordnet wird. Kann daraus geschlossen werden, dass sie nicht verheiratet ist? Sehr wahrscheinlich. Jedenfalls hängt von der Frage, ob sie verheiratet ist oder nicht, ab, was bei einer Kontaktaufnahme zwischen den beiden geschehen kann sowie in welcher Form und über welche Inhalte die beiden miteinander kommunizieren.
Als sie ihm inʼs Gesicht sah,
Nun erfolgt tatsächlich ein Austausch zwischen den beiden Personen, genauer gesagt, eine Kontaktaufnahme. Und das Überraschende ist: Die Initiative geht nicht, wie man hätte erwarten können, vom Mann aus, von Abdallah, sondern von der Frau. In Bezug auf Abdallah ist fraglich, ob er an einem Kontakt mit der Frau interessiert ist. Ja, dass zunächst gesagt wurde, er bewege sich nicht auf die Frau zu, sondern gehe an ihr vorüber – habe also ein anderes Ziel –, spricht eher dagegen. Doch ganz so eindeutig ist die Sache nicht, muss er sich doch zumindest ihr zugewandt haben, da die Frau ihm sonst nicht ins Gesicht sehen könnte.
Hätte die Frau Abdallah nur aus der Distanz beobachtet, wäre wahrscheinlich nichts passiert; Abdallah wäre einfach weitergegangen, und die Frau hätte sich womöglich irgendwelche Gedanken gemacht, z.B. über die Frage, wohin Abdallah wohl gehen möchte. Der Blick ins Gesicht aber hebt die Distanz auf. Er stiftet eine Beziehung und kann der Beginn einer Interaktion sein. Für diese werden nun die sozialen Strukturen, die Deutungsmuster und sozialen Erwartungen, Normen und Regeln der Gesellschaft von Relevanz. Das wird sich etwa an Abdallahs Reaktion zeigen: Wie wird er den Blick der Frau deuten? Wird er ihn als bloße Wahrnehmung interpretieren, oder wird er ihn als Ausdruck einer Bereitschaft oder eines Wunsches deuten? Oder wird er bestimmte Absichten in ihn hineinlegen? Wird er den Blick beziehen auf soziale Regeln, etwa darauf, wie eine Frau sich gegenüber einem Mann verhalten sollte? Wird dabei von Bedeutung sein, dass die Frau, wie vermutet wurde, nicht verheiratet ist? Wird er den Blick womöglich als Ausdruck eines Begehrens, einer Bereitschaft zu bzw. eines Wunsches nach einer Intimbeziehung interpretieren? Und wie wird er auf der Basis der Deutung des Blicks sodann handeln?
sagte sie:
Die Frau behält die Initiative. Sie wartet nicht ab, bis Abdallah reagiert, bis er ihr signalisiert, ob er sich in einen Austausch mit ihr begeben möchte, sondern spricht ihn unmittelbar an. Sie bleibt die Aktive, während der Mann in der Position dessen verharrt, der nur reagieren kann.
Wie ist das Gesagte ins Verhältnis zu setzen zu dem Status, der der Frau im ersten Satz zugeschrieben wird? Wenn die Differenzen bezüglich des Status der beiden Personen als repräsentativ für die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit angesehen werden, dann lässt sich sagen, dass wir es hier mit patriarchalen Verhältnissen zu tun haben, in denen die Frau normalerweise nicht als Individuum, sondern als zugehörig zu einem Mann oder einem Stamm angesehen wird. Die Frau hier aber ignoriert diese Strukturen, ja, sie setzt sich mit ihrer Initiative über diese hinweg.
„wo willst Du hin, Abd Allah?“
Bemerkenswert ist zunächst, was die Frau nicht macht: Sie beginnt zwar ein Gespräch mit Abdallah, jedoch ohne ihn zuvor zu begrüßen. Sicher, eine Begrüßung wäre überflüssig, wenn die beiden schon vorher in einem Austausch gestanden hätten. Davon aber ist nicht die Rede. Vielmehr wird die Interaktion durch die Frage der Frau gerade erst eröffnet. Das Unterlassen der Begrüßung stellt folglich mindestens eine Verletzung einer Konvention, wenn nicht sogar einen persönlichen Affront dar, der als Ausdruck ihrer Geringschätzung Abdallahs interpretiert werden könnte. Hinzu kommt, dass die Frau auch nicht fragt, ob Abdallah Zeit für ein Gespräch mit ihr habe, sich nicht nach seinem Wohlergehen erkundigt o.ä., sondern ihn unvermittelt mit einer Frage konfrontiert. Sie adressiert ihn persönlich („du“) und nennt ihn beim Namen, was darauf schließen lässt, dass die beiden sich kennen. Und sie fragt ihn direkt, wohin er zu gehen gedenkt. Nur in zwei sozialen Konstellationen ist eine solche Adressierung möglich: in familiären oder in Herrschafts- bzw. Machtverhältnissen. Als sei er ein Kind, für das sie Verantwortung trägt, oder als habe sie eine Macht über ihn, die sie dazu legitimiert, adressiert sie ihn. Doch Abdallah ist nicht ihr Kind, und auch von einer Position der Macht, die sie zu einer solchen Frage berechtigen könnte, ist nichts bekannt. [7] Das heißt, die Frau agiert vollkommen distanzlos, ja, tendenziell übergriffig. Womöglich lässt sich sogar sagen, dass sie implizit die Machtverhältnisse geradezu umkehrt, indem sie unterstellt, Abdallah sei dazu verpflichtet, ihre Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.
