Abstract
As a class belonging to phraseology, winged words are characterized above all by the fact they are also used in other contexts as quotations, especially from literary texts (e.g., Grau, teurer Freund, ist alle Theorie from Goethes Faust I), thus acquiring a life of their own. However, they can be referred to the original sources in the consciousness of the language user. Forms of expression from areas other than literary areas, such as movies and television, advertising, etc., are increasingly gaining a comparable status in public language use. The imprinting of these expressions often stems from the fact that winged words are not only or no longer used as quotations but also used as a means of commenting on facts, evaluating them, etc., and at the same time calling up knowledge scenarios that refer to the original context of use as backgrounds for understanding. Over time, new patterns of expression may be established by modifying parts of the original formulation so that – expressed in construction grammar – new situationally adaptable form-meaning pairs can emerge. Based on this “phraseologization mechanism”, problematic aspects of phraseology theory are identified and discussed using the example of Das also war des Pudels Kern. Finally, suggestions are made for the conceptual sharpening of the category “winged words”.
1 Das verbreitete Begriffsverständnis und seine Problematisierung
Bei der Bezeichnung „Geflügeltes Wort“ denkt man – zumindest vermutlich als Phraseologin – unwillkürlich an die erstmals 1864 erschienene Sammlung von Georg Büchmann, sprich: den „klassischen Zitatenschatz“, in dem lehrreiche und einprägsame Formulierungen aus der Bibel und aus Werken der Weltliteratur zusammengestellt sind. Die ursprünglich aus einer Übersetzung eines wiederkehrenden Ausdrucks in Homers Epen hervorgegangene Bezeichnung hat sich bis heute in der Wörterbuchlandschaft und in der Phraseologieforschung gehalten, ist aber von der ursprünglichen Vorstellung befreit: „Gemeint sind damit [= mit Geflügelten Worten, St. St.] wirklich von Göttern und Menschen gesprochene und sozusagen ‚auf Flügeln‘ das Ohr des Hörers erreichende Worte“ (Büchmann 2001: 299). Der Einleitung zur 42. Auflage von 2001 zufolge handelt es sich nach Büchmanns Vorstellung um „landläufige, von jedermann verwendete, allgemein verbreitete ‚Zitate‘“ (Büchmann 2001: VIII), die in einem literarischen Werk geprägt wurden und deren Prägung nachgewiesen werden kann. Dieses zunächst als klassisches Bildungsgut und Bildungsnachweis zu verstehende Ausdrucksrepertoire (vgl. dazu Frühwald 1990) speist sich also vornehmlich aus bekannten oder angebbaren literarischen Quellen, zu denen im Laufe der Zeit auch Ausdrucksstrukturen aus weiteren Bereichen wie Werbung, Film und Fernsehen (Film- und Serientitel, Liedgut u. a.), politischer Sprachgebrauch usw. hinzugekommen sind: „Ein Ausdruck wird erst dann zum Geflügelten Wort im phraseologischen Sinn, wenn er in einem neuen Kontext, in neuen Situationen eingesetzt wird und als passend empfunden wird“ (Burger 2015: 137). Ihre Zitierfähigkeit – und ihre Eignung, wie herkömmliche Phraseme verwendet werden zu können (vgl. Eismann 2007: 327) – verdankt sich dem Umstand, dass es sich um griffige und auf andere Kommunikationssituationen gut übertragbare Formulierungen handelt, die zum Ausbau des Bestands an Mehrworteinheiten beitragen können, die sich als Ausdrucksmittel in neuen Verwendungssituationen eignen (z. B. der Slogan Nicht immer, aber immer öfter aus der Werbung für die Marke Clausthaler, der Ausspruch Wir schaffen das der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Bundespressekonferenz am 31. August 2015 zum Thema ‚Flüchtlingskrise‘). Daher können Geflügelte Worte und Mutmaßungen über den „richtigen“ und ursprünglichen Wortlaut und den damit zusammenhängenden Verwendungskontext durchaus auch Unterhaltungswert aufweisen; so fragt beispielsweise die Süddeutsche Zeitung in ihrer Wochenendausgabe vom 04./05.03.2023 (Ausgabe 53: 51) in der treffend bezeichneten Rätsel-Rubrik Aller Anfang nach dem vollständigen Wortlaut einer auf die Anfangsbuchstaben reduzierten Äußerung aus einem Geschirrspülmittelspot aus den 1990er Jahren (vgl. Abb. 1).
