Summary
In the current Russian literary scene the writer Denis Osokin (*1977) takes on the role of a poet of ethno-cultural diversity. In his texts, Osokin evokes other languages and cultures. In doing so, he makes use of various textual operations of mystification, which, besides a primitivist author’s mask, include pseudotranslation. The aim of this article is to explore this literary technique central to Osokin and its implications for a general understanding of (Russian) culture and ethno-cultural diversity. Thereby the text-centred model of pseudotranslation introduced by the Israeli literary scholar Gideon Toury will be extended and pseudotranslation will be conceptualized, as proposed by Brigitte Rath, as “a mode of reading” (Rath 2014) – a literary technique through which an original is imagined that is not accessible as the original itself, but only through this imagination. In Osokin’s work, this original can take on the form of a text, a language, or an entire culture. By imagining an original and/or origin that is marked as fictional, Osokin undermines identity discourses and destabilizes seemingly stable categories and assumptions, such as centre and periphery or majority and minority cultures. The aesthetic-poetic and the critical-deconstructionist potential of Osokin’s prose will be exemplified by the short prose text Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel, which presents itself as a pseudotranslation from German, and the short story Ovsjanki, which is a miniature pseudo-epic reviving the Finno-Ugric people of the Merja, who were assimilated centuries ago by the Slavic-Russian population.
1 Einleitung
Der russische Schriftsteller Denis Osokin evoziert in seinen Texten andere Sprachen und Kulturen. Er inszeniert und poetisiert die sprachliche und ethnokulturelle Diversität insbesondere der Wolgaregion und hebt sich gerade dadurch von den gegenwärtigen identitätspolitischen Diskursen einer sich verstärkt national- und wertkonservativ artikulierenden russischen beziehungsweise russischsprachigen Leitkultur ab. Entsprechend würdigt der Moskauer Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker Il’ja Kukulin Osokin als herausragenden Vertreter einer postkolonialen Schreibweise in ihrer spezifisch postsowjetischen Ausprägung, die unter anderem darauf abziele, die sowjetische Akkulturation als Prozess der kulturellen Unifizierung zu reflektieren und zu verarbeiten (vgl. Kukulin 2014). Obwohl Osokins literarisches Œuvre in den nunmehr 20 Jahren seines Schaffens schmal geblieben ist und vorwiegend aus Textminiaturen besteht, erscheinen seine Texte in bekannten Literaturzeitschriften und renommierten russischen Verlagen, wie NLO und AST. Auch zwei Übersetzungen ins Deutsche sind bislang veröffentlicht worden: Sein literarisches Debüt, der Erzählzyklus Angely i revoljucija. Vjatka 1923 (Engel und Revolution. Wjatka 1923), für den Osokin im Jahre 2001 mit dem russischen Debüt-Literaturpreis für die Sparte Kurzprosa ausgezeichnet wurde, fand Eingang in die von Christiane Körner herausgegebene und bei Suhrkamp 2011 erschienene Anthologie Das schönste Proletariat der Welt: Junge Erzähler aus Russland. Der graphisch anspruchsvollen Gestaltung von Osokins Texten wird allerdings erst die zweite, 2020 erschienene Buchpublikation gerecht: die von Christiane Körner zusammengestellte und ins Deutsche übersetzte Textsammlung Goldammern, die den Titel einer darin enthaltenen Erzählung – im russischen Original Ovsjanki – trägt.
Osokin verwendet in seinen Texten bevorzugt eine primitivistische Autor-Maske und versteht sich selbst als Vertreter einer „reinen“ Literatur – als Sprachkünstler, der Topographien und lokale Traditionen poetisch transformiert (vgl. Osokin 2019). Um das Lokale auf eine überregional-nationale Bühne zu heben, bedient er sich unterschiedlicher Textoperationen der Mystifikation, zu denen neben der Autor-Maske insbesondere auch die Pseudoübersetzung gehört. Die Pseudoübersetzung als literarisches Verfahren und ihr Potenzial für ethnokulturelle (De)konstruktionen wird bei der vorliegenden Betrachtung und Analyse von Osokins Texten den Fokus bilden. Eingeführt vom israelischen Literaturwissenschaftler Gideon Toury werden unter diesem Begriff Texte subsumiert, die als Übersetzung präsentiert werden, ohne dass ein Originaltext in einer anderen Sprache existieren würde (vgl. Toury 1995: 40). Tourys Interesse gilt vor allem Texten, in denen der wahre Urheber oder der wahre Ursprung verschleiert wird. Die Funktion dieser Verschleierung kann je nach Text und literarischer Epoche variieren und wird von der Zielkultur bestimmt. So können über Pseudoübersetzungen „unliebsame oder tabuisierte Inhalte und ungewohnte Schreibverfahren unter dem Deckmantel fremder Herkunft“ in die Zielkultur eingeschleust und Kritik am eigenen politischen und gesellschaftlichen System als von außerhalb kommend getarnt werden (Ceuppens 2016: 157). Darüber hinaus bildet die Pseudoübersetzung, beginnend mit dem Ossian-Projekt des schottischen Aufklärers und Nationalisten James Macpherson, ein zentrales Element des „mystifikatorischen Werkzeugkastens“ (Schmidt 2019: 50), mithilfe dessen die fingierten Nationalepen des 18. und 19. Jahrhunderts geschaffen und die nationale Selbstfindung und Wiedergeburt in Europa seit der Romantik vorangetrieben wurden. Im Unterschied zu derartigen Akten der Mystifizierung schätzt Ceuppens den Status der Pseudoübersetzung in zeitgenössischen, offenen literarischen Systemen eher als „Gegenstand eines bewussten Pakts mit dem Leser“ ein (Ceuppens 2016: 157). Statt also der „Erfindung der Tradition“ nach Hobsbawm und Ranger (1983) zuzuarbeiten, kann die Pseudoübersetzung gerade auch das Gegenteil – die Entmystifizierung und Bloßlegung kultureller Mechanismen der Fremd- und Selbstzuschreibung – bewirken.