Inhaltlich gesehen geht es der Frau um Abdallahs Ziel. Sie hat seine Bewegung wahrgenommen, die nicht zu ihr selbst hinführt, sondern in eine andere Richtung. Aber wohin? Das will sie wissen. Warum sie das will, bleibt allerdings offen. Ist sie einfach nur neugierig? Oder hat sie Vermutungen darüber, was das Ziel Abdallahs sein könnte, und fragt nun, um zu erfahren, ob diese zutreffen oder nicht? Und ist von Abdallahs Antwort abhängig, wie sie handeln wird? Sind es z.B. Befürchtungen, die, wenn sie sich bestätigen sollten, die Frau dazu veranlassen würden, zu intervenieren, d.h. zu versuchen, Abdallah am Erreichen seines Zieles zu hindern?
Und welche Optionen hat Abdallah? Die Möglichkeiten der Deutung des Blicks der Frau wurden oben bereits ausbuchstabiert. Praktisch kann Abdallah nun reagieren, indem er entweder auf die Frage der Frau schlicht antwortet und ihr das Ziel seines Weges nennt. Das würde implizieren, dass er sich in die Strukturen, die durch die Selbstermächtigung der Frau eingerichtet wurden, fügt. Oder er widersetzt sich diesen Vorgaben und erkennt die Legitimation der Frau nicht an, z.B. indem er barsch antwortet: „Das geht dich nichts an.“ Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass er die Macht nutzt, die die patriarchale Ordnung für ihn bereithält, und die Frau in ihre Schranken weist, z.B. indem er ihre Selbstermächtigung als ungehörig beurteilt und mit Sanktionen droht.
„Ich gehe mit meinem Vater.“
Das überrascht: Auf der einen Seite antwortet Abdallah so, wie es die Frau von ihm erwartet. Und das heißt, er reagiert nicht darauf, dass sie ihn nicht begrüßt hat, dass sie ihn unvermittelt und konfrontativ adressiert, ja, er akzeptiert implizit sogar die Position, die sie ihm gegenüber eingenommen hat, fügt sich in die durch ihr Handeln eingerichtete Struktur und gibt einfach Auskunft. Auf der anderen Seite antwortet Abdallah inhaltlich gesehen jedoch nicht auf die Frage der Frau, denn er nennt nicht das Ziel seines Weges, sondern mit wem er geht. Indirekt kann diese Auskunft jedoch durchaus als Antwort auf die Frage der Frau gedeutet werden, nämlich dann, wenn der Vater nicht nur als Begleiter gedacht wird, sondern auch als derjenige, der das Ziel des Weges vorgibt. Abdallah sagt dann implizit: „Wenn du wissen willst, wohin ich gehe, dann musst du meinen Vater fragen. Er bestimmt das Ziel meines Weges.“ Das wiederum bedeutet, dass Abdallah als jemand antwortet, der nicht eigenständig handelt und mit seiner Antwort auf die heteronome Situation verweist, in der er sich befindet. [8] Diese Heteronomität besteht – das wird sofort deutlich – in einer ‚blinden‘ Gefolgschaft. Denn wenn der Vater das Ziel des Weges genannt hätte, könnte Abdallah nun antworten: „Ich gehe mit meinem Vater zu dem Ort X.“ Dass er das nicht macht, lässt die Lesart zu, dass der Vater Abdallah das Ziel des Weges nicht genannt hat und dieser ihm eben blind folgt. Und das würde bedeuten: Es ist ein absoluter, ein bedingungsloser Gehorsam, den der Sohn gegenüber dem Vater an den Tag legt.
Halten wir fest: Es wird erzählt von der Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau, und obwohl diese Begegnung im Rahmen einer patriarchal strukturierten Gesellschaft stattfindet, handelt die Frau anders, als zu erwarten gewesen wäre. Sie ermächtigt sich selbst, während der Mann mit den Strukturen dieser Gesellschaft konform geht: Er hat sich – so ist zu vermuten – dem Vater unterworfen und gehorcht ihm blind.
Ein Wunsch und das Gesetz
„Ich gebe dir so viele Kamele, als statt Deiner geschlachtet worden sind,
Die Interaktion nimmt erneut eine überraschende Wendung, denn die Frau scheint zu ignorieren, dass Abdallah auf ihre Frage inhaltlich nicht geantwortet hat, ja, sie scheint auf dessen Antwort überhaupt nicht einzugehen. Oder beruht ihre Äußerung auf einer Interpretation von Abdallahs Antwort, eben auf jener Interpretation, welche oben entfaltet wurde und besagt, dass der Vater das Ziel vorgegeben hat? Diese Lesart ist durchaus plausibel. Und es ist zu vermuten, dass die Frau noch weiter gehende Schlüsse gezogen hat, weil sie weiß, was es bedeuten kann, wenn ein Vater von seinem Sohn verlangt, ihm zu folgen, ohne zu sagen, wohin es gehen soll.
Die Frau nimmt Bezug auf etwas, das zuvor geschehen ist: Es wurden Kamele geschlachtet, und zwar „statt Deiner“. D.h., eigentlich wäre Abdallah geschlachtet worden. Warum das? Denkbar wäre, dass Abdallah zuvor schuldig wurde, er eine Tat beging, die eigentlich mit dem Tod hätte bestraft werden müssen, z.B. einen Mord an einer anderen Person. Die Todesstrafe konnte aber abgewendet werden, und zwar dadurch, dass an Abdallahs Stelle mehrere Kamele geschlachtet wurden. Trifft das zu?
An dieser Stelle ist es unumgänglich, Kontextwissen hinzuziehen: [9] Der hier analysierten Episode geht voraus, dass Abdallahs Vater Abd Almuttalib (ʿAbd al-Muṭṭalib) einst ein Gelübde abgelegte, welches beinhaltete, dass, wenn er – wie er es sich wünschte – zehn Söhne bekommen sollte, er einen von diesen Gott opfern werde. Abd Almuttalibs Wunsch ging tatsächlich in Erfüllung, deswegen sah er sich dazu verpflichtet, dem Gelübde folgend einen seiner Söhne zu opfern – und das Los fiel auf Abdallah. Es eröffnete sich Abd Almuttalib jedoch eine Option, die Tötung seines Sohnes zu vermeiden: Statt Abdallahs konnte er Kamele opfern. Es waren mehr als hundert an der Zahl.
