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Ritus und Wahrheit: Eine kommunikationstheoretische Perspektive

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Veröffentlicht/Copyright: 14. März 2016
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Zusammenfassung

Nach Habermas bearbeitet der Ritus die im Medium der Sprache begründete Spannung zwischen Individuierung und Vergesellschaftung. Die für das Gelingen dieser Prozesse nötigen Perspektivenwechsel und Perspektivenübernahmen sind äußerst kontingenzbehaftet. Durch Ausdifferenzierung, Pluralisierung und Globalisierung nimmt die Komplexität dieser Prozesse zu. Der Blick auf die Geschichte und die gegenwärtige Situation zeigt, dass Religion und Theologie einerseits von gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen immer wieder überfordert sind und andererseits in diesen Herausforderungen lernen. Die Orientierung an der solidaritätsstiftenden Funktion des Ritus erweist sich als hilfreich für ein differenziertes Verständnis für Veränderungsprozesse im Feld der Religion. Habermas’ Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus unterstützt damit auch eine an der theologischen Wahrheit orientierte Suche nach einer ihr im sozialen Kontext entsprechenden Gestalt des Ritus. Der Ritus erfüllt seine der Wahrheit entsprechende Funktion dann, wenn er sensibel ist für verletzte Solidarität und Exklusion im sozialen Raum insbesondere auch im Blick auf sein eigenes Verhältnis zu anderen Religionen und zu Ungläubigen.

Summary

According to Habermas, ritual deals with the tension between individuation and socialization which is grounded in the medium of language. The changing of perspectives and the acquisition of perspectives, which are themselves necessary for the success of these processes, are deeply contingent phenomenon. The complexity of these processes increases through differentiation, pluralization and globalization. A look at history and the current situation shows that religion and theology are, on the one hand, often overwhelmed by social processes of differentiation. On the other hand, however, they always learn from these challenges. Orientation towards the solidarity-establishing function of ritual proves to be useful for a differentiated understanding of the processes of change in the field of religion. Habermas hypothesis for a genre-historical meaning of ritual supports a search (which is itself oriented towards theological truth) for a form of ritual in its respective social context. Ritual fulfills its truth-corresponding function if it is sensitive to injured solidarity and exclusion in social space, especially with view to its own relationship to other religions and to non-believers.

I Einleitung

Es gibt zur Zeit eine lebendige Debatte, ob „Säkularisierung“ als Prozess des Rückgangs religiöser Riten, Praktiken und Überzeugungen und des Bedeutungsverlustes religiöser Institutionen mit Fortschritt, Individualisierung und Pluralisierung notwendig verbunden ist.1[1] Diese Debatte ist empirisch orientiert, wobei insbesondere die an der Funktion der Kontingenzbewältigung orientierten religionssoziologischen Ansätze von Max Weber und Niklas Luhmann den Hintergrund bilden.

Nach Luhmann ermöglicht Religion den Umgang mit unbestimmter Komplexität. Werden Gesellschaften komplexer, ist es in diesem Ausdifferenzierungsprozess auch eine Funktion der Religion um den Preis ihres Bedeutungsverlustes dazu beizutragen, unbestimmte in bestimmte Komplexität zu transformieren.2[2]

Hier soll versucht werden zu zeigen, dass mit Jürgen Habermas’ Beschreibung der Funktion des Ritus3[3] die gegenwärtige religiöse Situation und die dahinterstehenden Entwicklungen differenzierter verstanden werden kann.

Bei Luhmann ist Sprache ein Instrument zur Reduktion von Komplexität und Religion verhindert durch Tabuisierung „den möglichen Fehlgebrauch der Symbole“.4[4] Dies verliert an Bedeutung, je ausdifferenzierter eine sachorientierte Kommunikation möglich wird.5[5]

Nach Habermas bearbeitet der Ritus die im Medium der Sprache begründete Spannung zwischen Individuierung und Vergesellschaftung. Da der „intersubjektive Kern des Ich“6[6] unabhängig vom Grad gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auf Perspektivenübernahme angewiesen bleibt,7[7] behält auch der Ritus in diesem Prozess seine Funktion.

In sachlicher Anlehnung an Hegels Theorie zum Kampf um Anerkennung,8[8] die Formulierungen und Einsichten aus Luthers Abendmahlstheorie säkularisiert,9[9] beschreibt Habermas in seiner Ritualtheorie, wie der Kult auch unter gegenwärtigen Bedingungen eine konstruktive Bedeutung behält.10[10]

Der Ansatz von Habermas soll auch dazu genutzt werden nach der der Wahrheit entsprechenden Funktion des Ritus zu fragen. Insbesondere die reformatorische Theologie reflektiert den Gottesdienst schon immer funktional unter der Fragestellung, wie in ihm die Wahrheit des Evangeliums zur Wirkung gelangen kann. Um die geschichtlich gegebene Wahrheit der Theologie praktisch werden zu lassen und sie im geschichtlichen Zusammenhang zu verantworten, ist die Theologie auf nichttheologische Wissenschaft bezogen und angewiesen.11[11]

II Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus

Habermas bezieht sich auf einen „inklusiven Begriff“ von Religion, der sich im Anschluss an Martin Riesebrodt12[12] „auf alle möglichen Glaubensvorstellungen und Praktiken erstreckt, soweit sich darin ein außeralltäglicher Umgang mit Mächten des Heils und des Unheils manifestiert“13[13] und schließt sich an Emile Durkheim an, der „den Ritus als eine selbstbezügliche Praxis, die den Zusammenhalt sozialer Gruppen stabilisiert“, versteht.14[14] „Zum einen sollen sich im Ritus die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen spiegeln, zum andern sollen sich die Angehörigen eines Kollektivs im Vollzug der rituellen Selbstdarstellung der Gesellschaft ihrer Identität vergewissern und dadurch den Formen des sozialen Zusammenlebens normative Kraft verleihen.“15[15]