Unabhängig von ihrer jeweiligen Funktion verweisen Pseudoübersetzungen auf ein Original und damit auf einen Ursprung, der fiktiv oder erfunden ist. Bei diesem Original muss es sich, wie Vanacker und Toremans anmerken, nicht notgedrungen um einen Text handeln, sondern es kann auch eine Sprache oder Kultur sein (Vanacker und Toremans 2016: 29), die durch die Pseudoübersetzung imaginiert oder evoziert wird. In diesem Sinne erweitert Rath Tourys „text-centered model“ (Rath 2014) und bestimmt die Pseudoübersetzung als ein literarisches Verfahren, das einen Imaginationsprozess in Gang setzt und darauf abzielt, einen originalen Text oder eine Äußerung in einer originalen Sprache zu imaginieren, die aber nicht als Original selbst, sondern nur über diese Imagination zugänglich sind (vgl. Rath 2012: 189; Rath 2013: 16). Dadurch, dass sich das Original beziehungsweise der Ursprung als Fiktion erweist, bewirkt die Pseudoübersetzung eine Destabilisierung fester Sinnzuschreibungen und verweist auf die Unmöglichkeit eines vollständigen Schließens dieser Lücke in der Sinnbildung. Auf das dekonstruktivistische Potenzial der Pseudoübersetzung als einer sich selbst entlarvenden Mystifikation verweisen insbesondere auch Vanacker und Toremans, indem sie eine Korrelation zwischen Pseudoübersetzung und Metafiktionalität herstellen:[1] „Because of their metafictional orientation, many pseudotranslations thrive on this tension between construction and deconstruction, between strategies of authentication and the recognition of an underlying fictionality.“ (Vanacker und Toremans 2016: 32)
Wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, wird in Osokins Texten über die ästhetisch-poetische Operation der Pseudoübersetzung ein nicht direkt zugängliches Original – sei es in Form eines Textes, einer Sprache oder auch einer ganzen Kultur – imaginiert. Diese Imaginationstätigkeit, die in den Texten selbst auf unterschiedliche Weise realisiert wird, ist, so die These der Verfasserin, als performative Kritik an Identitätsdiskursen angelegt und stellt stabil geglaubte Kategorien und Annahmen in Frage, wie Zentrum und Peripherie, Mehrheits- und Minderheitskulturen oder Vorstellungen von einer Hierarchie zwischen großen bedeutenden und kleinen, weniger bedeutenden Sprachen. Das Ziel der folgenden Ausführungen wird somit darin bestehen, das ästhetisch-poetische wie auch kritisch-dekonstruktivistische Potenzial, das in Osokins Poetisierung des Ethnokulturellen liegt, herauszuarbeiten. Dies wird exemplarisch anhand von zwei Erzähltexten geschehen, die das von Vanacker und Toremans konstatierte Spannungsverhältnis der Pseudoübersetzung zwischen Konstruktion und Dekonstruktion abbilden: des kurzen Prosatextes Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel, der sich als Pseudoübersetzung aus dem Deutschen präsentiert, sowie der Erzählung Ovsjanki, die ein Pseudo-Epos in Miniaturform darstellt, um das vor Jahrhunderten von der slawisch-russischen Bevölkerung assimilierte finno-ugrische Volk der Merja wiedererstehen zu lassen. Den Ausführungen vorangestellt sind allgemeine Bemerkungen zu Osokins Schreibweise.
2 Osokins (Selbst)positionierung innerhalb der russischen Literatur und Literaturszene
Der in Kazan’, der Hauptstadt der Republik Tatarstan innerhalb der Russischen Föderation geborene und dort bis heute lebende Osokin nimmt in seinen Texten vor allem die Region der mittleren Wolga in den Blick und bezeichnet diese in einem Interview in naiv-primitivistischer Manier als sein „Haus“: „Средняя Волга плюс Вятка – это мой дом“ (Osokin 2011 f: 103; „Die mittlere Wolga plus Vjatka – das ist mein Haus“)[2]. Während sich Kazan’ heute vor allem als Stadt präsentiert, in der zwei Sprachen, Kulturen und Religionen – das Tatarische und das Russische, Christentum und Islam – friedlich nebeneinander existieren, erscheint das Wolgagebiet insgesamt sprachlich und kulturell noch wesentlich heterogener. Die Wolgaregion weist neben dem Kaukasus die höchste Dichte an ethnischer Diversität innerhalb der Russischen Föderation auf und beheimatet zahlreiche ethnische Minderheiten und Kleinsprachen, wie Baschkiren, Tschuwaschen, Mari, Mordwinen, Udmurten oder Komi-Permjaken. Osokins Interesse gilt vor allem den finno-ugrischen Ethnien, deren Vertreter:innen sich kulturell wie auch physiognomisch weitaus weniger stark von der russischen Mehrheitskultur unterscheiden als beispielsweise die unterschiedlichen Ethnien des Kaukasus.
Das auffälligste Kennzeichen von Osokins Texten – vielfach handelt es sich dabei um Textminiaturen in Prosa und/oder lyrischer Form – ist deren graphisches Erscheinungsbild. Die Texte sind in Spalten von unterschiedlicher Breite angeordnet und können auch visuell-graphische Elemente oder karikaturartige Zeichnungen enthalten. Letzteres trifft insbesondere auf die Textminiatur Anna i revoljucija (Anna und die Revolution) zu, die in Osokins erster, im Jahr 2003 bei NLO erschienener Textsammlung Baryšni topolja (Pappelfräulein)[3] veröffentlicht wurde. Osokin verwendet durchgängig Kleinschreibung und eine stark reduzierte Interpunktion. Mit dieser Form, die sowohl Assoziationen zu den Sprachexperimenten der literarischen Moderne weckt, als auch an mittelalterliche Handschriften denken lässt, ist für Osokin die Frage der graphischen Gestaltung, wie er 2011 in einem Interview erklärte, ein für alle Mal gelöst:
С книги «Барышни тополя. Нови-Сад. 1927» (январь 2002) по сегодняшний день я пишу именно так: ужатый столбец (степень ужатости определяетса в каждом конкретном случае) – выровненный по ширине – с примерно равномерным заполнением строк словами – без заглавных букв – с облегченной пунктуацией. Очень нехитро. И с того времени вопрос графики для меня закрыт. Я не верю своим глазам, кто-то приписывает мне графические эксперименты, новаторство, игру с формой в стародавнем духе начала XX века. (Osokin 2011 f: 100)
Ich schreibe seit dem Buch Baryšni topolja. Novi-Sad. 1927 (Januar 2002) bis heute genau so: in Spalten von unterschiedlicher Breite (die sich in jedem konkreten Fall anders ergibt), Blocksatz, die Zeilen annähernd mit derselben Anzahl von Wörtern gefüllt, ohne Großbuchstaben, mit vereinfachter Interpunktion. Ganz einfach. Seither ist für mich die Frage der graphischen Gestaltung abgeschlossen. Daher wundere ich mich, wenn mir jemand graphische Experimente zuschreibt, Neuerertum, ein Spiel mit der Form im längst vergangenen Geist des Anfangs des 20. Jahrhunderts.
Zur spezifischen graphischen Gestaltung gehört darüber hinaus, dass Osokins Texte, sowohl die in sich geschlossenen Erzählungen als auch die lose miteinander verbundenen und unter einem Titel vereinten Textminiaturen, graphisch wie einzelne Bücher gestaltet sind. So sind die Texte in der Regel mit einer Art Deckblatt versehen, auf dem Titel, Ort und Jahr verzeichnet sind. Die offensichtlich fiktiven paratextuellen Informationen auf diesen Titelblättern verweisen auf die Pseudoübersetzung in ihren eingangs diskutierten historischen und gegenwärtigen Spielarten. So werden einerseits die Fälschungspraktiken und Strategien der Authentifizierung aufgerufen, mit Hilfe derer die fingierten Nationalepen des 18. und 19. Jahrhunderts als authentisch ausgewiesen wurden, während andererseits die Entstehung beziehungsweise der Ursprung des Textes einer Fiktionalisierung unterzogen wird. Osokin selbst bezeichnet seine Texte in der für seine Selbstinszenierung charakteristischen naiv-primitivistischen Manier als „knigi-četki“ – als „Rosenkranz-Bücher“, deren einzelne Abschnitte wie Perlen aufgereiht sind und abgezählt werden (vgl. Osokin 2011 f: 100).