So viele Kamele, wie „statt seiner“ geschlachtet wurden, will die Frau Abdallah also geben. Bemerkenswert ist, dass die Frau im Besitz einer solchen Menge von Kamelen zu sein scheint, über die sie frei verfügen und die sie Abdallah anbieten kann. Das könnte erneut ein Hinweis darauf sein, dass sie eine besondere soziale Stellung innerhalb ihres Stammes innehat. [10] Es stellt sich nun freilich die Frage, warum sie Abdallah dieses Angebot macht. Auch wenn eine Antwort auf diese Frage – noch – nicht gegeben werden kann, lässt sich zumindest sagen, dass das Angebot nicht auf eine Kompensation zielt, denn nicht Abdallah, sondern der Vater hat die Kamele opfern müssen. Nicht dem Vater, sondern Abdallah macht die Frau jedoch das Angebot.
Fest steht: Die Kamele dienten einst als Äquivalent. Sie stehen insofern für das, was Abdallah wert zu sein scheint. Geht es der Frau also darum, Abdullah gewissermaßen zu kaufen, ihn zu erhalten im Tausch gegen die Kamele?
wenn Du mich sogleich heirathest.“
Ja, das Angebot zielt tatsächlich auf einen Tausch: Kamele versus Heirat. Die Frau will Abdallah zum Mann haben, und die Kamele sind der Preis, den sie dafür zu zahlen bereit ist. Dieser Tausch soll „sogleich“ erfolgen, also ohne jede Verzögerung, unmittelbar. Die Frau scheint zu befürchten, dass irgendetwas geschieht, das die Heirat unmöglich machen könnte. Das will sie unbedingt verhindern. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass die Frau auch an dieser Stelle extrem direkt agiert: Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass die beiden sich schon länger kennen, kommt der Vorschlag der Frau völlig unvermittelt, ‚wie aus heiterem Himmel‘. Hinzu kommt, dass die Frau sich erneut einfach über die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft hinwegsetzt, in der es die Väter sind, die Ehen arrangieren. Unter Ausschluss der Väter also will sie die Heirat unmittelbar mit Abdallah abmachen. Dabei sind die Kamele bemerkenswerterweise nicht als Brautgabe gedacht, die der Vater der Frau von dem Vater des Mannes erhält, sondern eine Gabe für den gewünschten Gatten, deren Wert demjenigen seines Lebens entspricht – ein weiterer Bruch mit Konventionen.
Wie wird Abdallah auf dieses Angebot reagieren? Auf es einzugehen würde bedeuten, dass er sich von dem Vater löst, ihm nicht mehr blind folgt, sondern eigenständig handelt. Ja, er würde sich nicht nur unabhängig von dem Willen des Vaters machen, sondern gleichzeitig auch die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft verletzen, die vorsehen, dass die Väter darüber entscheiden, wen die Söhne heiraten. Das Angebot, das Abdallah von der Frau gemacht wird, kann insofern als Aufforderung zum Bruch mit dem Vater sowie den Regeln der Gesellschaft interpretiert werden. Würde Abdallah der Aufforderung nachkommen, dann würde sich in der Folge die Frage stellen, ob dieser Bruch ein einmaliger war und Abdallah danach wieder konform mit den Erwartungen des Vaters sowie der Gesellschaft handelt, oder ob der Bruch ein grundsätzlicher war, ein Akt der Emanzipation, der – wie das Essen des Apfels im Paradies – in die Selbstständigkeit führt.
„Ich kann meinen Vater jetzt nicht verlassen,
Abdallah schlägt das Angebot aus. Auffällig ist, dass er dies nicht grundsätzlich tut. Vielmehr gibt er zu erkennen, dass es ihm zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein könnte, sich vom Vater zu trennen. Nur im Moment („jetzt“) kann er es nicht. Zum anderen ist festzuhalten, dass er sich auf eine Notwendigkeit bezieht. Er sagt nicht, dass er nicht auf das Angebot eingehen wolle, sondern dass er es nicht könne. Und das heißt: Es ist für ihn nicht ausgeschlossen, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt auf das Angebot einlässt. Ja, womöglich würde er es auch jetzt schon machen, sogar gern, entspräche es seinem Wunsch. Im Moment steht dem aber eine Notwendigkeit entgegen, die infrage zu stellen er nicht bereit ist, der er sich vielmehr fügt. Damit bezieht er sich entweder indirekt auf den Willen des Vaters oder auf eine Notwendigkeit, die der Vater geltend gemacht hat, eine gesellschaftliche Regel, der der Vater sich unterworfen hat und der sich zu unterwerfen der Vater auch von seinem Sohn erwartet, ein ‚Gesetz‘, dem zu folgen ist. Die Deutung liegt also nahe, dass Abdallah sich in einem Widerspruch zwischen Wunsch und ‚Gesetz‘ – das durch den Vater repräsentiert wird – sieht, er letztlich aber nicht dem Wunsch folgt, sondern mit dem ‚Gesetz‘ konform geht (und den Wunsch unterdrückt).
noch etwas gegen seinen Willen thun.“
Stimmig wäre die Satzkonstruktion, wenn in dem ersten Teil ein ‚weder‘ aufgetaucht wäre. Wie dem auch sei, die Zurückweisung des Angebots wird nun grundsätzlich begründet: Zum einen wird die zeitliche Einschränkung aufgehoben; der Wille des Vaters ist nicht nur „jetzt“, sondern auch später für den Sohn bindend. Zum anderen wird dasjenige, dem Abdallah sich unterwirft, vereindeutigt: Es ist eben der Wille des Vaters. Der Wunsch, sich auf das Angebot einzulassen, mag bestehen, doch ist er letztlich irrelevant. Was zählt, ist die absolute Loyalität gegenüber dem Vater – wenn dieser etwas will, muss der Sohn sich fügen, auch wenn es seinem eigenen Wunsch zuwider läuft.