Habermas ergänzt diese Beschreibung der Funktion des Ritus mit Arnold van Genneps Untersuchung von Übergangsriten.16[16] Die Initiation, die für den Betroffenen einen tiefgreifenden Identitätswechsel bedeutet, wird nach von Gennep „als Tod und soziale Wiedergeburt inszeniert.“17[17] Insbesondere interessiert sich Habermas in Entsprechung zum Kampf um Anerkennung für die mit der Initiation verbundene „Phase der Absonderung, des Ausgesetztseins im sozialen Niemandsland.“ Dies „wiederholt die extreme Erfahrung der Bodenlosigkeit einer Existenz, die sich – zurückgeworfen auf den hilflos-isolierten Selbsterhaltungsmodus eines abgesonderten, auf sich allein zurückgeworfenen Organismus – ihrer totalen Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Existenzform bewusst wird.“18[18] Habermas geht für seine Hypothese „von einer Generalisierung dieser Erfahrung aus.“19[19] Nach Habermas reagiert „der Ritus auf die Störanfälligkeit der evolutionär neuen Form einer kommunikativen Vergesellschaftung.“20[20] Diese „Umstellung der Kooperation bedeutet eine Umwälzung der Beziehung des Einzelnen zu seiner sozialen Umgebung; dabei gerät das egozentrische Bewusstsein in den Sog einer kommunikativen Vergesellschaftung von Individuen, die sich ihrer eigenen Intentionalität bewusst werden. Diese Umwälzung übt auf das individuelle Bewusstsein jenen Zangendruck simultaner Vergesellschaftung und Individualisierung aus, der für symbolisch strukturierte Lebensformen charakteristisch ist. Während die Bürde der Handlungskoordinierung zunehmend auf das kommunikative Handeln und damit auf die Schultern der Individuen selbst fällt, kommt diesen zu Bewusstsein, dass die Reproduktion ihres eigenen Lebens wesentlich von der kollektiven Selbstbehauptung und dem Funktionieren der gesellschaftlichen Kooperation abhängig ist. Das subjektive Bewusstsein wird sich dieser Abhängigkeit vom objektiven Geist aber auch als individuelles Bewusstsein gewahr. So muss ihm der komplexe gesellschaftliche Organismus zugleich als eine überwältigend konsumierende und als eine rettende, Überleben und Sicherheit garantierende Gewalt begegnet sein.“21[21] Und weiter: „Die Spannung zwischen den komplementären, also nur gleichzeitig zu erfüllenden Imperativen der Selbsterhaltung der Individuen und der Sicherung ihrer gesellschaftlichen Kooperation, das heißt zwischen individueller Selbsterhaltung und Solidarität, wird durch die evolutionär neue Normativität gesellschaftlich institutionalisierter Verhaltenserwartungen aufgefangen (…). Angesichts des prekären und immer wieder erneut stabilisierungsbedürftigen Gleichgewichts lässt sich der Ritus als diejenige gesellschaftliche Praxis verstehen, die den ursprünglichen Prozess der Erzeugung von Normativität erneuert. Jede Destabilisierung einer ohnehin anfälligen Balance ruft eine Praxis auf den Plan, in der sich die individuellen Mitglieder ihrer Abhängigkeit vom mächtigen Kollektiv vergewissern.“22[22]

Diese Formulierung setzt den Akzent ähnlich wie Durkheim, der betont, Religion verpflichte den Einzelnen im Interesse der Gemeinschaft.23[23]

In der von Habermas skizzierten Situation muss jedoch nicht nur die Verpflichtung des Einzelnen gegen das Kollektiv sondern auch Sensibilität für die Pflicht des Kollektivs gegen den Einzelnen gepflegt werden. Im Weiteren wird deutlich, dass Habermas auf die Wechselseitigkeit der Verpflichtung abhebt.

„Die Vergesellschaftung der Intelligenz führt zur Einsetzung der neuen Autorität des übersubjektiven Sprachlogos; gleichzeitig vollzieht sich die dialektische Vergesellschaftung der Individuen in der Art einer schöpferischen Zerstörung, die alte Identitäten zum Untergang verurteilt. Der Individualisierungseffekt des sprachlichen Vergesellschaftungsmodus macht die prekäre Ausbalancierung zwischen Individuum und Gemeinschaft zum latenten Dauerproblem.“24[24] Im Blick auf die Gegenwart verwundert es Jürgen Habermas daher nicht, dass, „der sakrale Komplex (…) sich nicht aufgelöst [hat und] religiöse Überlieferungen (…) in der Symbiose mit dem Kultus ihren Gemeinden ihre Vitalität bewahrt [haben]. Die Mitglieder religiöser Gemeinschaften können sogar das Privileg für sich beanspruchen, im Vollzug ihrer kultischen Praktiken den Zugang zu einer archaischen Erfahrung – einer Quelle der Solidarität – behalten zu haben, die sich den ungläubigen Söhnen und Töchtern der Moderne verschlossen hat.“25[25]

Habermas gibt hier allerdings keine Antwort darauf, warum den einen diese Quelle der Solidarität verschlossen ist und den anderen nicht. Nahe liegend ist jedoch die Antwort, dass diese Quelle insbesondere dann versiegt, wenn die kultische Praxis nicht als Quelle von Solidarität erfahren wird und der Kult für das Individuum und die Gemeinschaft die oben beschriebene ausbalancierende Funktion nicht erfüllt.