Obwohl es Osokin ablehnt, mit den künstlerischen Avantgardebewegungen assoziiert zu werden, liegen gewisse Parallelen auf der Hand. Diese betreffen zum einen die graphische Gestaltung der Texte und die von Osokin zum Einsatz gebrachten Wort-Bild-Kombinationen, zum anderen die für die Avantgardebewegungen charakteristische Mischung aus Erzähl- und Wortkunst. Bei Osokin tendieren insbesondere die in den russischsprachigen Text integrierten fremdsprachigen und fremd klingenden Wörter zu einer lautlichen Geste und lenken dadurch die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen auf die sprachliche beziehungsweise klangliche Seite des Textes. Als anschauliches Beispiel dafür kann eine kurze Textpassage aus der Erzählung Ovsjanki dienen, in der die nicht-russischen und daher fremd klingenden Flussnamen, die auf die finno-ugrische Besiedelung des Gebiets der mittleren Wolga verweisen, aneinandergereiht werden. Die Signifikanten treten hier zugunsten der Signifikate, das heißt der ,inhaltlichen‘ oder referentiellen Ebene des Textes, in den Vordergrund der Wahrnehmung. Auf diese Weise wird ein geographisch lokalisierbares, konkretes Gebiet mit seinem Flussnetz in einen sprachlichen Klangraum transformiert:
реки – узкие светлые – как бедра взрослеющих девочек – из звона насекомых и пиков крошечных птиц: вохтома – вига – унжа – векса – шача – мера – покша – нея – межа – меза – лух – кусь – вая – шуя – согожа – лежа. (Osokin 2011 d: 575)
die flüsse – schmal, hell – wie die schenkel heranwachsender mädchen – klingen wie das gesumm von insekten und die spitzentöne winziger vögel: wochtoma – wiga – unscha – weksa – schatscha – mera – pokscha – neja – mescha – mesa – luch – kus – waja – schuja – sogoscha – lescha ... (Osokin 2020: 116)
Narratologisch steht Osokin in der Tradition des Skaz, dem – bei aller Schwierigkeit einer Begriffsdefinition – seit den Arbeiten der russischen Formalisten unter anderem die Funktion des Spürbarmachens des Wortes zugeschrieben wird. Bei Osokin finden sich beide Grundtypen des Skaz, die Wolf Schmid als sinnvolle Differenzierung vorschlägt: einerseits der „charakterisierende Skaz, der durch den Erzähler motiviert ist und dessen sprachlich-ideologische Perspektive realisiert“ (Schmid 2008: 173), und andererseits der „ornamentale Skaz“, der sich durch eine Verbindung von Narrativität und Poetizität auszeichnet. Der ornamentale Skaz kann, wie der charakterisierende Skaz auch, ein breites Spektrum an literarischen Verfahren beinhalten, allerdings sind diese keinem einheitlichen Erzähler zugeordnet. Als für den charakterisierenden Skaz obligatorisch erachtet Schmid drei Merkmale: erstens eine deutlich markierte erzählende Instanz (von Schmid als „Narratorialität“ bezeichnet), zweitens „ein nicht-professioneller Erzähler aus dem Volk, dessen Erzählweise sich durch eine gewisse Naivität oder Ungeschicklichkeit auszeichnet“ und drittens eine „narratorial-auktoriale Zweistimmigkeit der Erzählerrede“ (vgl. Schmid 2008: 174 ff.). Weitere charakteristische Merkmale, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und miteinander in Verbindung stehen, sind Mündlichkeit, Spontaneität, Umgangssprachlichkeit und Dialogizität im Sinne einer – im Erzähltext markierten – Orientierung des Sprechers an seinen Zuhörer:innen.
Osokins Erzähler geben sich häufig als naiv zu erkennen oder deklarieren sich als primitivistisch im Sinne des Kunstschaffens von Laien. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine soziale Markierung, wie man sie insbesondere in der satirischen Kurzprosa von Michail Zoščenko findet, und auch den Erzähler „aus dem Volk“ mit seiner „spürbare[n] intellektuelle[n] Distanz [...] vom Autor“, die Schmid als „Begrenztheit seines geistigen Horizonts“ näher charakterisiert (Schmid 2008: 174), evoziert Osokin nicht, obwohl seine Texte von folkloristischen Motiven aller Art durchsetzt sind. Vielmehr sind die Erzähler Osokins örtlich begrenzt und geographisch lokalisiert, was sich insbesondere darin zeigt, dass sie sich selbst immer wieder demonstrativ topographisch verorten und/oder ihre ethnokulturelle und sprachliche Zugehörigkeit artikulieren. Begrenzt sind Osokins Erzähler aber auch durch ihre männliche Perspektive auf die Welt, allerdings sprechen sie – wie auch der traditionelle Erzähler „aus dem Volk“ – nicht aus einer Position, die durch Macht und männliche Dominanz bestimmt ist. Osokins Erzähler sind meist körperlich oder sozial schwache Figuren, wie insbesondere auch der Erzähler in Ovsjanki, der an der Hormonmangelerkrankung Diabetes insipidus leidet und „ständig auf die toilette“ rennen muss (Osokin 2020: 132).
Als zusätzliches Mittel der Markierung der Erzählinstanz verwendet Osokin mitunter eine Autor-Maske[4], die den autodiegetischen Erzähler gleichzeitig als Autor des erzählten Textes erscheinen lässt. So werden auch die beiden Erzählungen, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, als Werk eines anderen Autors ausgegeben: Ein gewisser Eugen Lwowski figuriert als Autor des Textes Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel, während Aist Sergeev der fiktive Autor der Erzählung Ovsjanki ist.[5] In der Miniaturensammlung Angely i revoljucija. Vjatka 1923 werden beide Mystifikationen – primitivistischer Erzähler und Autor-Maske – in einer metafiktionalen Zuwendung Gottes an die Leser:innen miteinander kombiniert und der Verfasser des Buches als „primitivistischer Schriftsteller“ präsentiert:[6]
парасловотгосподабога
на момент издания книги автору текстов исполнилось 22 года. он считает себя неплохим писателем-примитивистом и в настоящее время работаетввятскойчк.
(Osokin 2003: 11)
Ein paar Worte von Gott dem Herrn / Zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Buchs war der Verfasser der Texte 22 Jahre alt. Er hält sich für einen nicht üblen primitivistischen Schriftsteller und ist gegenwärtig bei der Tscheka in der Stadt Wjatka tätig. (Osokin 2011 a: 56)
Durch die naiv-primitivistischen homodiegetischen und heterodiegetischen Erzähler wird eine an der Oberfläche fröhliche, provinzielle oder dörflich-ländliche Welt evoziert. Diese weist häufig eine offene Grenze zum Phantastischen auf, das durch dämonische, vorwiegend weibliche Wesen (Puppen, Vogelscheuchen oder Succubi) und magische Gegenstände aus dem Alltagsleben (Spiegel, Balkone oder auch Kerosinlampen) in Erscheinung tritt. Immer wieder wird diesen Wesen und Gegenständen eine Mittlerfunktion zugesprochen – insbesondere dann, wenn sie als Mediatoren zwischen diesseitiger und jenseitiger, realer und phantastischer Welt auftreten, wie dies auch bei den Goldammern aus der Erzählung Ovsjanki der Fall ist. Die sich so konstituierende, mythologische Textschicht ist integrativer Bestandteil von Osokins literarischen Strategien der Mystifikation wie auch von seiner Selbstinszenierung als Autor. Osokin hat an der Universität Kazan’ russische Philologie studiert und eine Diplomarbeit zum Thema Semantičeskoe pole narodnych nazvanij jadovitych rastenij i gribov (Das semantische Feld der volkstümlichen Bezeichnungen für giftige Pflanzen und Pilze) verfasst (vgl. Zajnullina 2007). In den 2000er Jahren hat Osokin für den Fernsehsender Tatarstan – Novyj Vek ethnographische Filme gedreht, und in Interviews zeigt er sich begeistert von der „lebendigen Ethnographie“ der Klein- und Kleinstvölker (vgl. Osokin 2019). Gleichzeitig versteht er diese Bräuche und Rituale aber im Sinne des russischen Formalismus als „Material“, das deformiert und transformiert werden muss: „[...] я никогда в жизни, как писатель, не занимался прямым переносом материала из фольклора и традиционных культур в свою литературу — это было бы неинтересно, скучно“ (Osokin 2019; „[...] ich habe mich in meinem Leben als Schriftsteller nie damit beschäftigt, das Material aus der Folklore und den traditionellen Kulturen direkt in meine Literatur zu übertragen – das wäre uninteressant, langweilig“).