Eheschließung und Zeugung
Abd Almuttalib ging dann mit seinem Sohne zu Wahb I. Abd Menfal I. Zurah I. Kilab I. Murra u.s.w.,
War bisher von Abdallah und der Frau als handelnden Personen die Rede, steht nun der Vater von Abdallah, Abd Almuttalib im Mittelpunkt; er ist jetzt die entscheidende Person. Er ist derjenige, der zuerst genannt wird, er ist derjenige, der Abdallah führt. Er kennt das Ziel des Weges und begibt sich mit Abdallah unmittelbar zu diesem hin. Dieses Ziel ist ein anderer Mann, dessen Name genannt und der damit ebenfalls als bekannt vorausgesetzt wird. Es steht also ein Treffen dieser beiden Männer bevor, und Abdallah wird dabei sein.
welcher damals der Herr der Benu Zuhra war,
Der Mann, zu dem der Vater mit seinem Sohn geht, ist ein bedeutsamer, das Oberhaupt eines Stammes. Dieser Stamm ist – das wird an dem Namen deutlich – nicht derjenige, dem die Frau angehört. Und sehr wahrscheinlich ist es auch nicht derjenige von Abd Almuttalib und seinem Sohn. Doch mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen.
sowohl wegen seines Ansehens als seiner Jahre,
Nun werden Gründe dafür, dass Wahb das Oberhaupt seines Stammes ist, genannt: Alter und Ansehen. Damit werden weitere Facetten der gesellschaftlichen Ordnung deutlich: Wir haben es mit einer Stammesgesellschaft zu tun, in der es die Position eines Oberhaupts gibt. Wenn das vorliegende Beispiel repräsentativ ist, dann ist die Besetzung dieser Position Männern vorbehalten und von den Kriterien Alter und Ansehen abhängig. Was für Letzteres von Belang ist, wird nicht gesagt. Denkbar wäre z.B. die Fähigkeit, Urteile sprechen zu können, die von allen anerkannt werden, und/oder besondere Leistungen, die für den Stamm vollbracht wurden.
und er gab ihm seine Tochter Aminah zur Frau,
Der Vater entscheidet darüber, wer die Tochter zur Frau haben soll. Dies entspricht dem, was oben bereits über das Arrangieren von Ehen in der damaligen Gesellschaft gesagt wurde. Unklar ist jedoch, wer nun Aminah zur Frau erhält. Rein grammatisch gesehen ist es Abd Almuttalib, der Aminah erhält. Dieser aber ist bereits verheiratet (und hat mindestens einen Sohn). Unverheiratet aber scheint Abdallah, sein Sohn, zu sein. Deswegen ist davon auszugehen, dass dieser Aminah zur Frau erhält. [11]
Wahbs Tochter wird im Unterschied zu der Frau zuvor beim Namen genannt. Sie heißt Aminah. Das zeigt, dass Namenlosigkeit keineswegs für alle Frauen gilt. Denkbar ist, dass eine Gewichtung vorgenommen wurde: Der Individualität wird bei der ersten Frau keine große Bedeutung beigemessen, wichtiger ist bei ihr die Weiblichkeit. Bei der zweiten Frau ist hingegen die Individualität das Vorrangige. Sie wird zwar auch durch eine Verwandtschaftsbeziehung bestimmt –sie ist die Tochter von Wahb –, doch durch die Nennung des Namens wird darüber hinaus ihre Einzigartigkeit herausgestellt. Individualität ist aber keineswegs mit Autonomie gleichzusetzen, denn es heißt nicht, Aminah habe sich mit der Ehe einverstanden erklärt (oder habe ein Vetorecht gehabt). Die Formulierung, Wahb habe seine Tochter Abdallah „gegeben“, impliziert vielmehr, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter in Analogie zu demjenigen gedacht wird, das der Vater zu materiellen Dingen hat: Er besitzt sie. Und als Besitzender kann er frei über sie verfügen.
welche damals die vorzüglichste Frau unter Kureisch war,
„Kureisch“ ist der Name eines Clans (Qurayš), der sich aus verschiedenen Stämmen zusammensetzt. Zu vermuten ist, dass zu diesen Stämmen auch der Stamm der Benu Asa, der Benu Zuhra und der Stamm, der Abdallah und seinen Vater zu seinen Mitgliedern zählt, gehören. Mitglieder dieses Clans sind freilich auch zahlreiche Frauen. Von all diesen Frauen sei, so heißt es nun, Aminah die „vorzüglichste“. Wie diese Attribuierung begründet ist, nach welchen Kriterien Vorzüglichkeit bemessen wird, lässt sich – noch – nicht sagen. Klar ist nur: Aminah steht an der Spitze einer Hierarchie, die sich dadurch ergibt, dass Frauen danach unterschieden werden, welche von ihnen den anderen vorzuziehen sei. Abdallah erhält also die beste Frau, die es im ganzen Clan der Kureisch gibt – und die selbstverständlich auch besser als jene ist, die ihn zuvor angesprochen hatte.
sowohl durch ihren Rang als durch ihre Abkunft. […]
Nun werden die Kriterien genannt, nach denen der Vorzug einer Frau vor (einer) anderen bestimmt und nach denen Frauen in eine hierarchische Ordnung gebracht werden: Rang und Abkunft. Letzteres bedeutet, dass sich bereits durch die Geburt eine Hierarchie zwischen den Frauen ergibt. Je nachdem, von wem sie abstammen, und abhängig davon, welche Stellung dieser innerhalb der Hierarchie des Clans hat, gelten Frauen mehr oder weniger als andere. Ersteres, der Rang, ist wahrscheinlich von der Abkunft abhängig, doch wohl nicht nur. Und während eine Frau auf ihre Abkunft keinen Einfluss nehmen kann, gilt das für ihren Rang keineswegs. Dieser ist nicht nur, aber doch zumindest partiell abhängig von ihrem Handeln, z.B. von ihrer Tugendhaftigkeit.