Es geht, folgt man obiger Hypothese, in den Konflikten und Prozessen im religiösen Raum darum, wie Solidarität kommuniziert und eingefordert wird, wem unter welchen Bedingungen die Anerkennung und Solidarität Gottes gilt, ob es möglich ist diese im Ritus wirksam zu kommunizieren und welche Konsequenzen dies im politischen und rechtlichen Raum hat. In Anlehnung an Pierre Bourdieu „Genese und Struktur des Religiösen Feldes“ können diese Prozesse als „Konkurrenz um die religiöse Macht“26[26] beschrieben werden. Wobei die Einseitigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Religion in der Diskussion häufig auf die Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse reduziert wird, wohl in der spezifisch europäischen Erfahrung mit Religion und kirchlichen Monopolen in den letzten Jahrhunderten begründet liegt. Hier soll versucht werden, im Blick auf das westliche Christentum und seinen Hintergrund markante Veränderungen im Feld der Religion im Kontext der obigen Hypothese nachzuvollziehen.

III Exodus – Folgenreicher Streit um Anerkennung und Solidarität im Feld der Religion

In der Exodus-Erzählung wird besonders deutlich, dass Ritus und Religion als Quellen von Solidarität umkämpft sind. Zugleich ist diese „Revolution der Alten Welt“27[27] bis heute wirksam.

Mit der Entstehung von Staaten verschärft sich die von Habermas beschriebene Spannung zwischen individuellem Selbsterhaltungstrieb und dem umfassenden Anspruch des Staates, der zugleich Lebensmöglichkeiten und Sicherheit bietet. Die Beziehungen werden gegenüber einer Stammeskultur anonymer und die Vorteile und Kosten sind nun je nach sozialer Stellung ungleich verteilt. Breite Akzeptanz konnte dieser Prozess der Staatenbildung offensichtlich nur gewinnen, indem die Macht des Herrschers in exklusiver Weise religiös legitimiert wurde. „In Bezug auf die Gottheit war der König in der Rolle des Sohnes (Ägypten) oder Gatten (Mesopotamien) Objekt der Erwählung und des Bundes“.28[28] „Das Recht als eine Sphäre von Ordnung und Gesittung und die Idee der Gerechtigkeit galten insgesamt als göttliche Institutionen“, wobei die Könige in der Rechtsetzung souverän waren.29[29] In dieser Situation wird nun offensichtlich die solidaritätstiftende Funktion des Kultes so einseitig, dass sich dagegen Protest erhebt. Jan Assmann beschreibt wie in der Exodus Tradition die exklusive Beziehung Gottes zum Herrscher auf das Volk übertragen wird. Der Gott der Väter, also der alte Gott der Sippe oder des Stammes, der sich Mose als JHWH vorstellt, solidarisiert sich mit einem Volk von Sklaven.30[30] Er schließt einen Bund mit dem Volk. Das Volk tritt „an die Stelle des Königs.“31[31] Und Gott wird nun anstelle des Königs zum Gesetzgeber. Dies hat weitreichende Folgen im Bereich des Rechtes. Der Schutz von sozial Schwachen wird verpflichtend und Sklaven und Fremde erhalten Rechte.32[32] Gott benennt explizit die Kosten des Königtums und das Volk entscheidet souverän ob es diese Kosten tragen will.33[33] Das Recht der Könige muss sich nun messen lassen am Recht Gottes und damit ist ein Dauerkonflikt begründet, der zum Beispiel in der harten prophetischen Sozialkritik greifbar wird. Das Recht und der König können nun im Namen Gottes im Interesse der sozial Schwachen kritisiert werden.

Die Exodus-Erzählung spiegelt so den Kampf um die Solidarität Gottes und zeigt, welche machtpolitischen, rechtlichen und sozialen Konsequenzen mit dieser nun durch den Kult auf neue Weise stabilisierten zwischenmenschlichen Solidarität verbunden sein sollen. Zugleich zeigt sich im Weiteren wie schwierig es war, den damit verbundenen rechtlichen und sozialen Anspruch durchzusetzen. Es ist jedoch sicherlich kein Zufall, dass genau diese im Kontext der altorientalischen Religionen schwache religiöse Bewegung als einzige in der christlich-jüdischen Tradition ihre Vitalität bis in die Gegenwart bewahrt hat.34[34]

In der Überlieferung vom Wirken Jesu wird diese Tradition neu akzentuiert. Jesus bringt, wie die Evangelien übereinstimmend berichten, durch sein Handeln wirksam die Zuwendungen und Solidarität Gottes mit denen zum Ausdruck, denen aufgrund von Krankheit, Nationalität, Religion, sozialem Status, Geschlecht oder abweichendem Verhalten im sozialen Miteinander und im Bereich der Religion Anerkennung verweigert wurde. Das Kreuz erinnert an die Verletzung des Individuums durch staatliche und religiöse Macht. In der frühen Kirche führt dies zu einer über das Abendmahl an das Passah und damit an die Exodus-Tradition anschließende kultische Praxis, in der soziale, nationale oder geschlechtsspezifische Unterschiede aufgehoben sind.