Zu Osokins imaginierter Mythologie gehört neben den phantastischen Elementen eine den Texten eigentümliche Erotik. Diese kann, wie in Witzen oder auch Volkserzählungen, derb ausfallen – beispielsweise in der Miniatur Nr. 15 von Ogorodnye pugala s nojabrja po mart (Vogelscheuchen von November bis März), in der eine Vogelscheuche beim Anblick des Ganges einer Figur errät, dass „ihr Anton sie von hinten genommen hat“ („эге – да тебя твой антон попробовал в зад!“ [Osokin 2011 c: 508]). In der Erzählung Ovsjanki dagegen erscheint das Erotische ins Sentimentale gekippt. So ist einer der fiktiven Bräuche, die der Ich-Erzähler beschreibt, das, was die Merja ,dymit’‘ – ,Rauchen‘ – nennen: In der kurzen Zeitspanne zwischen dem Tod des geliebten Menschen und der Bestattung erinnert sich der Hinterbliebene an erotische Szenen, die er oder sie mit dem verstorbenen Partner erlebt hat. Auf diese „merjanische Weise“ betrauert auch der Protagonist in Ovsjanki den Tod der geliebten Ehefrau:
он то молчал – то рассказывал мне о жене разные эротические подробности. так у нас принято. не обязательно хоть и. рассказывать о любимом – пока тело его еще не сгорело – то что приличный человек никогда не скажет посторонним покуда любимый жив. но над умершим можно – ведь лицо рассказчика от этого становится светлей. (Osokin 2011 d: 585)
mal schwieg er – mal erzählte er mir erotische details von seiner frau. das ist bei uns üblich. wenn auch nicht erforderlich. vom geliebten zu erzählen – bevor sein körper verbrannt ist – was ein anständiger mensch einem außenstehenden zu lebzeiten des geliebten niemals erzählen würde. aber über den verstorbenen geht das – das gesicht des lebenden wird ja hell davon. (Osokin 2020: 129)
3 Die Pseudoübersetzung als Mittel der (ethno)kulturellen Dekonstruktion
Drei der in Osokins Textsammlung Ovsjanki (2011) erschienenen ,Bücher‘ sind Pseudoübersetzungen in dem Sinn, dass sie im Paratext des jeweiligen Titelblattes als Übersetzungen ausgegeben werden. So sind die beiden Texte über die Vogelscheuchen (Ogorodnye pugala, Kazan’ 1926 und Ogorodnye pugala s nojabrja po mart, Aluksne 1973) als vermeintliche Übersetzungen aus dem Lettischen gekennzeichnet, während der Text des fiktiven Autors Eugen Lwowski mit dem Titel Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel als Übersetzung aus dem Deutschen ausgewiesen wird. Das zweisprachig abgedruckte Titelblatt zu dieser Erzählung sieht folgendermaßen aus:
e. l w o w s k i
eugen lwowskisgeschlechtsbeziehungmit einem spiegel
aus dem deutschen
von denis ossokin
sasnitz
2005
е. л ь в о в с к и й
половая связь
еужена львовского
с зеркалом
перевод с немецкого
дениса осокина
заснитц
2005
Bereits ein erster Blick auf dieses Titelblatt genügt, um zu verstehen, dass es sich hier um einen Text handelt, der nur vorgibt, eine Übersetzung zu sein. So weist die Anordnung der Titelangaben in beiden Sprachen (in der oberen Hälfte deutsch, in der unteren russisch) Brüche mit den Konventionen auf, Original und Übersetzung zu kennzeichnen. Ungewöhnlich und unglaubwürdig erscheint vor allem die doppelte Anführung des vermeintlichen Urhebers des Textes einmal als Autor und ein zweites Mal im Titel des Textes sowie der Zusatz im vermeintlichen deutschen Original „aus dem deutschen von denis ossokin“. Bei einer genaueren Betrachtung fällt auf, dass die Schreibung der Stadt Sassnitz sowohl im vermeintlichen Original („sasnitz“) als auch in der russischen Transkription („заснитц“) fehlerhaft ist. Während dem deutschen Original ein Buchstabe entzogen wurde und offensichtlich zum vermeintlichen Übersetzer „ossokin“ gewandert ist, wurde bei der russischen Bezeichnung der Stadt der Buchstabe ,t‘ hinzugefügt („заснитц“ anstatt korrekt „засниц“), wodurch die für das Deutsche charakteristische Konsonantenkombination ,tz‘, wie etwa im Vornamen ,Fritz‘, assoziiert wird. Auf diese Weise werden im Titelblatt verschiedene Prozesse der Spiegelung – Original und Übersetzung, Autor und Werk, lateinisches und kyrillisches Notationssystem – vorgeführt, die nicht zur vollständigen Deckung kommen. Die kaum merklichen Störungen und leichten Verzerrungen, die in diesen Spiegelungen sichtbar werden und die nicht zuletzt auch das angenommene hierarchische Verhältnis zwischen Original und Übersetzung in Frage stellen, finden in der Erzählung selbst ihre Fortsetzung und führen zu einem Schneeballeffekt. Während nämlich das Titelblatt performativ vorführt, dass Übersetzung immer auch Austausch und gegenseitige Durchdringung bedeutet, zielt die Erzählung selbst darauf ab, die beiden homogen gedachten großen Nationalsprachen und -kulturen – die deutsche und die russische – von den Rändern her zu unterlaufen.
Die Erzählung setzt damit ein, dass sich der vermeintliche Autor Eugen Lwowski als Ich-Erzähler vorstellt. Dies erfolgt über die gewohnte Angabe von biographischen Eckdaten – Herkunft, Vater, Mutter, Alter, Geburtsort. Allerdings werden landläufige Erwartungen an einen deutschen Autor hier sogleich enttäuscht. Denn ähnlich wie sich der Ort der Entstehung des Textes, Sassnitz auf der Insel Rügen, im äußersten Nordosten Deutschlands befindet, kommt der Ich-Erzähler ethnisch und geographisch von den östlichen Rändern Europas, und zwar in einer derart unentwirrbaren Mischung und Kreuzung, dass die Frage der ethnischen Zugehörigkeit und nationalen Identität auf Basis des ,ius sanguinis‘ ad absurdum geführt wird:
львовский – это я. мой отец из румынии. из добруджинских русских-липован. я уже не говорил на русском. мама – этническая венгерка из провинции банат (западная румыния). мой родной город – алба-юлия. мне 34 года. в германии мы живем 25 лет. время до окончания школы я прожил во франкфурте-на-майне. вместе с родителями – которые навсегда поселились там. (Osokin 2011 b: 441)
lwowski – das bin ich. mein vater stammt aus rumänien. von lipowanern aus der dobrudscha. ich wuchs schon nicht mehr russischsprachig auf. meine mama ist ethnische ungarin aus dem banat (westliches rumänien). meine heimatstadt ist alba iulia. ich bin 34 jahre alt. wir leben seit 25 jahren in deutschland. die zeit bis zu meinem schulabschluss verbrachte ich in frankfurt am main. gemeinsam mit den eltern, die sich dort für immer niederließen.
