Der Neoliberalismus – Entstehung, Kampfbegriff und Meinungsstreit / Neo-liberalism – origin, item of campaign and matter of controversy
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Hans Willgerodt
Zusammenfassung
Der Autor beginnt mit einem historischen Überblick über die Entwicklung liberaler Politik seit dem 19. Jahrhundert, ihre zunächst noch langsame Verdrängung durch paternalistische und sozialistische Strömungen im Anfang des 20. Jahrhunderts und die kollektivistische Wirkung der beiden Weltkriege, deren sozialistische Tendenzen sich erst in allen ihren Nachteilen auswirken mußten, bevor eine Rückbesinnung auf liberale Alternativen möglich wurde. Eine Rückkehr zum Laisser-faire und seinen angeblich liberalen Degenerationen war nicht möglich, so daß nur ein reformierter und damit weiter entwickelter Liberalismus praktisch in Betracht kam. Man hat ihn Neoliberalismus genannt.
Diese Bezeichnung wurde und wird vor allem von sozialistischen und autoritären Gegnern als Kampfbegriff verwendet und zu diesem Zweck sprachpolitisch verfälscht. Der Autor setzt sich im Einzelnen mit den dabei angewandten Taktiken auseinander.
Anschließend befaßt er sich mit Grundsatzproblemen der Vorwürfe, die dem Neoliberalismus gemacht werden. Eine angebliche Verabsolutierung der Freiheit wird als unzutreffend zurückgewiesen. Es wird gezeigt, daß Wertentscheidungen innerhalb des neoliberalen Konzeptes unvermeidlich sind. Das Problem der vermeintlich liberalen Standpunktlosigkeit und des Relativismus wird näher betrachtet. Die außerökonomischen Bedingungen einer liberalen Wirtschaft werden einbezogen.
Schließlich wird die neuere Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik in einigen Punkten genauer geprüft. Zunächst wird der Neoliberale Alexander Rüstow mit seiner religionsgeschichtlichen Kritik am älteren Wirtschaftsliberalismus betrachtet, doch wird die Übertragung dieser Kritik auf den Neoliberalismus im deutschen Verständnis zurückgewiesen. Ebenso wird die These abgelehnt, der Neoliberalismus sei von der neoklassischen Wirtschaftstheorie abhängig und die heutige deutsche und internationale Wirtschaftspolitik sei allgemein von neoliberalen Vorstellungen beherrscht. Der Autor setzt sich mit der dem Neoliberalismus vorgeworfenen Konzeption des stabilen Geldes, begrenzten Staatsdefizits, lohnpolitischer Einordnung in das Ziel hoher Beschäftigung, sozialpolitischer Zurückhaltung gegen wohlfahrtsstaatliche Übersteigerungen, Freiheit des internationalen Güterverkehrs, insbesondere der beschäftigungspolitischen Funktion von Exporten auseinander. Die praktischen Vorschläge der Gegner des Neoliberalismus, insbesondere zur Lohnsteigerung, zu höheren Steuern auf Unternehmungen und höhere Einkommen sowie für höhere Staatsverschuldung werden kritisch geprüft.
Abschließend wird eine andere Einstellung der Neoliberalen zum Staat und seiner Verwaltung gefordert, um den sie sich kümmern müssen, wenn sie politische Erfolge haben wollen. Da die Neoliberalen den Staat als ordnende Kraft brauchen, müssen sie versuchen, auf ihn einzuwirken, anstatt ihn schlechthin abzulehnen.
Summary
The influence of liberal ideas and practice during the 19th century was significant also in Germany, but lost its power gradually due to protectionist tendencies at the end of that century. More or less monopolistic and private economic groups were admitted in the name of “laisser-faire”, and the state became ready to intervene into the market process in favour of special interests. At the same time a rather modest paternalistic system of welfare protection for the working class was introduced, which later on demonstrated a built-in tendency to expand. But the collectivist and socialist movement of the 20th century became dominant by the two World Wars and their consequences. This led to political and economic catastrophes of incredible dimensions. Therefore a return to liberal ideas was given a second chance. But a simple return to laisser-faire and mistakes of the historical liberalism were not intended. Therefore the new ideas were called “neoliberalism”.
This is used by collectivists of all kinds as a catchword for everything they do not like. They define the new concept irrespective of the reforms included in the new liberal ideas. The author describes also the tactics used in this process.
He then analyses some principal points used against neoliberalism and demonstrates the extent to which decisions are based on value judgements unavoidable in this liberal concept. In no event does this imply to have no convictions at all. In addition there are general requirements beyond supply and demand necessary for a liberal and humane economy.
Then objections against neoliberal economic policy are discussed starting with some points put forward by Alexander Rüstow, a neoliberal himself, against the old liberalism and not relevant to neoliberalism when defined correctly as a reformed liberal concept. The author further shows that the economic policy of neoliberalism does not necessarily depend on the so-called neoclassical economic theory nor is the modern German and international economic policy generally dominated by neoliberal convictions. The modern critique against neoliberalism is - among other points - directed against stable money, limited budget deficits, wages limited by the requirement of full employment, and freedom of international exchange presented as dangerous “globalization”. The polemics against “globalization” could not be treated here in all of its details. Neoliberalism is also criticized because it only wants to admit social welfare when it is correctly financed and does not destroy self-responsibility.
Public finance as well as structure and financing of social security and the conditions of the labour market are dominated by socialist policies, not only in Germany. It is absurd to make neoliberalism responsible for the deplorable result.
It is shown that the adversaries of neoliberalism make practical proposals along keynesian lines without making sure that the conditions necessary for a success of these proposals are fulfilled.
The author finally emphasizes that the hostile attitude of liberals and many neoliberals against the state and the public service as such must be changed if neoliberals really want to have some success.
© 2006 by Lucius & Lucius, Stuttgart
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