Was Paulus zur Taufe sagt, entspricht sehr genau der oben beschriebenen Struktur der Initiation: „So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ (Röm. 6, 4) Durch das Abendmahl wird diese Erfahrung präsent gehalten und erneuert. In diesem Kult und im „neuen Leben“, in der daraus resultierenden solidarischen Gemeindepraxis, erlebten insbesondere Menschen der unteren Schichten und Frauen Anerkennung und Würdigung ihrer Person, die sie sonst nicht erfahren konnten.35[35] So entsteht eine kultische Sondergemeinschaft, die damit auf die Einseitigkeit des herrschenden Kaiserkultes reagiert.

Es ist naheliegend zu vermuten, dass der Ritus, wenn er in den staatlichen Kontext eingebunden ist, immer dazu tendiert einseitig auf die Stabilisierung der Macht und der bestehenden Verhältnisse reduziert zu werden. Dadurch kann jedoch der Ritus die bei Habermas beschriebene ausgleichende und stabilisierende, Solidarität stiftende Funktion auf Dauer nicht erfüllen und er verliert an Akzeptanz. In Rom wurde das Christentum wohl deshalb zu einer Alternative zum Kaiserkult, insbesondere im krisenhaften 3. Jahrhundert. Die Alternative wurde so scharf akzentuiert, dass von den Gemeinden versucht wurde alle Berufe auszuschließen, die mit der Ausübung staatlicher Gewalt zu tun hatten.36[36] Als das Christentum Staatsreligion wird erbt es die beschriebene Problematik der Verbindung von Macht und Religion und verschärft aufgrund des exklusiveren Wahrheitsanspruchs das Problem der Intoleranz, andererseits wurden in der Folge auch vielfältige konstruktive Lösungen für das Miteinander verschiedener Religionen gefunden.37[37] Zudem blieb im Christentum mit der Exodus Tradition der Anspruch der Schwachen auf Solidarität zumindest als Impuls für Sozialkritik und Diakonisches Handeln insbesondere im Mönchtum wirksam. Und in den Riten der Taufe, der Messe und auch bei der Bestattung wurde das Bewusstsein für die Würde jeder einzelnen Person unabhängig vom sozialen Status vor Gott gepflegt und wach gehalten.38[38] Über eine recht lange Zeit im Mittelalter hat die christliche Religion und Kirche mit ihren Riten in dieser zugleich sehr spannungsreichen Situation ihre Funktion relativ stabil erfüllt. Für das Verständnis, warum in der modernen Situation nicht Wenigen der Ritus als Quelle der Solidarität verschlossen ist, sind wohl Entwicklungen im Spätmittelalter und die darauf reagierenden theologischen und kirchlichen Neuansätze von besonderer Bedeutung.

IV Das Spätmittelalter und die darauf folgenden Neuansätze

IV.1 Die spätfranziskanische Gnadenlehre und die Konsequenzen für den Ritus

Das ausgehende Mittelalter war von vielfältigen Verunsicherungen geprägt. Die Spätscholastik und der mit ihr verbundene Nominalismus mit der Auflösung der thomistischen Synthese von aristotelischer Philosophie und Theologie, die mit der Unterscheidung Occams zwischen der „potentia dei absoluta“ und der „potentia dei ordinata“ stärker ins Bewusstsein rückende Möglichkeit göttlicher Willkür und der im Kontext des Armutsstreites von Occam entwickelte Rechtspositivismus39[39] hat sicherlich mit zu dieser Verunsicherung beigetragen. Daneben waren die Menschen jedoch auch verschiedentlich anderen beunruhigenden Erfahrungen und gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt.40[40]

In dieser Situation wurde nun zudem der Ritus selbst zu einer Quelle der Verunsicherung. Im ausgehenden Mittelalter prägte die spätfranziskanische Gnadenlehre der sogenannten „moderni“, in Verbindung mit den vielfachen bildlichen Darstellung der Höllenstrafen und das auch durch den Ablasshandel bedingte Interesse an der Furcht, die religiöse Praxis. Die Franziskaner nehmen mit der Betonung des Armutsideals den auf die Exodus-Erzählung zurückgehenden spezifischen biblischen ethischen Anspruch auf. Die Verpflichtung gegenüber den göttlichen Geboten transzendiert für die franziskanischen Theologen die bestehende gesellschaftliche Ordnung.41[41] Vor Gott im Gericht akzeptabel macht nun nicht mehr die durch die Sakramente vermittelte verwandelnde und Vergebung wirkende Gnade im Kontext des wesensphilosophischen Denkens wie bei Thomas von Aquin.42[42] Für die Moderni disponiert sich der Mensch für die Gnade durch das „facere quod in se est“. Diese Werke werden von Gott in freier Gnade akzeptiert.43[43] Der hohe Anspruch und die Überzeugung, der Mensch könne, wenn er nur wolle, Gott und seinen Nächsten über alle Dinge lieben, wirkt44[44] vor dem Hintergrund der sehr präsenten Gerichtsvorstellung in naheliegender Weise bedrohlich.

Die „Gnade Gottes“, die de potentia dei ordinata in Spiel gebracht wird, hat sowohl für den Tugenderwerb, wie für das Gericht eine eher willkürliche Bedeutung. Auch die Funktion des Kultes erschließt sich im Kontext der aristotelischen Habituslehre nicht.45[45]

Im Prozess des Ritus, der sehr wohl für seine Funktion ein kritisches Moment des „Gerichtes“, des „Ausgesetztseins“ oder des „Verzehrtwerdens“ enthalten muss, entsteht so keine Gewissheit der Zugehörigkeit. Diese Verunsicherung im Blick auf die umfassende Solidarität Gottes schwächt den Ritus.