Die hier beschriebene Herkunft des Ich-Erzählers lenkt den Blick der Leser:innen auf ein weitgehend unbekanntes Osteuropa, dessen Geschichte von Prozessen der sprachlichen und kulturellen Durchmischung geprägt ist. Dabei spart der Ich-Erzähler nicht mit Details und rückt auf diese Weise Fragen nach dem Referenten – nach den tatsächlich existierenden Orten und den dort lebenden ethnokulturellen beziehungsweise sprachlichen Minderheiten – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Lipowaner stellen eine den altgläubigen orthodoxen Christen zugehörige Minderheit in der Ukraine und in Rumänien dar, die an der Donaumündung ihre Heimat haben und eine alte Version des Russischen sprechen. Bei der Geburtsstadt des Ich-Erzählers – Alba Iulia, bekannt auch unter der alten slawischen Bezeichnung Bălgrad, unter dem deutschen Namen Karlsburg, bis zum 18. Jahrhundert Weißenburg sowie unter der ungarischen Bezeichnung Gyulafehérvár – handelt es sich um eine Stadt im rumänischen Siebenbürgen, deren Alter bis in die Jungsteinzeit zurückreicht. Bis zum ersten Jahrhundert nach Christi gehörte die Stadt zu Dakien, dann war sie ein römisches Verwaltungszentrum. Vom frühen Mittelalter bis zum Anschluss Siebenbürgens an Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Stadt eine wechselvolle Geschichte der Zerstörung und Eroberung durch Ostgoten, Slawen, Ungarn, Osmanen und die Habsburger Monarchie.
Die Lebensgeschichte, die der Ich-Erzähler niederschreibt und die im Prozess des Erzählens immer mehr zu einer Lebensbeichte wird, hat wenig Außergewöhnliches zu bieten – im Unterschied zu seiner Herkunft und im Kontrast zu seinem Namen, der eine gehobene Herkunft konnotiert: Der aus dem Griechischen stammende Vorname Eugen bedeutet ,wohlgeboren‘, ,von edler Herkunft‘, während der Nachname Lwowski auf ein bedeutendes polnisches Adelsgeschlecht verweist. Aufgewachsen in der Mitte Deutschlands, in Frankfurt am Main, wo sich der Erzähler nicht zu Hause fühlt,[7] geht er zum Studium nach Lübeck, um näher am Norden, am Meer zu sein: „любекская речка траве стремящаясь в балтику была моей первой любовью“ (Osokin 2011 b: 447; „das zur ostsee strebende lübecker flüsschen trave war meine erste liebe“). Nach seiner Ausbildung zum Gerichtspsychologen übersiedelt er an den äußersten nordöstlichen Rand Deutschlands – zuerst nach Stralsund, dann nach Sassnitz, wo er gemeinsam mit seiner Frau Irina, einer Russin aus Lipezk, und seiner siebenjährigen Tochter Majja lebt. Im Mittelpunkt seiner Lebenserzählung steht die Erfahrung der ersten Liebe, die er während seines Studiums mit der deutschen Ute gemacht hat. Die von den erotischen Phantasien des Erzählers begleitete Geschichte seiner ersten sexuellen Beziehung erscheint recht banal und gewöhnlich, wäre da nicht das Traumbild, das den Erzähler verfolgt und mit Hilfe dessen er eine Erklärung für die Taubheit seiner Tochter zu finden versucht. Seine erste Liebe, die „heimelige warme ute“ („уютная теплая уте“ [Osokin 2011 b: 447]) war – so kombiniert er am Schluss – in Wahrheit ein Spiegel, womit am Ende auch der rätselhafte Titel der Erzählung aufgelöst wird.
Aus einer metafiktionalen Anmerkung des vermeintlichen Übersetzers Denis Osokin erfahren wir am Ende, dass dieser Text nur auf Deutsch entstehen konnte:
еужен львовский – мой друг. он выучил русский [...] он попросил меня перевести эту книгу. хотя сам бы мог это сделать. на вопрос почему он не стал писать на венгерском или на румынском – ответил что этот текст должен был родиться только на немецком языке. [kursiv im Original] (Osokin 2011 b: 457)
eugen lwowoski ist mein freund. er hat das russische erlernt [...] er bat mich, dieses buch zu übersetzen. obwohl er das auch selber hätte tun können. auf die frage, warum er den text nicht auf ungarisch oder rumänisch geschrieben habe, antwortete er, dass dieser text nur auf deutsch entstehen konnte.
Durch diese metafiktionale Anmerkung wird noch einmal die Behauptung auf dem Titelblatt bekräftigt, es handle sich bei der Erzählung um einen original deutschen Text. Dabei wird im Schlusssatz eine Hierarchie der Sprachen und Kulturen (wieder)hergestellt, die große Kulturen und Sprachen gegenüber kleineren, den Westen Europas gegenüber dem Osten, die Mitte gegenüber den Rändern privilegiert. Der vermeintliche Übersetzer Osokin stellt damit in der metafiktionalen Anmerkung am Schluss eine Ordnung wieder her, die der Autor Osokin in der Maske des Eugen Lwowski destabilisiert hat.[8] Indem der Text vorgibt, auf Deutsch von einem deutschsprachigen Autor verfasst worden zu sein, werden Vorstellungen von Deutschland als geographisch und kulturell in der Mitte Europas gelegen sowie als einer Sprachgemeinschaft von Deutschen aus diesem Zentrum selbst heraus dekonstruiert. So ist der Ich-Erzähler mehrsprachig und beherrscht neben Deutsch auch Russisch, Ungarisch, Rumänisch und die Gebärdensprache. Dabei handelt es sich um Sprachen von unterschiedlicher gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Wertigkeit und Bedeutung, die in der Erzählung als gleichwertig nebeneinandergestellt werden. Gleichzeitig werden Annahmen von einsprachigen kulturellen europäischen Zentren, für die Deutschland hier stellvertretend steht, unterlaufen, indem diese Zentren von den mehrsprachigen und ethnisch vielfältigen Rändern durchdrungen sind. Analog dazu wird die Stadt Frankfurt, die geographisch die Mitte Deutschlands idealitär repräsentiert, vom Ich-Erzähler von ihren sozialen Rändern her beschrieben. In den Mittelpunkt gerückt wird nämlich das Frankfurter Bahnhofsviertel mit seinen „fröhlichen Häusern“ („веселые дома“) und „nackten Mädchen“, die „miteinander in unterschiedlichen Sprachen schwätzen“ oder, was naheliegender ist, ihre „Zungen baumeln lassen“ („болтаящие языками неодетые девицы“ [Osokin 2011 b: 456]). Dabei verweist das nur auf Russisch, nicht jedoch auf Deutsch mögliche Wortspiel mit russ. ,jazyk‘, das sowohl Sprache als auch Zunge bedeutet, darauf, dass die beiden Sprachen, wie bereits in den Spiegelungen im Titelblatt angezeigt, nicht zur vollständigen Deckung gebracht werden können.
Wie der Prosatext Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel zeigt, verfolgt Osokin mit der expliziten räumlich-geographischen Verortung seiner Erzähler und Figuren eine Destabilisierung des europäischen geographisch-kulturellen Koordinatensystems. Das von Osokin geographisch abgesteckte Territorium hat das Zentrum an der mittleren Wolga, wodurch die seit dem 18. Jahrhundert übliche Privilegierung der großen russischen kulturellen Zentren Moskau und Petersburg hinterfragt und andere geographische Regionen Russlands in das Blickfeld gerückt werden. Eine analoge topographische Verschiebung erfolgt in Bezug auf Europa, das geographisch und sprachlich weit in den Osten und Nordosten gerückt wird.[9] Mit seinem poetisch neu kartographierten Europa fordert Osokin daher die topographischen Vorstellungen seiner Rezipient:innen heraus und plädiert implizit dafür, jedes auch noch so kleine, lokal begrenzte sprachliche und kulturelle Phänomen als gegenüber der hegemonialen Kultur gleichwertig und als per se bedeutend zu betrachten.