Aufschlussreich ist, dass mit der Etikettierung „geflügelten Wort“ die Kategorie bei der Leserschaft als bekannt vorausgesetzt wird.[1]

Geflügeltes Wort als Rätsel in der SZ-Rubrik Aller Anfang
Wie man auch an diesem Beispiel sehen kann, sind jedoch an Büchmanns ursprünglicher Charakterisierung von Zitaten als „landläufig“ und „allgemein verbreitet“, vor allem aber als „von jedermann verwendet“ aus heutiger Sicht große Zweifel angebracht, und selbst das Kriterium, dass die jeweilige ursprüngliche Quelle ermittelt und angegeben werden kann, muss relativiert werden. So schwächt auch Burger (2015: 48) dieses Bestimmungskriterium entsprechend ab: „Entscheidend ist jeweils, dass bei den Sprechern ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte und allenfalls bestimmbare Quelle zurückgeht“. Diese weit verbreitete Charakterisierung verdeutlicht, dass die Einordnung eines Mehrwortausdrucks als „Geflügeltes Wort“ nicht auf struktur-semantischen Eigenschaften einer Wortverbindung beruht, sondern darauf, dass es eine ursprüngliche Verwendungssituation gibt, in der eine Wortverbindung – mutmaßlich erstmalig – geprägt worden ist, und dass die Mitglieder der Sprachgemeinschaft zumindest ein Gespür dafür haben, dass die Wortverbindung zu einem früheren Zeitpunkt geprägt worden sein muss, ohne ihn auch immer konkret benennen zu können. Es liegt auf der Hand, dass Ansichten und Annahmen über die Existenz und Art der ursprünglichen Quelle, über die entsprechenden Verwendungsbedingungen wie auch über den ursprünglichen Wortlaut eines vermeintlichen Geflügelten Wortes auseinandergehen können.[2]
Mit dem ausschlaggebenden Kriterium der Existenz und Nachweis‑ bzw. Ermittelbarkeit der Quellen steht die Plausibilität der Klasse der Geflügelten Worte aus phraseologischer Sicht allerdings auf äußerst wackligen Beinen. Denn letztlich entscheiden Faktoren wie kommunikativer Erfahrungshintergrund, Ausmaß und Verlässlichkeit der Kenntnis zitierfähiger Passagen aus literarischen Werken sowie anderen kulturellen und sonstigen zitierwürdigen gesellschaftlichen Errungenschaften darüber, ob eine solche Quelle überhaupt vermutet wird oder nicht. Dass entsprechende Einschätzungen schnell differieren können, ist aus Sicht der Phraseologieforschung für die Klassifikation als Phrasem allerdings ohne Belang – solange der Nachweis der jeweiligen Quelle gelingt (vgl. dazu Mokienko 2007: 1143). Diese weit verbreitete Ansicht hat zur Folge, dass praktisch keine Einführung oder Gesamtdarstellung zur Phraseologie darauf verzichtet, Geflügelte Worte als Teil einer Phraseologie im weiteren Sinne auszuweisen und zu berücksichtigen (vgl. z. B. Burger, Buhofer und Sialm 1982: 43–56; Palm 1995: 5–6; Burger 2015: 48–49). Dass weit verbreitete Ansichten jedoch nicht unbedingt auch zutreffend sein müssen, gilt auch für die Phraseologieforschung; so weist etwa Farø (2007: 954) auf die offene Frage hin:
A hitherto unsolved problem is the question whether catchphrases (CP) (‘geflügelte Worte’, [...]) are phraseological units or not. In some works they are seen as a part of phraseology, although not a core part of it. But this is too vague, mainly because CP should not be defined on the criterion polylexicality but rather on the two elements intertextuality and lexicalizedness.
Es sind daher weniger phraseologietheoretische, als vielmehr verwendungsbezogene Gründe, die dazu veranlassen, Geflügelte Worte als phraseologische Einheiten zu werten. Allerdings bringen ihr Einbezug in den Phrasembestand und ihr Verständnis als Klasse von Phrasemen mehrere Problemfelder mit sich.
2 Geflügelte Worte als Phrasemklasse? – Problemfelder
2.1 Sprach‑ und kulturhistorische Prägung der Klasse und Nachweisbarkeit der Quelle als Klassifikationskriterium
Aus dem eingangs Gesagten ergibt sich, dass Geflügelte Worte nur im Rahmen einer Mischklassifikation (vgl. Burger 2015: 36) als eigenständige Phrasemklasse erfasst werden können, da das klassenkonstitutive Merkmal zu den üblicherweise für die Klassifikation von Phrasemen herangezogenen Kriterien (wie referentiell, strukturell und kommunikativ in Burgers „Basisklassifikation“) quer liegt (vgl. Burger 2015: 38). Da außer Polylexikalität und der allein durch den Zitatcharakter bedingten ausdrucksseitigen Festigkeit phrasemtypische ausdrucksinhärente Eigenschaften (wie Idiomatizität) fehlen, bleibt als einziges klassenbildendes Kriterium die Nachweisbarkeit einer Quelle: „Ob Wortgruppen‑ oder Satzstruktur oder auch Einzelwort, ist nicht maßgebend, sondern maßgebend ist der Quellennachweis“ (Fleischer 1997: 14) – ein Kriterium also, das, abgesehen von Autorphrasemen, außerhalb sonstiger phraseologischer Klassifikationsbemühungen angesiedelt ist und sich lediglich mit der Eigenschaft der lexikalischen und gegebenenfalls psycholinguistischen Festigkeit in Zusammenhang bringen lässt. Auch wenn sich am ehesten zur Gruppe der satzwertigen Phraseme, d. h. zu Festen Phrasen und zu Topischen Formeln wie Gemeinplätzen und Sprichwörtern Affinitäten zeigen, stellt sich aus phraseologietheoretischer Sicht die Frage, ob es plausibel ist, an einer phraseologischen Klasse festzuhalten, die im Wesentlichen durch sprach‑ und kulturhistorische Prägung (und deren Kenntnis in der Sprachgemeinschaft) begründet ist.
2.2 Phraseologisierung Geflügelter Worte und Klassenüberschneidung
Die Frage nach dem Status als eigene Phrasemklasse gewinnt zusätzlich dadurch an Brisanz bzw. Fragwürdigkeit, dass die Grenzen zwischen Geflügeltem Wort und anderen phraseologischen Klassen (wie Sprichwörtern, Gemeinplätzen u. a.) und ebenfalls zitathaft verwendeten Einheiten wie Maximen, Sentenzen, Slogans, Losungen, Aphorismen usw. zu verschwimmen drohen, „wenn mit der Wendung keinerlei Assoziation an die Quelle mehr verbunden ist“ (Fleischer 1997: 15). Für die Frage nach der Existenzdauer eines Geflügelten Wortes heißt das: „Ein Geflügeltes Wort ist es [= ein Zitat, St. St.] aber nur solange, wie noch die Quelle im Bewusstsein der Sprachbenutzer vorhanden ist. Wenn dieses Bewusstsein verloren geht, wird es zu einem ‚normalen‘ Phrasem [...]“ (Burger 2015: 137). Diese Sichtweise kann zwar als mehrheitsfähig angesehen werden, problematisch erscheint sie aber, weil sie davon absieht, dass es nur mit erheblichem (und zu wiederholendem) Aufwand möglich ist, zu bestimmen, wann und wie lange eine Quelle im Bewusstsein der Sprachbenutzer vorhanden ist bzw. bleibt. Im Vergleich zu der aufwändigen Operationalisierbarkeit erweist sich Fleischers (1997: 79) Einschätzung als griffiger: „Sobald der Bezug auf die Quelle in der kommunikativen Verwendung entfällt, liegt im Grunde ein Phraseologismus vor“.