In Bezug auf beide Kriterien ist Aminah nun unübertroffen. Eine bessere Frau hätte Abd Almuttalib für seinen Sohn nicht aussuchen können. Sie ist die beste Wahl.
Wie man glaubt, ehelichte er sie alsbald,
Die zeitliche Angabe ist äußerst vage: „Alsbald“ kann vieles bedeuten. Jedenfalls wird, nachdem die Väter entschieden und Wahb seine Tochter Aminah an Abdallah übergeben hat, deren Beziehung nach einer gewissen Zeit in eine institutionelle Form gegossen. Erstaunlich ist der Vorbehalt, mit dem diese Aussage getroffen wird: Während alles andere, was bisher berichtet wurde, nicht in Frage gestellt wurde, heißt es an dieser Stelle „wie man glaubt“. Es wird also angenommen, dass die beiden den Bund der Ehe geschlossen haben, sicher ist man sich jedoch nicht. Das ist verwunderlich, ist doch eine Eheschließung nicht etwas, das im Privaten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sie ein gesellschaftliches Ereignis ist. Wie erklärt sich dann die Ungewissheit, ob sie stattgefunden hat oder nicht? Ist mit „ehelichen“ nicht eine Heirat gemeint, sondern etwas anderes, der Vollzug eines Geschlechtsaktes?
und sie wurde schwanger mit dem Gesandten Gottes,
Das ist das Entscheidende! Aus diesem Grund wird die Geschichte erzählt: Der Prophet Mohammed wurde gezeugt. Dies geschah auf natürliche Weise durch die Verbindung von Mann und Frau, von Abdallah und Aminah. Die Geschichte handelt also davon, wie Mohammeds Eltern zueinanderkamen bzw. zusammengebracht wurden und wie aus ihrer Verbindung der Prophet entstand. Von dem Geschlechtsakt selbst wird nicht gesprochen, dieser wird ausgespart. Doch dasjenige, was auf ihn folgte, wird mitgeteilt: Aminahs Schwangerschaft.
Einzugehen ist noch einmal auf den oben formulierten Vorbehalt. Er verweist – wie gesagt – auf eine Unsicherheit: Könnte es etwa sein, dass Mohammed gezeugt wurde, bevor Abdallah und Aminah offiziell eine Ehe schlossen? Dann wäre aber Mohammed ein uneheliches Kind. Da das aber nicht sein kann, nicht sein darf – so lässt sich der Einschub deuten –, geht man, ohne sich dessen sicher zu sein, davon aus, dass eine offizielle Eheschließung stattgefunden haben muss.
Das Licht und sein Verlöschen
dann verliess er sie,
Abdallah und Aminah kamen zusammen, wie es ihre Väter wollten; sie gingen – eventuell – eine offizielle Ehebeziehung ein, vereinigten sich sexuell und zeugten Mohammed. Doch dann – so heißt es nun – wird das Beisammensein sofort wieder beendet, und zwar von Seiten Abdallahs. Dass Abdallah Aminah „verlässt“, kann entweder bedeuten, dass er sich nur für kurze Zeit von Aminah entfernt und danach wieder zu ihr zurückkehrt, die Trennung also nur temporär ist. Oder ‚verlassen‘ bedeutet eine dauerhafte Trennung von Aminah, indem Abdallah die Ehe mit Aminah aufkündigt. Letzteres hätte zur Konsequenz, dass Aminah zu einer verlassenen Frau und Mutter wird und Mohammed ohne Vater aufwächst.
und kam wieder zur Frau, die sich ihm angeboten hatte,
Die Formulierung, dass Abdallah wieder zu der Frau „kam“, könnte so verstanden werden, als sei dies zufällig, ja, unbeabsichtigt geschehen. Es ist jedoch keineswegs abwegig, davon auszugehen, dass das erneute Zusammentreffen Abdallahs mit der Frau eben kein Zufall, sondern von Abdallah beabsichtigt ist, er also die Frau gezielt aufsuchte. Was könnte der Grund dafür sein? Die Vermutung liegt nahe, dass, nachdem Abdallah zunächst dem Willen des Vaters gehorchte und tat, was dieser von ihm erwartete, sich nun in ihm der Wunsch, das Begehren regt, auf das Angebot der Frau zurückzukommen, um es wahrzunehmen.
und fragte sie:
War es zuvor die Frau, die die Initiative innehatte, ist es nun der Mann, Abdallah.
„warum machst Du mir heute nicht wieder den Vorschlag, den Du mir gestern gemacht?“
Bemerkenswert ist, dass Abdallah nicht direkt sagt, was er will. Er artikuliert nicht unmittelbar seinen eigenen Wunsch, sondern bezieht sich auf dasjenige, was die Frau bei ihrem letzten Zusammentreffen gesagt hat. Hätte er seinen Wunsch kundgetan, wäre damit das Risiko verbunden gewesen, von der Frau zurückgewiesen zu werden. Dies meidet er mit seiner Frage. Seine Vorsicht geht noch weiter, insofern, als er die Frau nicht fragt, ob ihr Angebot von gestern heute noch gilt. Im Gegenteil: Er scheint davon auszugehen, dass sie es nicht aufrechterhalten möchte. So vermittelt er den Eindruck, dass er nur wissen wolle, warum das so ist, und die Frau kann seine Frage als Ausdruck reiner Neugierde interpretieren. [12] Die Möglichkeit besteht aber auch, dass die Frau vermutet, hinter seiner Frage stehe die Hoffnung, sie werde ihren Vorschlag erneut unterbreiten. Dieser zielte bekanntlich darauf, Abdallah zu heiraten. Läge die Frau mit ihrer Vermutung richtig, dann wäre mit Abdallahs Wunsch die Bereitschaft zur Untreue, zum Ehebruch verbunden.
