Dieser prominent besetzte Sammelbd. analysiert Krise und Beharrung historiografischer Paradigmen der Nationalgeschichte. Dass in den letzten drei Jahrzehnten Historikerinnen und Historiker auch in Italien immer weniger national(-staatlich) fokussiert arbeiten und verstärkt die transnationale und globale Dimension in den Blick nehmen, ist kaum zu übersehen. Ebenso unübersehbar ist es jedoch, so argumentieren die Hg. Francesco Benigno und Igor Mineo, dass nationalgeschichtliche Deutungsmuster immer wieder reaktiviert werden, und dass im 21. Jh. die nationalstaatliche Ebene politisch und zum Teil auch kulturell und wissenschaftlich eine Renaissance erlebt. Zudem wurde, so Benigno und Mineo, die nationalgeschichtliche Vergangenheit bisher kaum systematisch aufgearbeitet, wobei diese Feststellung eher für Italien gilt. Denn auf europäischer Ebene existiert zum Beispiel das bahnbrechende Publikationsprojekt von Stefan Berger über „National Histories“, das von den Hg. dieses Bd. nur knapp erwähnt wird. Im Fall Italiens besteht das zweideutige Erbe der Nationalgeschichte aus drei scheinbar widersprüchlichen Topoi: primato, decadenza, eccezione. Benigno und Mineo betonen, dass die längst überfällige Diskussion über die Paradigmen der Nationalgeschichte angesichts des europaweiten Erfolgstrends von Rechtspopulismen, neuen Nationalismen und identitären Bewegungen heute eine noch größere Bedeutung gewonnen hat.
Die Einleitung dieses Sammelbd. ist auch ein Plädoyer für Europa, genauer gesagt, für die europäische Geschichte als geeignete Bezugsgröße, um die Verzerrungen und Stereotypen, die durch die nationalgeschichtliche Brille entstanden sind, zu überwinden. Europa programmatisch zu lancieren, klingt angesichts der anhaltenden EU-Krise, aber auch der im wissenschaftlichen Diskurs etablierten Idee der Provinzialisierung Europas fast anachronistisch. Benigno und Mineo betonen jedoch ausdrücklich, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Paradigmen der Nationalgeschichte nicht nur aufgrund globalgeschichtlicher Studien erfolgen kann, sondern vielmehr „nel quadro di una storia d’Europa di nuovo tipo“ (S. 79). Wie genau diese „neue“ europäische Geschichte aussehen soll, wird nicht en détail ausgeführt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Einleitung ist die Dekonstruktion von primato, decadenza und eccezione als Deutungsmuster der italienischen Nationalgeschichte. Die Hg. zeigen, wie weit im wissenschaftlichen und vor allem im öffentlichen Diskurs die Idee einer anomalia italiana heute noch weitverbreitet ist. In der Einleitung sowie in vielen der darauffolgenden Kapitel dienen als Ausgangspunkt für die Diskussion über nationalgeschichtliche Paradigmen die Bde. der „Storia d’Italia“ der Wissenschaftsverlage Einaudi und Utet, die in den 1980er Jahren vervollständigt wurden. Obwohl sich die Krise der Nationalgeschichte nach diesen letzten „Storie d’Italia“ verschärfte, blieb die Idee der anomalia nach wie vor beliebt. Denn zahlreiche Publikationen über die Krisen, die Italien nach Tangentopoli und erneut nach der Weltfinanzkrise von 2007 erschütterten, haben die Annahme eines italienischen Sonderwegs revitalisiert. Diese Krisenliteratur, wie Benigno und Mineo detailliert aufzeigen, bedient sich der Erzählung eines unglücklichen Sonderwegs. Dabei handelt es sich um ein vereinfachtes Deutungsmuster der traditionellen Nationalgeschichte, das heute dazu dient, aktuelle Krisen als Resultat einer historisch gewachsenen „eccezionalità negativa“ zu erklären (S. 19). Neben diesem negativen Sonderwegs-Narrativ hat die Nationalgeschichtsschreibung auch das entgegengesetzte Paradigma der „eccezionalità positiva“ hervorgebracht. Renaissance, Risorgimento und Resistenza waren die Epochen, die im Sinne einer eccezionalità positiva gedeutet wurden, ansonsten dominierte das interpretative Paradigma der decadenza oder eccezionalità negativa.