Im Hinblick auf die Entstehung(smöglichkeiten) von Phrasemen (vgl. dazu auch Munske 1993) kommt es an dieser Stelle vor allem darauf an, dass es Übergänge zwischen Geflügeltem Wort und Phrasem gibt und dass sich zwischen beiden Kategorien durch die jeweiligen Verwendungsbedingungen begründete unidirektionale Klassenwechsel beobachten lassen; Fleischer (1997: 79) spricht von „phraseologisierte[n] geflügelte[n] Worte[n]“ – eine Bezeichnung, an der ersichtlich ist, dass Geflügelte Worte zunächst streng genommen keine (bzw. noch keine) Phraseme darstellen, sich im Gebrauch aber zu Phrasemen entwickeln können und den Charakter eines Geflügelten Wortes dann verlieren. Zur Illustration drei im gegenwärtigen Sprachgebrauch weit verbreitete Beispiele (s. Tabelle 1).
Vom Geflügelten Wort zum Phrasem
Beispiel | ursprüngliche Prägung | phraseologische Klassifizierung und gegenwartssprachlicher Gebrauch als |
---|---|---|
Schwamm drüber! | in dem von Friedrich Zell und Richard Genée verfassten Text zu Karl Millockers Operette Der Bettelstudent (vgl. Büchmann 2001: 223) | Routineformel bzw. kommunikatives Phrasem |
den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen | in Musarion von Christoph Martin Wieland | verbales referentielles (nominatives) Phrasem (Idiom) |
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst | im Sachsenspiegel des Eike von Repgow | Sprichwort |
Lüger (2021: 576) führt im gleichen Zusammenhang stellvertretend das Beispiel Steter Tropfen höhlt den Stein an, das Röhrich (1994: 1645–1646) und Büchmann (2001: 352) auf Ovids (Epistolae IV, 10,5) – aus der volkstümlichen Überlieferung übernommene – Redensart Gutta cavat lapidem zurückführen, aber zugleich auch darauf verweisen, dass der eigentliche Gedanke bereits früher belegt ist (vgl. Büchmann 2001: 368); auch hier zeigt sich, dass eine eindeutige Belegstelle und damit ein eindeutiger Nachweis der ursprünglichen Prägung kaum möglich sind und es aus heutiger Sicht angemessener erscheint, von einem „(metaphorischen) Sprichwort“ (vgl. Lüger 2021: 576) zu reden.
Da sich die Liste solcher Beispiele nach Belieben verlängern ließe, kann man, verkürzt gesagt, das Reservoir an Geflügelten Worten aus den genannten Herkunftsbereichen, sofern sie nicht nur ein Schattendasein in Zitatsammlungen fristen und alles andere als „allgemein verbreitet“ sind, als Quelle für die Prägung potenzieller Phraseme ansehen.
Nachlassendes Bewusstsein für die ursprüngliche Herkunft und damit auch nachlassende Belegbarkeit haben also zur Folge, dass Geflügelte Worte in bestimmte Phrasemklassen übergehen. Eine besondere Rolle spielen dabei satzwertige Phraseme wie Gemeinplätze und Sprichwörter, da Geflügelte Worte oft Satzcharakter aufweisen;[3] wie die Beispiele verdeutlichen, können sie aber auch in anderen Klassen nicht-satzförmiger Phraseme aufgehen. Allgemein lässt sich die Entwicklungslinie folgendermaßen darstellen:

Phraseologisierung Geflügelter Worte
2.3 Geflügelte Worte als – fragwürdiger – Bildungsindikator
Schon die wenigen Beispiele in Abschnitt 2.2 genügen, um zu verdeutlichen, dass gegenwartssprachlich als Phraseme klassifizierte sowie im Sprachgebrauch ohne Quellenbezug und, mehr noch, meist auch ohne Quellenkenntnis verwendete Mehrwortausdrücke nur sprach‑ bzw. kulturhistorisch (und meist mit entsprechendem Rechercheaufwand) als Geflügelte Worte bestimmt und eingeordnet werden können. Durchforstet man vor diesem Hintergrund den bei Büchmann oder in anderen Nachschlagewerken (z. B. Duden 12 2019) dokumentierten Bestand oder schaut man auch nur auf die üblicherweise in der phraseologischen Standardliteratur herangezogenen Beispiele, wird schnell deutlich, dass vermutlich weite Teile der Sprachgemeinschaft in der überwiegenden Zahl der Fälle das Vorliegen eines Geflügelten Wortes im Sprachgebrauch weder produktiv noch rezeptiv erkennen dürften. Eher ist zu vermuten, dass der Zitatcharakter aufgrund gegebenenfalls anderer (z. B. metrischer oder rhetorisch-stilistischer) Merkmale der Ausdrucksgestaltung (wie Auffälligkeit infolge etwa veralteter oder unikaler lexikalischer Einheiten, ungewöhnlicher Satzstrukturen, Reimschemata usw.) (vgl. dazu auch Lüger 1999: 123) und den damit verbundenen Stilwechseln zwar wahrgenommen werden dürfte, die Quelle aber in den wenigsten Fällen benannt werden könnte. Der bereits erwähnte Bildungshintergrund – Palm (1995: 5) spricht von „eine[r] Form des ‚Spiels mit der Bildung‘“ – oder auch nur der Erfolg beim etwaigen Recherchieren entscheidet dann darüber, ob der kommunikative Effekt und die persuasive Wirkung eintreten:
Der Sprachbenutzer charakterisiert durch das Zitieren eines geflügelten Wortes eine vergleichbare Situation und stellt diese dadurch in einen kulturhistorischen Kontext. Es wird dabei vorausgesetzt, daß Hörer und Leser die Referenz auf die Bildung verstehen und die oft geistreiche und treffende Charakteristik nachvollziehen können (Palm 1995: 5).
