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„Früher war alles besser, früher war alles gut“

  • Justus Haucap EMAIL logo
Published/Copyright: February 25, 2020

Liebe Leserin, lieber Leser,

„früher war alles besser, früher war alles gut“, sangen die Toten Hosen 1986 in ihrem „Wort zum Sonntag“, auch wenn es ironisch gemeint war. Heute bewerten – einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom November 2018 zufolge – zwei Drittel der Europäer die Vergangenheit aber in der Tat positiver als die Gegenwart. Das Gefühl, dass früher vieles besser gewesen sei, ist offenbar weit verbreitet. Aber ob das wirklich stimmt? Da darf man durchaus skeptisch sein.

Sicher aber waren „früher“ mehr Leute jung. Die demographische Entwicklung in Europa in den vergangenen 50 Jahren ist durch zweierlei charakterisiert: Die Geburtenrate ist gesunken, die Lebenserwartung gestiegen. Unsere beiden Abbildungen in der Rubrik Unsere Welt in Zahlen illustrieren, dass sich die Lebenserwartung auch in den anderen Regionen der Welt günstig entwickelt hat – teilweise sogar noch stärker. Vor 50 Jahren lag die Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland und Österreich knapp über 70 Jahren und in der Schweiz sogar schon bei 72 Jahren, heute beträgt sie in Deutschland und Österreich 81 Jahre und in der Schweiz gar 83 Jahre. Noch bemerkenswerter ist die Entwicklung in weniger entwickelten Ländern wie Bolivien, Äthiopien und Mali. Dort ist die Lebenserwartung von 45, 43 und 32 Jahren auf 72, 67 und 59 Jahre gestiegen. In den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Erde, Indien und China, ist sie von 47 Jahren auf 70 Jahre bzw. von 57 Jahren auf 77 Jahre gestiegen. In vielen Ländern leben Menschen also heute im Durchschnitt mehr als 20 Jahre länger als vor 50 Jahren. Es ist offenbar also doch einiges besser geworden, auch wenn früher mehr Leute jung waren. Lediglich in einigen zentralafrikanischen Staaten wie Nigeria liegt die Lebenserwartung heute noch bei weniger als 55 Jahren.

Aus aktuellem Anlass bringt unsere Zeitschrift zwei Beiträge zur Schuldenbremse. Michael Hüther (IW Köln) und Jens Südekum (Düsseldorf) argumentieren gegen die

aktuelle Regelung, während Lars Feld (Freiburg), Wolf Reuter und Mustafa Yeter (beide Sachverständigenrat) Argumente für die Schuldenbremse zusammenfassen.

In der Rubrik Wissenschaft im Überblick knüpfen Dirk Kiesewetter (Würzburg) und seine Koautoren indirekt an die Herausforderungen der demographischen Entwicklung an und bieten einen Überblick über betriebswirtschaftliche Forschungsbefunde zum Zusammenhang zwischen Besteuerung und Altersvorsorge in Deutschland. Nach konzeptionellen Ausführungen zu den Möglichkeiten einer Besteuerung von Alterseinkünften setzen sie sich mit der gesetzlichen Rentenversicherung auseinander. Hier erörtern sie vor allem die Problematik einer potenziellen Doppelbesteuerung, bevor sie die steuerliche Förderung der freiwilligen Altersvorsorge analysieren. Die Autoren präsentieren in diesem Survey empirische und experimental­ökonomische Untersuchungen, die zeigen, dass durch steuerliche Regelungen Einfluss auf Vorsorgeentscheidungen genommen werden kann. Zudem gehen sie auf in Deutschland staatlich geförderte Vorsorgeformen ein und stellen die Literatur zu Riester- und Rürup-Renten dar, denen die betriebswirtschaftliche Forschung ein weitgehend positives Zeugnis ausstellt. Auch die Befunde der Literatur zur betrieblichen Altersversorgung werden aufbereitet.