4 Ursprung als Fiktion: Osokins (Neu)erfindung der Merja
Während in der Erzählung Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel über das literarische Verfahren der Pseudoübersetzung bestehende (national)kulturelle Hierarchien destabilisiert werden, wird im weit bekannteren Text Ovsjanki[10] eine nicht mehr existierende Sprache und Kultur imaginiert. Ovsjanki basiert, wie auch Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel, auf der Erzähltechnik des Skaz, und beiden Erzählungen gemeinsam ist ein ethnokulturell markierter Erzähler. Während in Eugen Lwowskis Geschlechtsbeziehung mit einem Spiegel die Vorstellung von einer homogenen deutschen Kultur dekonstruiert wird, verfährt der Erzähler in Ovsjanki genau umgekehrt, indem er die heute nicht mehr existierende Sprache und Kultur der Merja oder Merjanen neu konstruiert. Dabei bedient sich der Erzähler bekannter Muster ethnokultureller (Selbst)beschreibung und artikuliert seine Sehnsucht nach kultureller Identität und Authentizität, während die Leser:innen durch das literarische Verfahren der innerfiktionalen Pseudoübersetzung immer wieder auf die der Identitätskonstruktion zugrundeliegende Fiktion stoßen.
Ein Ich-Erzähler, der mit dem fiktiven Autor – Aist Sergeev – identisch ist, schildert die Reise von seinem Wohnort Neja über die Städte Kinešma, Jur’evec und Pučež der Wolga entlang nach Nižnij Novgorod und von dort weiter in das am Fluss Oka gelegene Gorbatov (vgl. Abb. 1). Sergeev, der in der Papierfabrik von Neja als Fotograf arbeitet, unternimmt diese Reise gemeinsam mit dem Fabriksdirektor Miron Alekseevič. Zweck der Reise ist die Bestattung der Frau des Fabriksdirektors, die in der Nacht vorher unerwartet und relativ jung verstorben ist. Am Flussufer der Oka, an demselben Ort, wo das Ehepaar einst seine Flitterwochen verbrachte, verbrennen die beiden Männer die Leiche der toten Frau und treten über Nižnij Novgorod, wo sie zu ihrer ,Seelenreinigung‘ die Nacht mit zwei Mädchen verbringen, wieder die Heimreise an. Auf dem Weg zurück stürzen die beiden Männer mit ihrem Fahrzeug in die Wolga und verunglücken dabei tödlich. Aus einer Art Epilog erfahren wir, dass der Ich-Erzähler seine Geschichte bereits nach seinem Tod am Grund des Flusses niederschreibt. Aus diesem metafiktionalen Kommentar spricht der Autor Osokin selbst, der von der russischen Provinz nach Moskau („konopljanka“) fahren wird, um seinen Text in einer Literaturzeitschrift – in diesem Fall war es real die Literaturzeitschrift Oktjabr’[11] – unterzubringen:
спустился до юрьевца – там повернул в унжу – поднялся в кологрив и отыскал заиленную пишущую машинку отца. зашел с ней в тихую реку нею против города неи – где был мой дом. до чего хорошо здесь. на рдестах-водорослях и боках мертвых рыб я отстучал эту книгу. [...] я дойду до коноплянки – и попробую пристроить написанное в какой-нибудь ее журнал. (Osokin 2011 d: 620 f.)
ging bis runter nach jurjewez – bog dort in die unscha ab – zog hoch nach kologriw und stöberte die verschlammte schreibmaschine meines vaters auf. wanderte mit ihr in den stillen fluss neja bei der stadt neja – wo mein zuhause war. hier ist es einfach großartig. auf wasserpflanzen – laichkraut – und den flanken toter fische habe ich dieses buch getippt. [...] dann gehe ich nach konopljanka und versuche meinen text in einer zeitschrift unterzubringen. (Osokin 2020: 172 f.)

Die Reiseroute von Neja über Kinešma, Jur’evec und Nižnij Novgorod nach Gorbatov, Google Maps
Osokin nützte bei seiner (Neu)erfindung der Merja den kreativen Freiraum äußerst spärlicher Überlieferung, denn historisch ist nur wenig über die Kultur der Merja bekannt. Archäologische Funde lassen vermuten, dass Moskau und einzelne Territorien am Moskva-Fluss seit ca. 3000 Jahren besiedelt sind. Unter den vorslawischen Siedlern werden die finno-ugrischen Merja angenommen, die, so wird vermutet, „irgendwann im Mittelalter“ (Winkler 2002: 959) von den Slawen assimiliert wurden. Hinweise auf das Siedlungsgebiet der Merja, das an der westlichen Wolga sowie an der Linie Kostroma–Vladimir im Osten angenommen wird, liefern archäologische Funde sowie einige wenige historische Erwähnungen vom 6. bis zum 11. Jahrhundert. Rückschlüsse auf die Sprache der Merja bleiben jedoch spekulativ, denn mit Ausnahme von Topo- und Hydronymen in diesem Gebiet, „die für finnisch-ugrisch gehalten und deshalb mit den Merja in Verbindung gebracht werden“ (Winkler 2002: 959), sind keine Sprachdenkmäler der Merja erhalten.
Osokins Imagination der Merja setzt unmittelbar bei der Sprache an. Dabei kommt das Verfahren der innerfiktionalen Pseudoübersetzung in dem Sinn zur Anwendung, dass eine Äußerung in einer originalen Sprache imaginiert wird, die aber nicht als Original selbst, sondern nur über diese Imagination zugänglich ist (vgl. Rath 2012: 189; Rath 2013: 16). So finden sich im Text neben den real existierenden finno-ugrischen Topo- und Hydronymen auch von Osokin erfundene und auf Russisch imaginierte merjanische Toponyme. Die Imagination eines anderssprachigen Originals wird insbesondere in einer Textstelle deutlich, in der zwei Städte – „kočki“ (in der dt. Übersetzung „erdhügel“) und „konopljanka“ – Erwähnung finden. Während „kočki“ im Text als die altrussische, nordöstlich von Moskau am Nerosee gelegene Stadt Rostov kenntlich gemacht wird, muss das Toponym „konopljanka“ von den Rezipient:innen selbst entschlüsselt werden. In der folgenden Textstelle – und nur dort – gibt sich „konopljanka“ jenen Leser:innen als Moskau zu erkennen, die mit der realen Topographie vertraut sind – mit der Entfernung zwischen Rostov und Moskau, dem Jaroslavler Bahnhof oder der Moskauer Metro:
но главный наш город – кочки. это ростов на озере неро. столица во всех прочих смыслах. мы не плачем – а ликуем там. судьба же города коноплянки нас искренне изумляет. мы за нее рады – и желаем ей не пропасть. хотя без надобности туда не ездим. нам весело на ее проспектах – на кольцевых развязках – и на эскалаторах в метро. электричка от кочек до коноплянки проходит 200 километров и прибывает на ярославский вокзал. (Osokin 2011 d: 589)
aber unsere hauptstadt – ist erdhügel. rostow am nero-see. hauptstadt in jeder hinsicht außer der einen. wir weinen nicht – wir jubeln dort. über die geschicke der stadt konopljanka wiederum sind wir ehrlich erstaunt. wir freuen uns für die metropole[12] – und wünschen ihr nicht unterzugehen. fahren zwar ohne not nicht hin. haben aber auf ihren prospekten – ihren ringstraßen – ihren metro-rolltreppen viel spaß. der regionalzug von erdhügel nach konopljanka, hanf- oder hänflingsstadt, legt 200 kilometer zurück und trifft am jaroslawler bahnhof ein. (Osokin 2020: 134)
Das Toponym „konopljanka“ kann als gelungenes Beispiel einer mehrdimensionalen innerfiktionalen Pseudoübersetzung bewertet werden, durch die jene Spannung erzeugt wird, die Vanacker und Toremans beschreiben: „between construction and deconstruction, between strategies of authentication and the recognition of an underlying fictionality.“ (Vanacker und Toremans 2016: 32). Diese Spannung wird allerdings erst dann wirksam und sichtbar, wenn die Leser:innen dem Bespiel des Ich-Erzählers folgen, der gleich zu Beginn der Erzählung träumt, er wäre auf einer Reise im Gebiet Brjansk. Dort, wo „vage belarus die ukraine und russland aneinander [grenzen]“ (Osokin 2020: 118), hört er das rätselhafte Wort ,uzjuk‘. Am nächsten Morgen setzt er sich an sein Notebook und begibt sich im Internet auf die Suche nach der ,eigentlichen‘, ,ursprünglichen‘ Bedeutung dieses Wortes, muss jedoch feststellen, dass die Suchresultate unbefriedigend und unbrauchbar sind:
первое что я сделал как только оказался у себя в комнате – включил ноутбук, залез на рамблер и набрал в строке поиска слово узюк. я успел прочитать что узюк – это войлочное покрытие купола казахской юрты. а в тувинской – маленькое пространство между изголовьем кровати хозяев и семейным ламаистским алтарем. судя по ссылкам – слово узюк входит в название многих саяно-алтайских рек и урочищ. да – география несколько не та. (Osokin 2011 d: 580)
kaum war ich in meinem zimmer – machte ich das notebook an, rief rambler auf, gab usjuk ein. ich bekam zu lesen – dass usjuk der filzbezug der kuppel einer kasachischen jurte ist. in einer tuwinischen – der kleine raum zwischen dem kopfende des bettes und dem lamaistischen familienaltar. den suchergebnissen nach – ist das wort usjuk teil vieler fluss- und flurnamen im altai und im sajangebirge. hm – passt geografisch nicht so ganz. (Osokin 2020: 122 f.)