Bei Luther findet sich diese Verunsicherung, verbunden mit der Kritik der entsprechenden Gnaden- und Tugendlehre, vielfach beschrieben und er trifft, wie die Wirkung seiner Schriften zeigt, ein verbreitetes Empfinden. Die Dysfunktionalität des Ritus wird so zum Anlass der im Spätmittelalter einsetzenden Pluralisierung und Konfessionalisierung im Feld der Religion.

IV.2 Luthers Einsicht in die Funktion des Ritus

Luther kommt aus der Tradition Occams. Dies zeigt sich am Rechtspositivismus Luthers, an seiner Kritik der Wesensmetaphysik und im Bereich der Logik. Luther weist selber verschiedentlich auf seine Herkunft aus der Schule Occams hin.46[46] Aufgrund seiner eigenen Erfahrung mit dem Sakramentsgebrauch47[47] und seinen Erfahrungen als Seelsorger wird er jedoch zum scharfen Kritiker der spätfranziskanischen Gnadenlehre und der in diesen Kontext eingeflochtenen Habitustheorie. Seine theologische Arbeit auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen erschließt ihm die Funktion des Ritus in ziemlich genauer Entsprechung zu der bei Habermas entwickelten Hypothese.

So finden sich in Luthers Beschreibung des Abendmahls (Predigt an Gründonnerstag 1523) die Erfahrung göttlicher Solidarität mit dem einzelnen in einer umfassenden Würdigung durch Christus, die Erfahrung des „Konsumiertwerdens“ und der Abhängigkeit von der Gemeinschaft so wie die Verpflichtung zu universaler zwischenmenschlicher Solidarität. „Irr habent zwo frucht von dem heiligen Sakrament: eine ist, das es uns machet zu bruder und miterben des herren Christi, also das uß yhm und uns werde ein kuchen, Die ander, das wir auch gemeyn und eyns werden mit allen andern leuten uff erden und auch alle eyn kuche. (…) Wenn ich glaube, das sein leyb und blut mein ist, so hab ich den herren Christum gantz und alles, was er vermag, das mein hertz frolich unnd trotzig wirt (…). Widerumb wen ich das sacrament neme, so nympt mich Christus unnd verzert mich auch und frißt mich und meine sünd und ich geniesse seyner gerechtigkeit (…). Also geet es under uns auch, das wir all ein kuchen werden und eyn ander essen (…) wenn ich mich gemeyn mache unnd diene dir, das du meyn geneussest, wozu du meyn bedarffst, so byn ich dein speyß (…)“48[48]

Nach Luther ist der in der Geschichte und Person Jesu Christi gegründete Gottesdienst und sind die Sakramente notwendig aufgrund mangelnder menschlicher Solidarität im Umgang mit den Gütern der Schöpfung und den entsprechenden affektiven Fehlhaltungen wie Stolz oder Verzweiflung.49[49]

Im Blick auf die bei Habermas beschriebene Funktion des Ritus als einer „Praxis (…), die den ursprünglichen Prozess der Erzeugung von Normativität erneuert (…), [und] in der sich die individuellen Mitglieder ihrer Abhängigkeit vom mächtigen Kollektiv vergewissern“50[50] setzt Luther den Akzent auf die autonome und zugleich in der Gemeinschaft zu rechtfertigende Erzeugung von Normativität durch Perspektivenwechsel und daraus erwachsende Einsicht. Die Verpflichtung im Kult bezieht sich auf das positive Recht und Ethos und relativiert dieses zugleich. Luther erwartet von der Begegnung mit dem Evangelium, wenn es z. B. im Kult im sozialen Raum Gestalt gewinnt, dass es dazu befähigt persönlich dem Nächsten zu dienen und im kirchlichen und im politischen Bereich „bessere Dekaloge zu setzen als Moses.“51[51] Wie Luther sich das vorstellt, zeigen seine vielfältigen Reformvorschläge im Bereich der Bildung, des Sozialwesens und des Rechtes. Beachtenswert ist zum Beispiel die Forderung nach dem Recht in Glaubensdingen irren zu dürfen.52[52]