Nicht unbeachtet bleiben darf, dass zwischen der ersten („gestern“) und der erneuten Begegnung („heute“) von Abdallah und der Frau nur ein Tag liegt. Vorstellbar ist, dass es in dieser kurzen Zeit zu einem Geschlechtsverkehr kam, bei dem Mohammed gezeugt wurde, vorstellbar ist allerdings nicht, dass in dieser Zeit auch eine offizielle Eheschließung stattgefunden hat. Das spricht erneut für die Lesart, dass Abdallahs Geschlechtsverkehr mit Aminah ein vorehelicher war und folglich Mohammed ein uneheliches Kind ist. Im Widerspruch dazu steht – wie oben bereits dargelegt wurde – der explizite Hinweis auf eine Eheschließung, der allerdings mit einem Vorbehalt versehen ist.
sie antwortete: „das Licht, das gestern an Dir war, hat Dich verlassen,
Für die Frau kommt eine Wiederholung ihres Vorschlags offensichtlich nicht infrage. Dies begründet sie mit einer Veränderung, die sie an Abdallah wahrgenommen habe: Dieser habe am gestrigen Tage noch ein „Licht“ an sich gehabt, das ihn heute „verlassen“ habe. Abdallah selbst hat diese Veränderung offenbar nicht wahrgenommen – sonst hätte er womöglich nicht gefragt –, wohl aber die Frau. Aufgrund dieser Veränderung wiederholt die Frau ihr Angebot nun nicht, hat also kein Interesse mehr an einer Ehe mit Abdallah. Wie ist das zu verstehen?
Der Unterschied zwischen dem gestrigen Tag und heute besteht darin, dass in der Zwischenzeit etwas passiert ist: Abdallah hat sich mit Aminah sexuell vereinigt und den Propheten gezeugt. Die Lesart liegt nun nahe, dass mit der Zeugung das „Licht“ Abdallah „verlassen“ hat und auf Mohammed übergegangen ist. An Mohammed ist nun das Licht; sein Körper, seine Person ist jetzt der Träger des Lichts.
Die Rede von einem „Licht“ weckt eine Vielzahl von Assoziationen und regt an zu metaphorischen Deutungen: Handelt es sich um ein göttliches Licht; geht es um das Licht der Offenbarung, das an demjenigen erkennbar war, der kein Prophet ist – dem Vater –, und das übergeht auf den Sohn, der Prophet wird. Wird es auch an ihm zu sehen sein? Und wie lässt sich das Licht als Metapher deuten? Steht es für Erkenntnis; ist mit ihm die Vorstellung der Offenbarung als einem Prozess verbunden, in dem Wissen vermittelt wird, einem Prozess der Aufklärung?
Diese und andere Assoziationen schwingen mit. Das Entscheidende ist jedoch: Die Frau hat etwas gesehen; für sie war etwas sinnlich evident – ein „Licht“. Und jetzt ist ebenfalls etwas für sie sinnlich wahrnehmbar, eben dass das Licht Abdallah „verlassen“ hat. „Verlassen“ bedeutet, dass es nicht grundsätzlich aus der Welt ist, sondern nur seinen Ort gewechselt hat. Vermutet wurde, dass es auf einen anderen – auf Mohammed – übergegangen ist. Insofern bezieht sich die Evidenz, von der hier die Rede ist, letztlich auf Mohammed: Er ist nun der Träger des Lichts; er ist der Prophet. Das wird durch die Evidenz bestätigt.
ich habe nichts mehr mit Dir zu thun.“
Damit ist die Beziehung zwischen den beiden endgültig und vollständig beendet. Deutlich wird: Als die Frau Abdallah den Vorschlag einer Heirat machte, beruhte das nicht auf einem Begehren, genauer gesagt, nicht auf einem Begehren, das ihm als Mann, als besonders attraktive Person galt. Ja, es ging überhaupt nicht um ihn, sondern allein um den Propheten. Abdallah wurde nur als Mittel zum Zweck gesehen, er war nur insofern von Belang, als er dazu in der Lage war, sie, die Frau, zur Mutter des Propheten zu machen. Darum allein ging es der Frau: Mutter zu werden, genauer gesagt, eine besondere Mutter zu werden, die Mutter des Propheten. Und da das jetzt nicht mehr möglich ist, weil eine andere Frau die Mutter des Propheten wurde, ist das Interesse der Frau an Abdallah vollkommen erloschen.
Sie hatte nämlich von ihrem Bruder Waraka I. Nanfal gehört – dieser war Christ geworden und hatte die Schrift gelesen – dass aus diesem Geschlechte ein Prophet auferstehen werde.
Das Handeln der Frau wird noch einmal weitergehend begründet. Ihr gesamtes Handeln – der gestrige Vorschlag, die heutige Zurückweisung und ihre Begründung mit dem Verweis auf das „Licht“ – wird damit erklärt, dass die Frau ein besonderes Wissen erhalten hat: Sie hatte erfahren, dass in „diesem Geschlecht“ – also dem Geschlecht, zu dem Abdallah gehört – ein Prophet geboren werde. Vor allem ist es die Wahrnehmung des Lichts, die die Frau aufgrund ihres besonderen Wissens zu deuten vermochte. Bemerkenswert ist die Quelle dieses Wissens: Die Frau hat es von Waraka erhalten. Dieser ist bereits bekannt; es handelt sich um den Bruder der Frau. Und woher hat er dieses Wissen? – Da es von ihm heißt, er habe „die Schrift gelesen“, könnte es sein, dass er seine Kenntnisse durch Lektüre gewonnen hat. Dieser Schluss ist aber nicht zwingend, da beides in der Formulierung nicht unmittelbar in Zusammenhang gebracht wird. So ist auch die Deutung möglich, dass offenbleibt, woher Waraka sein Wissen hat und der eingeschobene Verweis auf seine Konversion zum Christentum sowie seine Lektüre der Schrift dazu dient, die Glaubwürdigkeit Warakas zu untermauern. Dafür spricht auch, dass nicht – wie nahliegend wäre – von mehreren ‚Schriften‘ die Rede ist (denen der Juden und denjenigen der Christen), sondern nur von einer Schrift. Der Singular beruht auf der Annahme, dass es nur einen Gott und letztlich auch nur eine Schrift gibt, da sich Gott zwar unterschiedlichen Gemeinschaften offenbart hat, die Botschaft aber immer dieselbe war. So wird es verständlich, dass „die Schrift“ und somit auch das Christentum eine Autorität haben kann, die die Glaubwürdigkeit Warakas zu untermauern vermag.