In der Heftmitte findet sich wie üblich unser Gespräch. Karen Horn hat sich mit Gert G. Wagner (Berlin) über den Reformbedarf des Rentensystems, das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und die genetische Erforschung der Risikoneigung unterhalten. Das Gespräch spannt damit – ähnlich wie Wagners Tätigkeit – einen großen Bogen. Wagner ist einerseits schon lange in der wirtschaftspolitischen Beratung aktiv, so als Mitglied der jüngsten Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“. Andererseits war er federführend an der Etablierung und am Ausbau des SOEP beteiligt, der größten und am längsten laufenden multidisziplinären Langzeitstudie in Deutschland, in der seit 1984 Jahr für Jahr inzwischen rund 30.000 Befragte in etwa 15.000 Haushalten befragt werden. Das SOEP hat als eine der ersten sozialwissenschaftlichen Forschungsinfrastrukturen zu unzähligen Erkenntnissen und Publikationen geführt.

Schließlich sind auch drei Beiträge aus der Forschung im vorliegenden Heft enthalten. Den Auftakt machen Mark Andor, Gunther Bensch, Katja Fels und Nadine Kneppel (alle RWI Essen) mit einer Meta-Analyse von 83 Publikationen zu kausalen Effekten von verhaltensökonomischen Interventionen auf den Energieverbrauch privater Haushalte. Konkret geht es um vier verhaltensökonomische Interventionen, genannt Feedback, Sozialer Vergleich, Selbstbindung sowie Labeling. Die Autoren kommen zu dem Befund, dass Feedback, Sozialer Vergleich sowie Selbstbindung den Stromverbrauch privater Haushalte im Durchschnitt um 2 bis 4 Prozent reduzieren. Für das Labeling erlauben die vorliegenden Studien bislang keine Berechnung des zu erwartenden Durchschnittseffektes, auch wenn es ein effektives Instrument sein kann. Vor einer flächendeckenden Einführung von als kosteneffizient eingeschätzten Maßnahmen zum Energiesparen empfehlen die Autoren allerdings eine systematische Ex-ante-Evaluation in der jeweiligen Zielregion.

Im zweiten Beitrag aus der Forschung befassen sich Bernhard Dachs und Andreas Drach (beide Wien) mit der Frage, wie stark das Wachstum junger forschungsintensiver Unternehmen das technologische Leistungsvermögen von Ländern bestimmt. Die Autoren untersuchen dies anhand der Entwicklung in Österreich, wo sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) von Unternehmen seit 2002 mehr als verdoppelt haben. Ihre Analyse auf Basis von Firmendaten zeigt, dass dieser Anstieg vor allem von großen, etablierten und nur zu einem geringen Teil von neuen Unternehmen ausging. 62 Prozent der F&E-Ausgaben des Jahres 2013 stammen von Unternehmen, die bereits 2002 F&E betrieben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen mit kleinem F&E-Budget in die Gruppe der großen forschungsintensiven Akteure aufsteigen, ist sehr gering. Den Autoren zufolge weist diese Beobachtung auf institutionelle Hemmnisse im Innovationssystem hin.

Im dritten Beitrag aus der Forschung setzt sich der Wirtschaftshistoriker Mark Spoerer (Regensburg) mit der von Albrecht Ritschl in dieser Zeitschrift im Jahr 2005 aufgestellten These auseinander, dass die sozioökonomischen Strukturen der Bundesrepublik in stärkerem Umfang durch Pfadabhängigkeiten aus dem Dritten Reich geprägt seien als durch die bundesrepublikanische Ordnungspolitik. Spoerer argumentiert in seinem Beitrag nun jedoch in Hinblick auf die Wettbewerbsintensität, den materiellen Wohlstand und dessen Verteilung sowie die Produzenten- und Konsumentensouveränität, dass die frühe Bundesrepublik viel stärker durch Anknüpfung an ordnungspolitische Traditionen aus der Weimarer Zeit als durch Pfadabhängigkeiten aus dem Dritten Reich charakterisiert war.

Wie immer wünsche ich Ihnen Spaß und den ein oder anderen Erkenntnisgewinn beim Lesen. Für Ihr Feedback bin ich jederzeit dankbar.

Justus Haucap

Twitter: @PerspektivenWP

Online erschienen: 2020-02-25
Erschienen im Druck: 2020-03-02

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2020-0004/html
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