Im Blick auf die hierbei nötige Freiheit und Autonomie greift nach Luther die aristotelische Habituslehre zu kurz, da sie ein entscheidendes Phänomen nicht in den Blick nimmt.53[53] Die Erfahrung wie ihn selbst die Furcht vor Gottes Strafe unfrei machte und wie ihn die Begegnung mit der bedingungslosen Gnade in Jesus Christus befreit, führt Luther zur Einsicht, dass die Perspektive, in der sich eine Person wahrgenommen fühlt, äußerst wirksam ist. Er beschreibt dieses Phänomen in religiösen aber auch in sozialen Zusammenhängen z. B. im Bereich der Pädagogik54[54] oder der Familie.55[55] Im Hintergrund steht seine Auseinandersetzung mit der Schrift, insbesondere der Theologie des Paulus aber auch der monastischen Theologie des Bernhard von Clairvaux.56[56] Da er Perspektiven in ihrer Wirksamkeit durchschaut, stehen für ihn die in Jesus Christus eröffneten Perspektivenwechsel und Perspektivenübernahme im Gottesdienst im Zentrum. Besonders wesentlich ist es ihm, die Perspektive des Verachteten und Ausgeschlossenen einnehmen zu können.57[57] Nicht um durch diese Erfahrung den Anpassungsdruck zu erhöhen, sondern um aus Einsicht dem Ausschluss und der Verachtung zu begegnen. Lernprozesse sollen im Kult nicht durch Konditionierung, sondern durch Perspektivenwechsel ermöglicht werden. Der Gottesdienst und die Sakramente sollen daher nach Luther als Kommunikationsgeschehen Gewissheit im Blick auf Gottes Solidarität stiften und so Verpflichtung und Solidarität unter den Menschen aus Freiheit ermöglichen. Der Gottesdienst ist in seiner Wirkung dabei äußerst kontextabhängig. Hieraus folgt bei Luther früh die Einsicht in die Notwendigkeit mit faktischer Pluralität konstruktiv umzugehen, dies verlangt insbesondere die Förderung von Respekt und Anerkennung im gesellschaftlichen Miteinander58[58] und den Verzicht auf Zwang.59[59] Luther betont in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1522 / 23) „das Christus on Zwang und Drang, on gesetz und schwerd eyn frey willig volk haben sollt.“60[60] Kommt Zwang und Druck in Glaubensdingen ins Spiel, „das sie soll glewben, (…) so ist gewißlich da nicht Gottis wortt.“61[61] Daher wäre es „viel leychter, ob gleych yhr untherthan yrreten, das sie sie schlecht yrren liessen, denn das sie sie zur lügen und anders zu sagen dringen (…) Auch nicht recht ist, das man böses mit ergerm weren will.“62[62] Soll die Gewissheitsproblematik in der beschriebenen Weise durch Kommunikation gelöst werden,63[63] so erkennt Luther völlig richtig, dass dieses „Wort“ nur in Freiheit und in der Konsequenz nur im Kontext eines „Pluralismus aus Prinzip“64[64] zur Geltung kommen kann.

Luther beschreibt den Kult funktional in Entsprechung zur Wahrheit des Evangeliums und versucht durch ihn Autonomie und Solidarität in universaler Weite zu fördern und so auch die Erneuerung und Verbesserung von Normativität als beständigen Prozess im Gang zu halten. Die Umsetzung dieser Einsichten ist Luther jedoch nur sehr eingeschränkt gelungen.

IV.3 Konfessionalisierung und ihre Folgen für die Funktion des Ritus

Freiheit in Glaubensdingen und Pluralität innerhalb der Territorien gibt es nach der rechtlichen Konsolidierung der Reformation mit dem Territorialprinzip im Kontext des Reichsrechtes nicht. Luther behauptet auch später am Verzicht auf Zwang in Glaubensdingen festzuhalten, die er nun allerdings gegen seine frühere Einsicht auf eine innere Glaubensfreiheit einschränkt. Luther geht in seinen Forderungen auch über das auf Grund des Rechts im Interesse von einheitlicher Glaubenspraxis, Frieden und Ordnung im damaligen Kontext notwendige erscheinende Maß an Zwang hinaus. Vor allem wohl, weil er im Alter enttäuscht über die Wirkung seiner Einsichten, den Staat immer stärker in die Pflicht nimmt, um z. B. gegen Gotteslästerung in einem sehr weitgefassten Sinn vorzugehen, da er den Einfluss von Irrlehren zu fürchten beginnt und die „Schwachen“ vor diesen Einflüssen schützen möchte. Betroffen sind hier insbesondere die Juden.65[65]

Die eigene Konfession ob lutherisch, reformiert oder katholisch muss in der Folge nicht als Zwang empfunden werden, aber die Selbstverständlichkeit des einen Kultes ist nicht mehr gegeben, die faktische Pluralisierung und die Förderung von Bildung und Autonomie in Spannung zur Konfessionalisierung begünstigt die Erfahrung von Willkür, Zwang oder Gängelung. In dieser Situation sind die Konfessionskirchen auch besonders abhängig vom Wohlwollen der Fürsten und bleiben in der Folge eng mit der politischen Macht verbunden und entfalten wenig unabhängiges, kritisches Potenzial. Dies prägt Religion und Ritus nachhaltig. In den Fokus rücken rechtliche und kontrovers-theologischen Fragen und Polemik. Welche kirchlichen Strukturen und soziale und politische Zusammenhänge tatsächlich das Evangelium verstellen, kommt dagegen kaum in den Blick. In dieser Situation gilt, was Luther 1523 schreibt: „so ist gewisslich da nicht Gottes Wort“ im Sinne der Kommunikation universaler Solidarität Gottes.

Im Luthertum und in der reformierten Tradition entsteht ein weiteres Problem. Der in Trient vollzogene Rückgriff auf Thomas von Aquin stärkt den katholischen Ritus. Auch Luther möchte durch das Abendmahl den Einzelnen würdigen und in der Gewissheit der Solidarität Gottes bestärken. Doch zugleich möchte er magische und sonstige Missverständnisse zurückdrängen und macht daher den rechten Glauben zur Voraussetzung des Abendmahlsempfangs.66[66] Dies führt im Luthertum zur Praxis des sogenannten Abendmahlsverhörs, wobei Luther im Blick auf das Abendmahl eine sehr milde Form der Kirchenzucht praktiziert und empfiehlt. Diese Pflicht zur Selbstprüfung und die Prüfung durch den Amtsträger fördert dennoch Unsicherheit statt der intendierten Gewissheit, denn der Blick wird auf das eigene Innere und auf den Zustand des eigenen Glaubens und weg von Christus und der in ihm gegeben Würdigkeit gelenkt. Die kritische Introspektion wäre dagegen im von Luther intendierten günstigen Fall nur ein Moment im Prozess.