Erklärungsbedürftig ist schließlich noch, dass nicht von einer ‚Geburt‘, sondern von einer „Auferstehung“ die Rede ist. Liegt hier die Vorstellung von der Auferstehung der Toten zugrunde? Das würde voraussetzen, dass Mohammed bereits ein Leben hatte, dass er gestorben ist und nun zu einem neuen Leben „aufersteht“. Oder bezieht sich die Rede von der Auferstehung allein auf den Prophetenstatus; geht es um eine Wiederbelebung der Prophetie? Diese Lesart passt jedenfalls zu der Vorstellung, Mohammed sei nicht der erste, sondern vielmehr der letzte Prophet in einer Reihe von Propheten, die mit Abraham begann.
Fassen wir zusammen: Es geht um die Zeugung des Propheten. Für diese sind freilich beide Geschlechter erforderlich, doch das „Licht“ befand sich beim Mann, bei Abdallah, und ging von diesem auf den Propheten über, ist letztlich also dessen Licht. Der Mann ist also entscheidend für die Zeugung des Propheten; die Frau ist hingegen sekundär. Sie wird von dem Mann – genauer gesagt, von dessen Vater – gewählt, und es ist eine Auszeichnung, von diesem Mann geschwängert zu werden und den Propheten austragen zu dürfen. Diese Ehre wollte die eine Frau der anderen streitig machen. Ihr Wille sich durchzusetzen war so groß, dass sie auf Konventionen keine Rücksicht nahm, eigenmächtig auftrat und ein Angebot machte, das kaum ausgeschlagen werden konnte. Letztlich setzte sich jedoch der Wille des Vaters durch, und die gesellschaftliche Ordnung wurde bekräftigt. Die Folge war, dass die „vorzüglichste“ Frau der Kureisch zur Mutter des Propheten wurde.
Fazit
Was die Interpretation von Benslama betrifft, so wurde bereits deutlich, dass seine zunächst zugespitzt formulierte These, in der Frühzeit des Islam habe ein Prozess der Verdrängung stattgefunden und dieser betreffe ‚die Frau‘, eine Differenzierung verlangt, denn in der Geschichte tauchen mehrere Frauen auf. Diese können als zwei Möglichkeiten, Frau zu sein, verstanden werden, bzw. stehen sie für verschiedene Aspekte von Weiblichkeit: Aminah, die von Benslama auch als „legitime Frau“ bezeichnet wird, steht für eine Frau, die eine Individualität besitzt, aber dennoch nicht autonom ist; über ihre Ehe wird von anderen – von den Vätern – entschieden. Ihre Wünsche, ihr Begehren sind nicht thematisch. Sie wird zur Mutter, und ihre Mutterschaft wird betrachtet als eine Auszeichnung, ein Privileg. Letzteres wird dadurch deutlich, dass sie um dieses Privileg mit einer anderen Frau – die, wie an späterer Stelle deutlich wird, den Namen Roqayya trägt – konkurriert. Roqayya wird in der Geschichte nicht als einzigartiges Individuum eingeführt, weshalb von ihr in besonderem Maße gesagt werden kann, dass sie für etwas Allgemeines steht, für bestimmte Aspekte von Weiblichkeit: Mit ihr ist ein sich selbst ermächtigendes Handeln verbunden, das nicht mit den Normen der Gesellschaft konform geht und tendenziell die patriarchale Ordnung sprengt. Zu beachten ist allerdings, dass das Handeln Roqayyas nicht auf ein sexuelles Begehren zurückgeführt wird. Vielmehr sind auch ihre Wünsche, ist auch ihr Begehren nicht thematisch. Genauer gesagt: Roqayyas Wünsche sind nur auf die Mutterschaft gerichtet – wodurch sich die Rivalität mit Aminah ergibt.
Verdrängt wird also nicht die Frau im Allgemeinen, sondern bestimmte Aspekte von Weiblichkeit bzw. Eigenschaften, die eine Frau haben kann. Dabei sind zwei Punkte zu ergänzen: zum einen, dass die Verdrängung eine Kehrseite hat, die Konstruktion der „legitimen Frau“, die sich der patriarchalen Ordnung unterwirft und zur Mutter wird, zum anderen, dass die „andere Frau“ zwar als verführerisch konstruiert wird, sie jedoch – wie Aminah – nach der Mutterschaft strebt. Die „andere Frau“ ist also auf der einen Seite ein Gegenentwurf zur „legitimen Frau“, auf der anderen Seite bekräftigt sie jedoch deren Ideal, die Mutterschaft.
Vor dem Hintergrund der Analyse lässt sich zudem sagen, dass in der Geschichte von der Zeugung Mohammeds auch eine Art des Mann-Seins entworfen wird: Der Mann erscheint hier als in einem Widerspruch stehend. Seine Wünsche, sein Begehren sind von Anfang an thematisch. Es wird durch das Angebot der „anderen Frau“ geweckt, ist also auf diese gerichtet. Inwiefern es auch auf Aminah, die „legitime Frau“, gerichtet ist, bleibt offen. Klar ist nur: Das Begehren Abdallahs besteht auch nach dem Geschlechtsakt mit Aminah fort; es wird durch diesen nicht gestillt.