Auch Gläser (2007: 489) sieht im Rahmen ihrer Charakterisierung des phraseologischen Systems der Allgemeinsprache in Geflügelten Worten einen Bildungsindikator; zur Peripherie dieses Systems rechnet sie
Zitate als Aussprüche, deren Quellen bekannt sind und deren Gebrauch vom Bildungshintergrund der Sprecher abhängt: [...] Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze (Schiller). Eine Untergruppe der Zitate bilden die Geflügelten Worte. Sie sind volkstümlich gewordene Zitate, deren Herkunft allmählich in Vergessenheit gerät, den gebildeten Sprechern aber noch bekannt ist: [...] die Forderung des Tages (Goethe); die Mühen der Ebenen (Brecht).
Schon Burger, Buhofer und Sialm haben ausführlich dargelegt, dass sich Annahmen wie „[...] geflügelte Worte gehören zum Allgemeinwissen der bildungstragenden Schicht“ (Gläser 2007: 495) aus einem „ungerechtfertigten Bildungs-Optimismus“ (Burger, Buhofer und Sialm 1982: 43) speisen, zumal der Großteil der in Büchmanns „Zitatenschatz“ zusammengetragenen Zitate in heutiger Zeit in Vergessenheit geraten sein dürfte. An ihre Stelle sind eher die erwähnten Zitate von Film‑, Lied‑, Buchtiteln, Werbesprüchen usw. getreten, die vor allem als Rohmaterial für Abwandlungen bzw. Anspielungen vielfältiger Art dienen (vgl. dazu u. a. Dittgen 1989; Wilss 1989; Sabban 1998).
Hinzu kommt, dass Geflügelte Worte bei der Rezeption (ausführlich dazu Burger, Buhofer und Sialm 1982: 47–56) häufig zwar als Prägungen erkannt werden, der Bezug zur ursprünglichen Quelle aber entweder diffus bleibt (z. B. Vermuten einer literarischen Herkunft statt genauer Belegbarkeit der Quelle durch Autor‑ und Werksangabe oder Annahme eines Werbeslogans statt genauer Benennung des beworbenen Produkts usw.) oder ein solcher Bezug erst gar nicht vermutet wird, so dass eine als Geflügeltes Wort verwendete und gemeinte Textpassage zwangsläufig als Phrasem rezipiert wird.
2.4 Zitatcharakter und Mehrstimmigkeit
Ein Merkmal, das Geflügelte Worte infolge der verbreiteten Begriffsauffassung mit satzwertigen Phrasemen gemeinsam haben, ist ihr Zitatcharakter (ausführlich dazu Lüger 1999: 110–125). Anders als nicht belegbare satzwertige Phraseme sind sie nicht auf eine „kollektive Instanz“ (Lüger 1999: 110) zurückzuführen, sondern können aufgrund der Quellennachweisbarkeit als individuell belegbar angesehen werden. Wie satzwertige Phraseme kommen sie meist ohne metasprachliche Markierung oder Rahmung vor:
[...] das ausdrückliche Ausweisen als ‚zitiert‘ erübrigt sich in den meisten Fällen – es gehört zum Sprachwissen eines kompetenten Hörers oder Lesers, die in Frage stehenden Äußerungen als vorgeprägt, als zum Ausdrucksbestand der Sprache gehörig identifizieren zu können (Lüger 1999: 118).
Für Geflügelte Worte heißt das, dass sie ebenfalls einen Bruch in der thematischen Progression bzw. einen „Kontinuitätsbruch“ (Lüger 1999: 123) darstellen, sofern ihr Zitatcharakter aufgrund der Quellenkenntnis oder anderer Merkmale, die die textuelle Kontinuität und die aufgebauten Fortsetzungserwartungen unterbrechen, erkannt wird. Aufschlussreicher ist, dass der Textproduzent nicht nur mit der eigenen, sondern durch das Zitieren auch noch mit einer anderen Stimme spricht, allerdings ohne die von Lüger (1999: 124–125) als „Polyphonie“ bezeichnete Form des Sprechens mit kollektiver Stimme zu nutzen. Der Effekt verdankt sich nicht der Berufung auf die Glaubwürdigkeit und Autorität des Kollektivs, sondern der Formulierungskraft einzelner Sprachverwender(innen), denen es in anderen Verwendungszusammenhängen gelungen ist, eine besonders eingängige oder griffige Wortverbindung zu prägen, die sich als situativ vielseitig, damit als wiederverwendungsfähig und deshalb als übernehmens- und überliefernswert erweist. Sobald ein ursprüngliches Geflügeltes Wort Teil des Phrasembestands geworden ist, geht die Zweistimmigkeit zwangsläufig in die Mehrstimmigkeit des Kollektivs über.