Im Zusammenhang der Taufe und der Abgrenzung gegen die Täufer betont Luther nachdrücklich, dass der Glaube und die Gewissheit aus dem Zuspruch und dem Blick auf Christus erwachsen und die Bezugnahmen auf den eigenen Glauben oder dessen Prüfung als Voraussetzung der Taufe gerade keine Gewissheit stiften kann.67[67] Beim Abendmahl wird in der Konsequenz im Luthertum anders als bei der Taufe tatsächlich Unsicherheit wirksam und die Praxis und Teilnahme ist bis heute deutlich weniger selbstverständlich als bei der Taufe.68[68]

Das Amt und die Predigt haben, so wie sie in der Reformation angelegt sind, einerseits grundsätzlich gute Möglichkeiten Gottes Solidarität öffentlich und kritisch auch im Blick auf Nichtanerkennung im sozialen Raum zur Geltung zu bringen. Auf Grund der faktisch meist engen Verbindung mit der politischen Macht, konnte jedoch, wer im politischen und sozialen Zusammenhang keine Solidarität erfuhr, häufig auch in der Kirche keine Solidarität erfahren. Das gilt in der Tendenz für alle Konfessionen. Das Engagement der Amtsträger für zeitbedingte und wechselnde politische Ziele oder für eine bestimmte Frömmigkeitspraxis wirkt jedoch aufgrund der Schwäche des Kults im protestantischen Bereich besonders ausgrenzend. Verfügt der Amtsträger doch über die Möglichkeit, die Kommunikation von Anerkennung, insbesondere auch göttlicher Anerkennung und Zugehörigkeit in der Predigt, bei Kasualien und im Alltag sehr frei an bestimmte Bedingungen zu binden. Beim Abendmahl konnten z. B. radikalpietistische Amtsträger auch im Luthertum die nichtpietistischen und damit die Mehrheit ihrer Gemeindeglieder ausschließen.69[69] Bei der Taufe war das nicht möglich. Diese Struktur fördert nicht die Erfahrung von Solidarität sondern begünstigt vielfältige Kränkungen.70[70] In der reformierten Tradition ist das Abendmahl durch die strengere Kirchenzucht und den einseitigeren Verpflichtungscharakter noch exklusiver gefasst und die Problematik aufgrund der Prädestinationslehre zugespitzt.71[71]

V Ritus und Kult in der Gegenwart

Im Protestantismus entstehen neben aber auch im Luthertum alternative Ansätze, wie der Pietismus und vielfältige Erweckungsbewegungen. Bis heute sind in diesen Kirchen und Gemeinden die persönliche Entscheidung, verbindliche Gemeinschaft mit gelebter Solidarität und einer intensiven religiösen Lebenspraxis wesentlich. Die Ethik ist eher traditionalistisch, sie gleicht sich mit zeitlicher Verzögerung aber auch der gesellschaftlichen Entwicklung an. Diese Gemeinden sind außerhalb Europas und USA im Wachstum begriffen. Max Weber versuchte in seiner Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ zu zeigen, wie insbesondere diese Varianten des Protestantismus den Kapitalismus begründen. Die Schwäche des Kultes, insbesondere in Verbindung mit der reformierten Prädestinationslehre, mündet nach Weber in Askese um des wirtschaftlichen Erfolges willen, der als sichtbares Zeichen göttlicher Erwählung verstanden werden konnte.72[72] Dies ist auch vor dem Hintergrund der bei Habermas entfalteten Funktion des Ritus im Sinne einer Kompensation durchaus plausibel. Bis heute ist dieses Denken wirksam, so insbesondere bei dem in den USA, Südamerika und Süd Korea recht verbreiteten „Wohlstandsevangelium“, das Wohlstand und den durch Askese geförderten sozialen Aufstieg als sichtbare Belohnung für ein Gott wohlgefälliges Leben versteht.73[73]

Die Reformation hat in ihren verschiedenen Varianten vielfältig zur neuzeitlichen Enttraditionalisierung und Ausdifferenzierung beigetragen. Ab1960 kommt es bedingt durch wirtschaftliche und kulturelle Faktoren zu einer forcierten Entwicklung, verbunden mit ausgeprägten Säkularisierungsprozessen.74[74] Pollack und Rosta weisen darauf hin, dass es unter diesen Bedingungen für Kirchen schwieriger wird das Ganze „kognitiv und affektiv zu überwölben“, und die Funktion der Kontingenzbewältigung75[75] an Bedeutung verliert. Die bei Habermas beschriebene Spannung zwischen Selbsterhaltung und Verpflichtung gegen die Gemeinschaft als persönliches Problem wird unter günstigen wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Bedingungen für die Mehrheit zumindest zeitweise wohl weniger wahrnehmbar – was auch als Erfolg der auf den Exodus gegründeten religiösen Traditionen gewertet werden kann. In welchem sehr unterschiedlichen Ausmaß jedoch im internationalen Vergleich Säkularisierungsprozesse in Europa stattfanden und -finden und Kirchen auch persistieren, hängt nicht zuerst von den Fortschritten dieser Prozesse der Ausdifferenzierung ab, sondern auch davon, ob Religion im politischen und sozialen Kontext als solidaritätsstiftend erfahren wurde und wird oder ob und in welchem Maß die herrschende religiöse Konvention mit Zwang, Gängelung, gefühlter Exklusion und Kränkungen verbunden war. Als Beispiele sei auf die katholischen Länder Frankreich und Polen verwiesen, auf Milieu abhängige Säkularisierungsprozesse oder auf den raschen Niedergang der Religiosität in den Niederlanden, als Reaktion auf die im Blick auf Solidarität völlig unplausible konfessionelle Versäulung der Gesellschaft, „mit einer auf Exklusion, absolute Geltung und Überformung aller Lebensbereiche setzenden religiösen Gruppenkulturen.“76[76] Insbesondere diese Differenzen erklären sich mit Habermas besser als mit Luhmann. Säkularisierung kann demnach unter den Bedingungen der Neuzeit stattfinden, sie muss es aber nicht. Es ist dabei, gegen Pollack, auch aus theologischer Sicht, kein Zeichen einer spezifisch neuzeitlichen Schwäche der Religion, dass sie sich in sozialen Kontexten als sinnvoll erweisen muss.