Entscheidend ist freilich, dass Abdallah sich dem Willen des Vaters unterwirft, dem Gesetz folgt, die Ordnung der Gesellschaft nicht in Frage stellt und seine Triebe zunächst unterdrückt. Nachdem er dem Willen des Vaters gefolgt ist, versucht er jedoch sein Begehren zu stillen, allerdings ohne Erfolg. Hinzu kommt, dass er ausgezeichnet ist: Er ist derjenige, der den Propheten zeugt, allerdings ohne – im Unterschied zu der „anderen Frau“, zu Roqayya – etwas davon zu wissen.
Die Konstruktion des Mannes ist also im Wesentlichen geprägt durch den Widerspruch zwischen der Anerkennung der gesellschaftlichen Ordnung bzw. der Unterwerfung unter diese und dem Begehren, das einerseits innerhalb dieser Ordnung – konkret: in der Ehe – gestillt wird, andererseits aber wie selbstverständlich auch unabhängig von dieser gegeben ist und nach Befriedigung strebt.
Ausgehend von diesen Befunden stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern diese Konstruktionen von Möglichkeiten, Mann zu sein und Frau zu sein, Bestandteil einer Geschlechterordnung sind, die lange Zeit islamische Gesellschaften prägte und die ganz entscheidend dazu beitrug, dass die Ordnung dieser Gesellschaften als eine sittliche Ordnung begriffen wurde (Wöhr 2019). [13]
Die Geschichte bietet darüber hinaus verschiedene Ansatzpunkte für eine soziologische Interpretation: Nicht nur gibt sie grundsätzlich Aufschluss über patriarchale Strukturen der damaligen Stammesgesellschaft sowie über Spielräume für Nonkonformität, die es innerhalb dieser gab, sondern auch Hinweise darauf, wie Fragestellungen, die sich bereits ergeben, wenn der Koran analysiert wird (Twardella 1999), weitergehend beantwortet werden können. Zum einen bietet die Analyse der Geschichte eine weitere Antwort auf die Frage, wie es gelungen ist, das Problem der Glaubwürdigkeit der Prophetie zu lösen, Zweifeln zu begegnen und Gewissheit zu stiften. Auf dieses Problem reagiert die Geschichte mit einer Behauptung, die sich – zugespitzt – folgendermaßen formulieren lässt: „Zweifel an der Prophetie Mohammeds sind nicht berechtigt, vielmehr stand bereits im Moment der Zeugung fest, dass Mohammed der Prophet Gottes ist, denn auf ihn ist das göttliche Licht übergegangen. Er trägt es von Anfang an in sich.“ Die Geschichte dient also – wie so viele andere Geschichten auch – der Beglaubigung der Prophetenschaft Mohammeds: Sie stellt heraus, dass die Prophetenschaft Mohammeds vor dessen Geburt bereits erkennbar war, und behauptet, dass diese bereits in „der Schrift“ – die als über sämtliche Zweifel erhaben begriffen wird – angekündigt wurde. Die Geschichte gehört also zu den zahlreichen Mitteln, mit denen – in Reaktion auf eine Glaubwürdigkeitsproblematik – Evidenz gestiftet und Zweifeln begegnet wurde.
Zum anderen kann die Analyse auch genutzt werden, um den Zusammenhang von „Autonomie, Gehorsam und Bewährung“ im Islam genauer zu erhellen. Dabei kann ein Vergleich behilflich sein, nicht allerdings mit der Mosesgeschichte, wie Benslama es vorschlägt, [14] sondern mit derjenigen vom Sündenfall. Denn auch in dieser verführt eine Frau (Eva) einen Mann (Adam) dazu, sich dem Willen des Vaters zu widersetzen: Von den Früchten sämtlicher Bäume im Garten Eden dürfen die beiden essen, nur diejenigen des Baumes der Erkenntnis zu essen ist ihnen untersagt. Doch Eva verführt Adam zur Verletzung dieses Verbots – und kann insofern als die treibende Kraft in einem Prozess der Emanzipation gesehen werden, denn der Verstoß gegen das göttliche Verbot bringt es mit sich, dass die beiden in der Folge eigenständig dazu in der Lage sind, zu erkennen, was gut und was böse ist. Sie werden autonom – weswegen der „Sündenfall“ gleichzeitig ein „Befreiungsfall“ ist. [15]
Im Unterschied dazu wird in der Geschichte von der Zeugung Mohammeds der väterliche Wille nicht in Frage gestellt. Zwar geht von der Frau der Impuls zur Verletzung der Norm aus, doch wird er von dem Mann nicht aufgenommen und umgesetzt. Der väterliche Wille, die Norm, das Gesetz gilt uneingeschränkt weiter. [16]
Letztlich fügen sich beide Perspektiven – die psychoanalytische von Benslama und die soziologische – ineinander, denn die Krise, in die der Islam seit der Konfrontation mit der Moderne geraten ist, besteht im Kern darin, dass das Glaubwürdigkeitsproblem, welches mit Beginn der Prophetie auftrat, erneut virulent geworden ist (vgl. Twardella 2021: 311–331). Dieses Problem war mit der Prophetie gleichursprünglich, schien dann aber zumindest vorübergehend insofern gelöst zu sein, als es in einer Gesellschaft, deren sittliche Ordnung durch den Islam geprägt ist, kaum aufkommen konnte. Doch diese Ordnung ist in eine Krise geraten [17] – und in der Folge brach das Glaubwürdigkeitsproblem wieder auf, und es entstand eine Krise der Gewissheit. Da es aber die Geschlechterverhältnisse waren, die wesentlich die Sittlichkeit dieser Ordnung verbürgten, liegt es nahe, wenn – um die verlorene Gewissheit wiederzugewinnen – eben bei diesen angesetzt wird und die Frau – ihr Erscheinen, ihre Kleidung, ihr Benehmen – in den Fokus gerät.
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