3 Das also war des Pudels Kern zwischen Zitat, Geflügeltem Wort und Phrasem
Die angesprochenen Problemfelder sollen im Folgenden exemplarisch am Fall des auch titelgebenden Geflügelten Wortes – eines der vermutlich berühmtesten Faust-Zitate – verdeutlicht werden. Im Fokus stehen die verschiedenen Verwendungsweisen und die Frage, wie der Rückgriff auf die originär satzförmige Prägung im gegenwärtigen Sprachgebrauch sowohl hinsichtlich der formalen Struktur als auch der textuellen Funktion zwischen Zitat und Geflügeltem Wort sowie Phrasem changiert.
3.1 Das also war des Pudels Kern als Faust-Zitat
Die Äußerung, die Goethe Faust in der Studierzimmer-Szene in den Mund legt, trägt (auch in zitierter und reproduzierter Form) im Hinblick auf die Ausdrucksstruktur insofern Erkennungsmerkmale für das Vorliegen eines Geflügelten Wortes in sich, als die Wortgruppenstruktur für die Gegenwartsprache ungewohnte morphosyntaktische Eigenschaften aufweist: Die pränukleare Positionierung eines Genitivattributs ist im Gegenwartsdeutschen zwar nicht ausgeschlossen, im Falle attributiver Wortgruppen mit einem appellativen bzw. nichtproprialen Substantiv als Kopf aber unüblich und infolge der usuellen postnuklearen Stellung auffällig (vgl. die „zeitgemäße“ Variante Das also war der Kern des Pudels, deren Struktur den Verlust des Charakters als Zitat bzw. Geflügeltes Wort zur Folge hat). Auch wer den Bezug zu Goethes Faust nicht kennt, vermag aufgrund der ungewohnten Wortstellung vermutlich zu erschließen oder zumindest zu erahnen, dass es sich um eine ältere, u. U. auch aus einem literarischen Werk stammende Äußerung handelt.
Im Hinblick auf den Handlungsverlauf kommt Fausts Äußerung „Das also war des Pudels Kern!“ Kommentarfunktion zu, indem Faust als Reaktion auf die Rückverwandlung Mephistos aus einem schwarzen Pudel in menschliche Gestalt („Ein fahrender Skolast?“) zum Ausdruck bringt, dass sich seine Vorahnung über die wahre Natur des den Mephisto verkörpernden Pudels bestätigt hat.
Verallgemeinert gesagt, dient die Äußerung dazu, zu thematisieren, dass ein zunächst nicht transparenter Umstand bzw. Sachverhalt plötzlich in seinem wahren und wesentlichen Kern erfasst werden kann. Insofern kann sie im ursprünglichen Kontext der Tragödie als „überraschter Ausruf“ (Duden 12 2019: 113) interpretiert und entsprechend in anderen Zusammenhängen eingesetzt werden: „Man verwendet das Zitat auch heute, um seiner Überraschung über etwas, das sich lange nicht recht erkennen oder durchschauen ließ, Ausdruck zu geben“ (Duden 12 2019: 113; vgl. auch Duden 11 2020: 408–409).[4]
3.2 Das also war des Pudels Kern im Bewusstsein der Sprachverwenderinnen und Sprachverwender
Die in der Faust-Tragödie charakteristische Situation, dass etwas nicht sofort in seinem Wesen erkannt und durchschaut werden kann, kann als Voraussetzung für die Übertragbarkeit von Fausts Äußerung auf andere Lebens- und Kommunikationssituationen angesehen werden, d. h. ihr dürfte die Eignung des Zitats dafür zu verdanken sein, auch andere (überraschende) Momente der Erkenntnis auf dieselbe Weise zu kommentieren.
Die Annahme, dass Geflügelte Worte allgemein verbreitet, ihre Quelle bzw. Belegbarkeit und ihre Bedeutung im Bewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher verankert sind, erweist sich allerdings als trügerisch, wie ein Streifzug durch Seiten im WWW (Foren usw.), auf denen Herkunft, Bedeutung und Funktion zu erklären versucht werden, schnell erkennen lässt. So erweisen sich Erläuterungen zur Bedeutung und zu möglichen Verwendungsbedingungen wie auch die Kenntnis des Originalwortlauts als sehr heterogen. Auffällig sind insbesondere die folgenden Punkte:
Der Entstehungshintergrund des Geflügelten Wortes ist nur partiell bekannt, so dass die Annahmen über die ursprüngliche tragödiensituationelle Verankerung des Zitats und damit die Rückführbarkeit auf diese Quelle erheblichen Schwankungen unterliegen und auch auf interpretatorischer Freiheit beruhen:
Das Zitat ist zu einem geflügelten Wort geworden. Es wird benutzt, um auf den wesentlichen Punkt von etwas hinzuweisen. […].[5]
Bedeuten tut es: Darin liegt die Lösung. Das ist der Kern des Problems. Aber wo genau der Spruch herkommt, kann ich Dir auch nicht sagen. Pudel + Kerne passen irgendwie nicht zusammen: -/.[6]
Hey, ich würde sagen des Pudels Kern Ich würde meinen das benutzen sehr viele Leute ohne, dass sie überhaupt wissen woher das kommt. Sehr bekannt auf jeden Fall. Falls das als „Zitat“ zählt. Gruß.[7]
Goethe prägte die Redewendung „Das ist des Pudels Kern“
„Aha, das ist also des Pudels Kern!“ Das haben Sie doch sicher auch schon gehört. Wahrscheinlich, als Sie jemandem nicht ganz die Wahrheit sagen wollten. Aber was haben Hintergedanken, die aufgedeckt wurden, mit einem Pudel zu tun? Und wieso Kern? [...] Die Redewendung geht auf Goethes „Faust“ zurück. [...] Fausts Erkenntnis der Wahrheit führte zum geflügelten Wort „des Pudels Kern“, das man immer dann benutzt, wenn man den wahren Hintergrund einer Sache erkennt.[8]
Die Funktion des Originalzitats wird unterschiedlich und z. T. recht vage erläutert:
Bedeutung: Mit diesem Satz wollen wir sagen, dass wir den wahren Ursprung oder den wahren Hintergrund einer Situation erkannt haben.[9]
Heute wird die Redewendung gerne benutzt, wenn etwas ans Tageslicht kommt, dass bis dahin nicht offensichtlich war.