Nach der 80-seitigen Einleitung folgen sieben thematische Kapitel mit jeweils zwei Beiträgen, die die Dynamiken von Krise und Beharrung der italienischen Nationalgeschichte am Beispiel der Themenkomplexe stato, chiesa, letteratura, intellettuali, Risorgimento, famiglia und fascismo in den Blick nehmen. Der Beitrag von Serena Ferente untersucht die Transformation des italienischen Staates in den 1970er Jahren, bedingt vor allem durch die Einführung der Regionen, und die damit verknüpfte Veränderung der Geschichtsschreibung über den Staat. Das Thema „Staat“ wird im Beitrag von Marco Bellabarba weiter diskutiert, hier mit Blick auf die Meistererzählungen, die durch historische Studien zum modernen Staat hervorgebracht wurden und im 20. Jh. unterschiedliche Perspektivierungen und Konjunkturen hatten.
Daniele Menozzis Beitrag fragt nach dem Einfluss der katholischen Kirche auf Prozesse der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung in Italien. Nach der Überwindung linearer Säkularisierungsmodelle, die, als die Großprojekte zur „Storia d’Italia“ von Einaudi und Utet entstanden sind, noch dominierend waren, wird die Bedeutung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jh. wieder kontrovers diskutiert. Menozzi kritisiert dabei sowohl die einseitige Darstellung der Kirche als modernisierungsfeindliches Bollwerk als auch die Gegendarstellung durch katholische Historikerinnen und Historiker, die Religion und Kirche als Vehikel einer „gesunden“ Modernisierung stilisieren. Das Verhältnis zwischen Kirche und Modernisierung war in unterschiedlichen Epochen immer ambivalent und widersprüchlich, wie Menozzi anhand konkreter Beispiele aus der Zeit des Risorgimento, des Faschismus und der Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt. Auch Vincenzo Lavenias Beitrag analysiert Deutungsmuster und Forschungskontroversen zur Geschichte der katholischen Kirche in Italien. Gefragt wird nach den neuen Perspektiven, die auch für die Kirchengeschichte angesichts des global turn entstanden sind. Einerseits betrachtet Lavenia den globalgeschichtlichen Trend kritisch, wenn dieser nur als passe-partout dient, um alten Wein in neue Schläuche zu gießen (S. 174). Andererseits sieht er den global turn als Chance, um die Kirchengeschichte in Italien zu provinzialisieren und sie in dem breiteren Kontext der globalen Strategien der Kurie zu verorten.
Die Beiträge der Sektion „Lingua e letteratura“, die Stefano Jossa und Ottavia Niccoli beigesteuert haben, untersuchen literarische Traditionen und ihre Bedeutung für die nationalen Einheitsbestrebungen bzw. die Nationsbildung und die Konstruktion der Nationalgeschichte – ein Thema, das in den 2000er Jahren infolge der Publikation Alberto M. Bantis Studien zum Nationalkanon im Risorgimento häufig im Zentrum der Diskussionen stand. Jossa analysiert die Idee des intellektuellen Primats und gemeinschaftsbildenden Charakters der Literatur, die Anfang der 1870er Jahre durch die „Storia della letteratura italiana“ von Francesco De Sanctis lanciert wurde und bis heute fortwirkt. Denn das De Sanctis-Modell wurde durch den Schulunterricht perpetuiert und fand eine epochen- und ideologieübergreifende Akzeptanz. Ottavia Niccoli ergänzt Jossas Perspektive, indem sie neben der literarischen Kultur auch die Sprache als Grundlage für Identitäts- und Nations-Konstruktionen in den Blick nimmt.