Insbesondere das Toponym „konopljanka“ regt die Leser:innen zu jener Suche nach etymologischen Wortbedeutungen an, die der Ich-Erzähler hier performativ ausführt. Dabei stoßen sie wie der Ich-Erzähler auf anwachsende Signifikantenketten, ohne zu einem Signifikat und damit zu einem zufriedenstellenden, eindeutigen Resultat vorzudringen. So findet man zum Toponym Moskau im Internet unter anderem die Herleitung von merjanisch ,moska‘, das ,Hanf‘ (russ. ,konoplja‘, davon abgeleitet ,konopljanik‘ ,Hanffeld‘) bedeuten soll. Im Internet kursiert diese ,merjanische‘ Etymologie Moskaus auf einzelnen Webseiten wie selbstverständlich und als wäre sie linguistisch abgesichert. Zurückgeführt werden kann sie auf den ukrainischen Linguisten Orest Tkačenko, dessen Rekonstruktion der Sprache der Merja aus den 1980er Jahren von Fachkreisen jedoch scharf kritisiert wurde.[13] Damit wird deutlich, dass sich der Referent – der über die Pseudoübersetzung aufgerufene vermeintliche Ursprung des Toponyms Moskau – als äußerst unsicher erweist. Der Versuch der Entschlüsselung von Osokins etymologischem Wortspiel führt daher die Unmöglichkeit vor Augen, die Lücke in der Sinnbildung zu schließen. Damit wird gleichzeitig auch die Sehnsucht enttäuscht, zu einem Ursprung zu gelangen.[14]
Die Imagination und Konstruktion der Kultur der Merja erfolgt, der Skaz-Technik entsprechend, aus einer ethnischen Innensicht. So setzt der Ich-Erzähler – durch seine Tätigkeit als Fotograf dazu prädestiniert, zu dokumentieren und zu bewahren – identitätsstiftende Narrative und pseudo-ethnographische Beschreibungen ein. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Identitätsdiskurses ist die emotionale Bindung an einen konkreten Ort, wie die folgende Aussage zeigt: „мы принюхиваемся к кинешемскую воздуху – и чувствуем: бесконечно свое. катятся слезы нежности. по этому признаку в кинешме сразу видно мерян“ (Osokin 2011 d: 589; „wir schnuppern die luft von kineschma – und spüren: unendlich unseres. und es fließen tränen der zärtlichkeit. daran erkennt man einen merja in kineschma sofort“ [Osokin 2020: 134]). Wie hier deutlich wird, ist der Identitätsdiskurs des Ich-Erzählers durch naiv-sentimentale Stilisierungen gekennzeichnet und mit Übertreibungen versehen. Eine besonders deutliche ironische Brechung erfolgt an jener Stelle, wo das Volk der Merja als eines beschrieben wird, das keine charakteristischen Merkmale aufweist. Auf diese Weise führt Osokin die Praxis der ethnographischen (Selbst)beschreibung, die auf distinktive Merkmale abzielt, ad absurdum:
народ странноват тут – да. лица невыразительные как сырые оладьи. волосы и глаза непонятного цвета. глубокие тихие души. половая распущенность. страсти не кипят. частые разводы, убийства и самоубийства не имеют видимых оснований. ласка всегда внезапна, исступленно-отчуждена. все как в старинных книжках по финской этнографии! (Osokin 2011 d: 575)
die leute hier sind etwas seltsam – wirklich. die gesichter ausdruckslos wie rohe reibekuchen. haar und augen von unbestimmter farbe. tiefe stille seelen. sexuell ziemlich freizügig. keine echte leidenschaft. die häufigen scheidungen, morde und selbstmorde ohne offenkundige gründe. intimität spielt sich immer überstürzt ab, ekstatisch-entfremdet ... alles wie in den alten büchern über die finnische ethnie! (Osokin 2020: 115)
Die in Ovsjanki beschriebenen Riten und Bräuche mögen bei Rezipient:innen zwar durchaus Assoziationen zu traditionellen Mythen hervorrufen, gleichzeitig sind sie jedoch unverkennbar fiktiv und gehen auf die originelle Imagination des Autors Osokin zurück. Der fiktive Charakter der beschriebenen merjanischen Bräuche tritt am deutlichsten in der Engführung von Totenritual und Erotik zutage. Zu Osokins Erotisierung der vermeintlichen merjanischen Riten gehört die Intimrasur der Frauen, die in der imaginierten Sprache der Merja mit „strič’ med i chleb“ („Honig und Brot schneiden“) umschrieben wird. Die Bezeichnung „med i chleb“ ist ein weiteres Beispiel für eine innerfiktionale Pseudoübersetzung und als solche explizit gekennzeichnet, wobei auf die Sprachverwandtschaft des Merjanischen mit den Komi-Sprachen verwiesen und so ein Authentizitätseffekt erzeugt wird:
мы не материмся по-русски. это непростительно. и не помним собственных заветных слов. но кто-то привез давно это слово – манянь – от вологодских коми – из близкого солнечного созвучного нам языка. оно очень быстро распространилось среди мери. что такое манянь – в коми знает каждый ребенок – и частенько получает за него от взрослых по губам. манянь – это слово-женщина. это под животом. это там – где волосы, на которые мы вяжем разноцветные нити – если женщина выходит замуж или мертва. ма – это мед. нянь – это хлеб. с коми перевод дословен. мы с удовольствием восприняли – и говорим ‘мед и хлеб’. можно ‘хлеб с медом’. очевидно мерянское имя было близким по смыслу. (Osokin 2011 d: 593 f.)