Kurzum: „Mit des Pudels Kern“ wird die Wahrheit oder eine markante Aussage bezeichnet, die zuvor nicht zu erkennen war, weil sie beispielsweise geschickt verschleiert wurde.[10]
Eine Redewendung, die wir benutzen, wenn wir etwas herausgefunden haben, was zunächst nicht offensichtlich war.[11]
Heute wird die Redewendung gerne benutzt, wenn etwas ans Tageslicht kommt, dass bis dahin nicht offensichtlich war.[12]
des pudels kern stammt von goethes faust. mephisto hatte sich doch in einen schwarzen verwandelt. des pudels kern ist also was wirklich drinsteckt und nicht nach was es von aussen aussieht.[13]
Des Pudels Kern bedeutet soviel wie: „Das ist die Ursache“, oder „Das ist das, worauf es ankommt“. Wenn jemand eine Aussage macht und in dieser bereits die Ursache nennt, dann sagt der gegenüber:„Na das ist ja gerade des Pudels Kern.“[14]
Die Redewendung (ein Sprichwort ist das nicht) „des Pudels Kern“ bezieht sich auf den eigentlichen Sinn, die tiefere Bedeutung einer Sache/Aktion/Aussage.[15]
stammt aus goethe‘s faust, soll sagen, dass es das ist, worauf es ankommt...[16]
Wie an den bisherigen Belegen ersichtlich ist, werden der Mehrwortcharakter und die Vorgeprägtheit des Zitats sehr unterschiedlich erfasst und infolgedessen unscharf bezeichnet. Neben der Einstufung als Geflügeltes Wort (vgl. Beleg 4) reichen die sich z. T. widersprechenden Charakterisierungen von ‚Zitat‘, ‚Spruch‘ bzw. ‚Ausspruch‘ und ‚Ausruf‘ über ‚Sprichwort‘ bis zum laienlinguistisch weit verbreiteten und insbesondere auch in phraseodidaktischen Zusammenhängen häufig benutzten ‚Redewendung‘. Offenbar werden im Sprachgebrauch die beiden Kategorien ‚Sprichwort‘ und ‚Redewendung‘ aufgrund ihrer Allgemeinverständlichkeit, weiten Verbreitung und trotz ihrer begrifflichen Unschärfe, die ein sehr breites Spektrum an Mehrwortausdrücken zu erfassen erlauben, auch genutzt, um Geflügelte Worte einzubeziehen. Beleg (4) illustriert besonders anschaulich, dass ‚Redewendung‘ und ‚Geflügeltes Wort‘ nebeneinander und quasi synonym verwendet werden. Der folgende Beleg
Im Grunde ist dieser Satz kein Sprichwort, sondern ein Zitat. Es stammt aus Goethes literarischem Werk Faust.[17]
zeigt, dass die Sprachverwenderinnen oft auch auf unspezifische Charakterisierungen wie ‚Spruch‘ oder ‚Satz‘ ausweichen, eine kategorielle Einordnung, die sich auf die Vorgeprägtheit bezieht, also zu vermeiden suchen.
Wie es für Geflügelte Worte typisch ist, wird auch das Faust-Zitat als Rohmaterial für Modifikationen verwendet (vgl. zur Modifikation von Geflügelten Worten Bebermeyer und Bebermeyer 1977; Burger, Buhofer und Sialm 1982: 45–46; Lüger 1999: 216–217; Mieder 2011, insbesondere 341–345; Mieder 2016). Die Modifikation ist lexikalischer Natur, da die Prädikativstruktur erhalten bleibt und die Komponente Pudel substituiert wird:
Viele Belege machen allerdings auch deutlich, dass im Bewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher nicht allein die satzförmige Prägung als Prädikativkonstruktion mit textdeiktischem Verweiselement vorherrschend ist, sondern eine auf die nominale Wortgruppe des Pudels Kern verkürzte Variante, die als (nominales) referentielles Phrasem einzustufen ist (und auch in onomastischer Funktion u. a. als Titel von Büchern und Fernsehsendungen sowie als Name von Musikbands verbreitet ist).
3.3 des Pudels Kern als partielles Geflügeltes Wort
Fälle der Verwendung in anderen Situationen, in denen ein plötzlich sichtbar werdender, bislang verdeckter oder verschleierter wesentlicher Kern von etwas mit dem Faust-Zitat kommentiert und u. U. auch ein expliziter Bezug auf die Herkunft und Quelle gegeben wird, können als Belege für die konventionelle Auffassung von Geflügelten Worten gewertet werden.
Stellvertretend illustriert folgender Beitrag auf der Plattform Linkedin, in welcher Weise die Versetzung des Geflügelten Wortes in einen anderen Kontext die ursprüngliche Prägung zwar reflektiert, die Wortgruppe aber gleichzeitig auch wie ein Phrasem einsetzt:
[...] „Von Goethe lernen“: Folgende Szene in Goethes Faust vermittelt eine wichtige Lektion für die Unternehmensführung: [...] Faust ruft aus: „Das also war des Pudels Kern.“
Diese Redewendung wird oft als Metapher verwendet für zuvor Verborgenes oder Verschleiertes. Genau wie Faust sollten insbesondere Unternehmer und Führungskräfte danach streben, „Pudels Kern“ in ihren Organisationen zu erkennen. Es geht darum, hinter die Fassaden zu blicken und die verborgenen Wahrheiten und Potenziale aufzudecken.