In Marcello Vergas Beitrag steht ein weiteres Paradigma der Nationalgeschichte im Mittelpunkt: Die Idee, die vor allem im frühen 20. Jh. wirkungsmächtig war, dass nur eine intellektuelle Avantgarde Italien vor dem politischen und moralischen Verfall retten kann. Der folgende Beitrag von Luca Baldissara untersucht eine bestimmte Gruppe von Intellektuellen: Die Historikergeneration, die während der Resistenza sozialisiert wurde und nach 1945 den öffentlichen Diskurs weit über die engeren Fachgrenzen hinweg prägte. Es folgen zwei historiografiegeschichtliche Beiträge von Antonino De Francesco und Marco Meriggi, die das thematische Kapitel über das Risorgimento bilden. De Francesco rekonstruiert die Kontroversen um den Stellenwert des Risorgimento im Rahmen der Neueren und Neuesten Geschichte Italiens, indem er die unterschiedlichen historiografischen und politischen Positionen (gramsciani vs. crociani) zusammenfasst und nach Kontinuitäten zwischen der Nachkriegszeit und den Debatten anlässlich des 150. Jahrestags der Nationalstaatsgründung fragt. Auch Marco Meriggis Beitrag zeigt, dass es nur anhand einer konsequenten Historisierung der Risorgimento-Debatten möglich ist, die Ambivalenzen der Nationsbildungs-Narrative in unterschiedlichen politischen und historiografischen Kontexten – von der Erfindung der Nation im 19. Jh. bis hin zum cultural turn im späten 20. Jh. – zu verstehen.
Die Beiträge der vorletzten Sektion dekonstruieren das negativ konnotierte Paradigma des familismo (die anhaltende Bedeutung familiärer Strukturen als antimodernes bzw. antistaatliches Bollwerk). Die Aufsätze von Giorgia Alessi und Angela Groppi sind tragend für die Struktur des Sammelbd., denn sie zeigen am Beispiel des familismo, dass die Annahme eines negativen Sonderwegs Italiens auf Vorurteilen und vereinfachten Dichotomien (Stadt/Land; Nord/Süd) basiert, die durch die Nationalgeschichte hervorgebracht wurden. Der Bd. schließt mit zwei Beiträgen über Faschismus und Nationalgeschichte. Ausgehend von der Aufarbeitung des faschistischen Regimes und seiner kontroversen Einordnung in der Neuesten Geschichte Italiens, reflektieren Giulia Albanese und Tommaso Baris über Entstehung, Möglichkeit und Grenzen einer transnationalen und vergleichenden Faschismusforschung.
Obwohl die thematischen Kapitel eine Zusammenfassung und Zuspitzung von bekannten Thesen, die die Autorinnen und Autoren in anderen Publikationen bereits präsentiert haben, sind, lässt sich nach der Lektüre dieses Sammelbd. eine positive Bilanz ziehen. Den Hg. ist es gelungen, einschlägige Expertinnen und Experten für die jeweiligen Schwerpunkte zu gewinnen, mit dem einzigen Manko, dass internationale Historikerinnen und Historiker nicht vertreten sind. Kernstück des Bd. ist ohne Zweifel die programmatische Einleitung. Hier werden historiografiegeschichtliche und geschichtspolitische Themen auf höchstem Niveau diskutiert sowie ein Manifest für eine neue europäische Geschichte lanciert. Schade, dass dieses Plädoyer für einen european turn weder in der Einleitung noch in den thematischen Kapiteln operationalisiert wurde.
Rezension von
Francesco Benigno/Igor E. Mineo (a cura di), L’Italia come storia. Primato, decadenza, eccezione, Roma (Viella) 2020 (La storia. Temi 76), 428 S., ISBN 978-88-331-3295-2, € 32.
© 2021 Caruso, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
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