russische obszöne wörter benutzen wir nicht. das wäre unverzeihlich. und unsere eigenen sehnsuchtswörter kennen wir nicht mehr. aber vor langer zeit brachte jemand dieses wort – manjan – von den wologda-komi mit – aus der sonnigen vertrauten gleichklang-sprache. es hat sich blitzschnell unter den merja verbreitet. was manjan bedeutet – weiß bei den komi jedes kind – und kriegt dafür oft genug von den erwachsenen eins auf den schnabel. manjan – ist das frauenwort. ist das unter dem bauch. dort – wo die haare sind, an die wir farbige fäden binden – wenn die frau heiratet oder gestorben ist. wörtlich aus dem komi übersetzt – heißt ma honig. nja – brot. wir haben das sehr gerne übernommen – sagen brot-und-honig. oder honig-und-brot. der merja-name hatte sicher eine ähnliche bedeutung. (Osokin 2020: 140)
Wie das angeführte Zitat auch zeigt, arbeitet Osokin in seiner konstruierten Mythologie der Merja mit Effekten des männlichen Blicks, die den weiblichen Körper zu dessen Objekt machen. Besonders deutlich zeigt sich die in den Text eingeschriebene männliche Perspektive, abgesehen vom Ich-Erzähler, im Sujet selbst und in der Figurenkonstellation. So sind beide Hauptprotagonisten frauen- und kinderlos, die Mutter des Ich-Erzählers ist frühzeitig verstorben und dessen Schwester wurde tot geboren. Im Gegensatz zu den Fruchtbarkeitskulten traditioneller Riten wirkt die von Osokin konstruierte Kultur der Merja daher vom Tod affiziert. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Männer und ein toter weiblicher Körper, der auf diese Weise unweigerlich und ausschließlich zum Objekt männlichen Handelns und so zum passiven weiblichen Körper par excellence deklariert wird. Diese Grundkonstellation, die in der preisgekrönten gleichnamigen Verfilmung von Aleksej Fedorčenko durch das filmische In-Szene-Setzen noch deutlicher hervortritt, veranlasste die US-amerikanische Russistin Tatiana Mikhailova (2012) zu einer feministischen Lesart, die nachvollziehbar den Fokus auf die Leerstelle weiblichen Agierens in der Filmhandlung legt: „The woman is emphatically deprived of agency, which belongs entirely to the men“. In weiteren Interpretationsschritten vermisst Mikhailova das Feld mythologisierter Weiblichkeit von den heidnischen Mythen der Rusalka und Mutter Erde bis hin zum imperialen „Motherland“ und appliziert diese Symbolisierungen auf Erzählung und Film. Dabei kommt sie zum Schluss, dass der filmischen Erzählung eine imperiale Struktur zugrunde liege: „The systematic objectification of the female subject and body in the film reveals a deeply imperial structure, underpinning Silent Souls ostensible attempt to construct a different model of identity.“ Für Mikhailova steht daher der Versuch der Filmautoren Osokin und Fedorčenko, „eine Alternative zur imperialen Macht“ zu formulieren, auf dem denkbar zweifelhaften Fundament eines „parochial split into masculine narration and the reduction of the woman to a powerless female body serving as spectacle“.
Eine augenfällige Unschärfe in Mikhailovas Argumentation liegt in der breiten Verwendung des Begriffs „Identität“, über den verschiedene Ebenen miteinander verknüpft werden. So ist die Rede von kultureller, imperialer, nationaler, ethnischer oder sexueller Identität, die in letzter Konsequenz ohne Differenzierung über den Kamm einer angenommenen männlichen Dominanz geschoren wird. Darüber hinaus überschätzt Mikhailova die Popularität des Films und damit seine potenzielle Wirkung auf das russische Kinopublikum.[15] So übertraf der Film in Russland mit 65.800 Kinobesucher:innen[16] die Besucherzahlen in Frankreich gerade einmal um 10.000 und dürfte dabei wohl kaum das an Maskulinitätsdarstellungen interessierte Publikumsspektrum angesprochen haben. Denn was Mikhailova, die Erzählung und Film ausschließlich auf der Ebene der Handlung und eines männlichen Handelns betrachtet, unberücksichtigt lässt, sind die ironischen Brechungen in Osokins Erzählung, die Fedorčenko allein schon durch die ausdrucksarmen, melancholischen, totgeweihten und überdies wenig attraktiven männlichen Hauptprotagonisten höchst adäquat in das filmische Medium übertragen hat.[17] Gerade in Bezug auf die Leerstelle weiblichen Agierens im Filmsujet erscheint daher die Interpretation von Serguei Alex Oushakine, dessen Filmbesprechung wie auch der Artikel von Mikhailova auf der englischsprachigen Plattform KinoKultura veröffentlicht wurde, wesentlich überzeugender. Oushakine deutet die männliche Konstellation im Film nicht als „power-charged male narrative and powerless female body spectacle“ (Mikhailova 2012), sondern als Symptom zerbrechender Männlichkeit:
This re-emergence of the trope of “men without women” is important. Unlike early Soviet variations of this theme, perceptively discussed by Eliot Borenstein, the narrative disappearance of the woman in post-Soviet cinema is not compensated by rediscovering the value of masculine camaraderie or utopian visions of the global collective. Instead, the erasure of the woman is presented here as a sign, as a symptom of the upcoming collapse of the man. (Oushakine 2011)
Die konträren Interpretationen des Films machen deutlich, dass Osokins Poetisierung von sprachlicher und (ethno)kultureller Diversität höchst ambivalent ist und in einem Spannungsfeld von Konstruktion und Dekonstruktion steht. Indem Osokin Traditionen und Riten erfindet und diese Konstruktionstätigkeit in seinen literarischen Miniaturen offenlegt, stellt er die Autorität der Geschichte und des Tradierens in Frage. In den 10 Jahren seit Erscheinen des Films, beginnend mit der Protestwelle der Jahre 2011/2012 und Putins dritter Amtszeit als Präsident, haben die Machthabenden in Russland kontinuierlich das „Projekt einer autoritären Festigung nationaler Einheit auf der Basis eines sozialen Konservativismus mit repressiven Zügen“ vorangetrieben (Bluhm 2021: 13). Die vollzogene Wende zu einer wertkonservativen Geschichts- und Kulturpolitik findet nicht zuletzt in den Verfassungsänderungen des Jahres 2020 ihren Niederschlag. So wurde in den ursprünglichen Artikel über territoriale Fragen (Art. 67) ein Bekenntnis zur „tausendjährigen Geschichte“ sowie zur Bewahrung der Erinnerung an die Ahnen aufgenommen (Art. 67/1), und im darauffolgenden Artikel zu Sprache und Kultur wird das Russische als Sprache des „konstitutiven Staatsvolkes“ („государствообразующий народ“) (Art. 68/1) deklariert. Insbesondere vor diesem politischen Hintergrund mutet Osokins „Erfindung der Tradition“ geradezu blasphemisch an, und die topographische Verortung der Osokinschen Figuren erscheint wie eine demokratische Geste von unten, von der Peripherie, von den Rändern. Wenn Osokins Textminiaturen auch keine politische Literatur im engeren Sinn darstellen, die bestehende Machtverhältnisse in Frage stellen, so trägt der Autor mit seiner Poetisierung von sprachlicher und ethnokultureller Diversität doch dazu bei, dass etwas sichtbar wird und bleibt, das insbesondere in hierarchisch-autoritären Strukturen Gefahr läuft, aus dem Blickfeld zu geraten.
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- Tagungsberichte
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- 30. Treffen der JungslavistInnen
- Buchbesprechung – Book Review
- Holocaust Fiction
- Vergleichende Grammatik der Balkansprachen