Gibt es womöglich auch in Ihrem Unternehmen einen vermeintlich unscheinbaren Pudel, der sich plötzlich als Mephisto entpuppt – voller unerwarteter Tücken und Herausforderungen?
Es ist wichtig, stets wachsam zu sein, um Gefahren zu erkennen. Doch zugleich sollten wir mit Offenheit agieren, denn selbst Tücken können Möglichkeiten und Potenziale eröffnen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Meine Frage an Sie: Welchen „Pudels Kern“ haben Sie selbst enträtselt? Wovor hat das bewahrt? Teilen Sie Ihre Gedanken und Erfahrungen gerne in den Kommentaren! Welcher Pudel hat Euren Weg gekreuzt [...].[23]
Das Beispiel stellt in ausführlicher Weise dar, wie sich das Originalzitat (und sein ursprünglicher Verstehenshintergrund) in einem gänzlich anderen Kontext (Unternehmenskultur und Führungskompetenz) nutzen lässt. Situative Adaptierbarkeit erweist sich als Voraussetzung für den nicht-zitathaften, sondern phrasemartigen Gebrauch. Auffällig ist dabei die oben erwähnte Tendenz zur Zitatverkürzung auf die nominale Wortgruppe, d. h. es wird nicht mehr unter Verweis auf Vorausgehendes etwas prädiziert und kommentiert, sondern mit der Wortgruppe (des) Pudels Kern ein Umstand oder Sachverhalt als solcher charakterisiert und schließlich allein mit der zentralen Komponente Pudel auf die mitschwingende Ausdrucksbedeutung der Wortgruppe verwiesen. Das Beispiel liefert damit zugleich auch einen Beleg dafür, dass die Gesamtbedeutung eines Mehrwortausdrucks auch aktualisiert werden kann, wenn aufgrund von Ko‑ und Kontextwissen lediglich ein zentrales Lexem (Pudel) realisiert wird.
3.4 des Pudels Kern als referentielles Phrasem
Auch dafür, dass das Geflügelte Wort in der Verkürzung zum nominalen referentiellen Phrasem ein phraseologisches Eigenleben beginnt, lassen sich zahlreiche (Internet‑)Belege beibringen. Die gekürzte Phrasemform kann zwar aufgrund der übernommenen Wortgruppenstruktur mit dem seinem Bezugswort Kern vorangestellten Genitivattribut durchaus Assoziationen an die Originalformulierung hervorrufen, die Verwendungsweisen verdeutlichen aber, dass die Verkürzung mit wesentlichen semantischen und funktionalen Verschiebungen einhergeht:
[…] Ist ein Leinenzwang also der Weisheit letzter Schluss? Des Pudels Kern? Wollen Hunde ewig leben? Weiß der deutsche Dackel, dass er auf Englisch Sausage Dog heißt? Macht es Sinn, über die Sinnhaftigkeit einer Welt ohne Möpse nachzudenken? Oder ist am Ende alles für die Katz? Leinen los für Antworten.[24]
Namen sind nicht Schall und Rauch, und der Streit darüber, ob das Bürgergeld weiter Bürgergeld heißen soll, ist kein Streit um des Kaisers Bart. Es ist ein Streit um des Pudels Kern. Es ist ein Streit darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. […].[25]
„Thomas bleibt eine Legende. Normalerweise wird er spielen, auch von Beginn an spielen“, sagte Tuchel, den die Müller-Diskussion nervt. „Das trifft nicht immer des Pudels Kern, wenn man einzig und allein Thomas‘ Minuten unter das Brennglas legt. Das hilft weder Thomas noch uns.“[26]
Wie zu erkennen ist, kann die verkürzte Phrasemvariante funktional gesehen als Argumentationsersatz dienen (vgl. dazu Lüger 1992) (Belege 21 und 22). Charakteristisch ist darüber hinaus, dass auf die situationscharakterisierende Prädikativkonstruktion verzichtet werden kann (Belege 21 und 22) und eine flexiblere syntaktische Verwendung intendiert ist: Zu beobachten sind der Wechsel in einen anderen Satzmodus (Beleg 20), die Einbettung in andere Wortgruppen (Beleg 21) und in andere satzförmige Konstruktionen. Auch eine Abfrage der DWDS-Korpora liefert Belege für etliche entsprechende Verbindungen nicht mit dem Kopulaverb sein, sondern mit Vollverben (des Pudels Kern treffen, auf des Pudels Kern verweisen, in etw. liegt des Pudels Kern, zu des Pudels Kern vordringen/kommen, auf des Pudels Kern kommen/stoßen, des Pudels Kern ansprechen, für des Pudels Kern halten, an des Pudels Kern vorbeigehen, für des Pudels Kern halten u. a.) wie auch Belege für die Erweiterung um Adjektivattribute:
Prüfen wir aber näher, was hinter diesen vieldeutigen Worten „Wesen“ oder „Natur“ des Menschen steckt, so entpuppt sich als des naturalistischen Pudels Kern plötzlich die altbekannte – Vernunft.[27]
Die Belege eint, dass sich der Fokus auch semantisch gesehen verschiebt und sich andere Lesarten (wie ‚Kern der Sache‘) in den Vordergrund schieben.
Wie es für die meisten phraseologischen Wortverbindungen charakteristisch ist, zeigt auch das referentielle Phrasem des Pudels Kern Potenzial für Modifikationen. Sie manifestieren sich neben der Erweiterung um attributive Adjektive infolge der nominalen Struktur hauptsächlich in Substitutionen eines der beiden Substantive, bevorzugt allerdings des Substantivs Kern, vermutlich um sicherzustellen, dass mit der Komponente Pudel der stets durchschimmernde Bezug auf das Geflügelte Wort nicht ganz außer Kraft gesetzt wird:
[...] Bei Punkspielen werden die Lokalderbys gegen Salza die Höhepunkte bleiben. Und da genau liegt des Pudels Problem...[28]
Des Rudels Kern (Überschrift über einem Artikel der Süddeutschen Zeitung von 2016 zum NSU-Prozess).[29]
Dass in den dokumentierten Verwendungsweisen und ‑zusammenhängen jeglicher Bezug auf Herkunft und Quelle entfällt und dass sich keine Belege finden lassen, die eine metasprachliche Rahmung oder Kommentierung (wie man sagt, wie es bei Goethe heißt usw.) aufweisen, unterstreicht zusätzlich den Phrasemstatus von des Pudels Kern.
Die Verkürzung auf die autosemantische nominale Wortgruppe und die Übernahme der morphosyntaktischen Struktur auch bei Modifikationen mittels lexikalischer Substitution können zwar als Phänomene referenzieller Intertextualität bzw. der Einzeltextreferenz (vgl. Janich 2019: 180–182) interpretiert werden, die Anspielung auf den eigentlichen Referenztext spielt im Gebrauch aber keine Rolle mehr. Das Bestimmungsmerkmal Intertextualität ist insofern für den Gebrauch der Phrasemvariante ohne Relevanz – auch wenn Erkennen und Kenntnis der Herkunft als Bildungshintergrund und -ausweis vorhanden sind.
4 Bilanz und begriffliche Präzisierung
Der Terminus ‚Geflügeltes Wort‘ bezeichnet keine originäre phraseologische Kategorie oder Klasse, sondern charakterisiert Mehrworteinheiten als Zitate, die maßgeblich durch die Anspielung auf den für die Prägung verantwortlichen Referenztext gekennzeichnet sind. An der Kategorie ‚Geflügeltes Wort‘ im Peripheriebereich der Phraseologie festzuhalten, steht deshalb in einem nicht unerheblichen Widerspruch dazu, dass mit dieser Bezeichnung einer Mehrworteinheit nicht Phrasemcharakter und ‑status zugesprochen, sondern allein eine vorausgehende (z. B. autor‑ und werkbezogene) Prägung und entsprechende Quellenbelegbarkeit herausgestellt werden. Es handelt sich also nicht um eine Ausdruckscharakterisierung im Rahmen phraseologischer Klassifikationsbemühungen, sondern um eine sprach‑ und kulturhistorisch aufschlussreiche Zusatzinformation über den (potenziell ermittelbaren) Herkunftsnachweis, die die eigentliche Zuordnung zu einem Phrasemtyp nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen kann. Die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Status der Kategorie ‚Geflügeltes Wort‘ als Phrasemklasse ist also im Widerspruch zur gängigen Ansicht negativ zu beantworten. Sofern entsprechende Einheiten als Phraseme klassifizierbar sind, weil sie über die Art und Weise ihrer Verwendung typische Phrasemeigenschaften angenommen haben und im gegenwartssprachlichen Gebrauch aufweisen, lassen sie sich auch einer Phrasemklasse zuordnen, wenn die ursprünglich relevante referenzielle Intertextualität bedeutungslos geworden ist. Mit anderen Worten: Am Konzept ‚Geflügeltes Wort‘ kann für belegte und belegbare Zitate aus sehr unterschiedlichen Herkunftsbereichen festgehalten werden, zur Phraseologie sollten sie aber nicht gezählt werden. Besonders eingängige Zitate können jedoch – wie Mieder (2011 und 2016) es ausgedrückt hat – „entflügelt“ werden, Phrasemcharakter annehmen und dann einer Phrasemklasse zugeordnet werden.
Wie der Umgang mit dem berühmten Faust-Zitat „Das also war des Pudels Kern!“ und die heterogenen Wissensbestände über seine Prägung, Bedeutung und Funktion gezeigt haben, kann es als Geflügeltes Wort verstanden und als Zitat auch in anderen Umgebungen verwendet werden; charakteristisch ist dafür, dass die Quelle nach wie vor bekannt ist oder zumindest die Existenz einer Quelle im Akt der Verwendung angenommen wird und der Bezug bzw. die Beziehbarkeit auf die Quelle im Gebrauch als Hintergrund mehr oder weniger stark präsent ist. Das trifft auch auf Modifikationen des satzförmigen Originalwortlauts zu. Das Beispiel verdeutlicht außerdem, wie ein (satzförmiges) Geflügeltes Wort (als nominales referentielles Phrasem) in den Bestand der Phraseme übergehen kann – im herangezogenen Beispiel durch Ausdrucksverkürzung und Verzicht auf die satzförmige Struktur sowie durch flexible syntaktische Nutzung der zentralen Nominalwortgruppe einschließlich vielseitiger lexikalischer Kombinier- und Modifizierbarkeit und mit semantisch-funktionaler Verschiebung. Die Existenz und Belegbarkeit der ursprünglichen Quelle ist dabei ohne jegliche Relevanz.
Abschließend nochmals pointiert zusammengefasst, heißt das: Wer ein Geflügeltes Wort verwendet, zitiert eine Formulierung aus einer (bekannten) älteren Quelle; im Unterschied zum herkömmlichen Zitieren (nicht-geflügelter Worte) steht der intertextuelle Verweis auf die ursprüngliche Prägung, deren Urheber und deren Verwendungssituation im Vordergrund, weil man sich für eine als bekannt angenommene, bewährte und besonders treffende Formulierung entschieden hat. Wer dagegen ein aus einem Geflügelten Wort hervorgegangenes Phrasem gebraucht, greift auf eine von diesem Hintergrund losgelöste Art von Formulierungsressource zurück (vgl. dazu Stein 2011).
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