Enttraditionalisierung, Vereinzelung und Freisetzung des Individuums und die Nötigung z. B. arbeitsmarktabhängig zu wählen bewirken allerdings keinesfalls notwendig eine Individualisierung im Sinne der Stärkung von Autonomie.77[77] Die lebensbedrohliche Folge von Exklusion wird im Ritus der Initiation erfahrbar inszeniert. In traditionellen Kulturen gibt es jedoch den Platz, der eingenommen werden kann. In der neuzeitlichen Situation der Enttraditionalisierung ist die faktische Exklusion bedrohlicher und fördert so Fortschritt und Dynamik der neuzeitlichen Gesellschaften. Inklusion ist nur über Erfolg am Arbeitsmarkt möglich. Die Nötigung und Möglichkeit zu wählen und sich partielle Inklusion zu erarbeiten, kann einerseits eine Chance sein aber andererseits je nach gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen sozialen Umständen überfordern. Der Einzelne bleibt in dieser Herausforderung jedenfalls auf unterstützende Anerkennung aus vormodernen Kontexten angewiesen und für die Zukunft ergibt sich daraus nach Habermas die Notwendigkeit diese „Formen sozialer Integration“ zu rekonstruieren.78[78]

Sind der Sozialstaat und die Zivilgesellschaft schwach, scheinen evangelikale und charismatische Gemeinden und Kirchen in dieser Situation attraktiv zu sein, wohl auch weil sie dieses Defizit an Solidarität kompensieren und die Anpassung an die Erfordernisse des Arbeitsmarkes fördern.79[79]

Allerdings ist die Solidarität Gottes und der Gemeindeglieder in diesen Kontexten meist exklusiv auf einen bestimmten Glauben und eine entsprechende Praxis bezogen.80[80]

Pollack sieht daher diese vitalen Formen der Religion auf Exklusion und eine traditionelle Ethik festgelegt, die damit an fortschreitender Differenzierung scheitern werden.81[81]

Exklusion erweist sich demnach unter den Bedingungen von Pluralität als Stärke und Schwäche zugleich. Sie kompensiert einen Mangel an Solidarität und verletzt zugleich universale Solidarität und kann Konflikte befördern. Jede Form von Exklusion hat auch eine Tendenz, Gottes Solidarität grundsätzlich unsicher und zweifelhaft zu machen.

Zudem schwächt Segmentierung den Ritus, sofern nicht zwischen den Kirchen und Gemeinden, wie in den USA, eine Kultur herrscht, in der religiöser Pluralismus „politisch gewollt und kulturell legitimiert“82[82] ist und zugleich auch eine weitgehende Homogenität herrscht. Denn bei zu großer Distanz von der Mehrheitskultur schwindet die Erfahrung von Akzeptanz und Solidarität und man erfährt wenig „kulturelle und soziale Bestätigung.“83[83] In Entsprechung zu dieser „Theorie der mehrheitlichen Bestätigung“84[84] bei Pollack und Rosta erkennt José Casanova in den „Säkularisierungstheorien in Europa in dem Maß sich selbst erfüllende Prophezeiungen, als eine Mehrheit der Bevölkerung sie als Beschreibung von Gegenwart und Entwurf von Zukunft akzeptiert. Die Annahme, dass eine Gesellschaft desto areligiöser werde, je moderner sie sei (…) ist meiner Ansicht nach eine der Hauptursachen für den drastischen und plötzlichen Niedergang religiöser Praktiken in Europa.“85[85] Wobei Casanova zu wenig reflektiert, inwiefern die Theorien ihre Wirkkraft faktischer Exklusion durch die häufig Autonomie und Solidarität verletzende Erfahrung mit „der Kirche“ in Europa verdanken.

Soll im Ritus, wie bei Luther beschrieben, die befreiende, bedingungslose göttliche Würdigung in Christus, so wie die Verpflichtung zu universaler zwischenmenschlicher Solidarität wirksam werden, dann kann der auf die Offenbarung in Jesus Christus bezogene Ritus nur sensibel für alle Formen sozialer und kultischer Exklusion und deshalb ausdrücklich im Respekt vor anderen Religionen und Konfessionen und zugleich kritisch im Blick auf die Verletzung von Individualrechten gestaltet werden. Denn nur so werden die in der Offenbarung eröffneten Perspektivenwechsel und Perspektivenübernahmen möglich und wirksam. Die großen Konfessionskirchen haben sich in Reaktion auf Kritik und aus theologischer Einsicht weit in diese Richtung bewegt auch im Verhältnis zu anderen Religionen. Inzwischen öffnen sich auf Grund des veränderten gesellschaftlichen Klimas auch evangelikale und charismatische Gruppen und Kirchen zunehmend Dialog- und Verständigungsprozessen und es gibt auch hier die „Tendenzen einer zunehmenden Weltoffenheit.“86[86] Zudem zeigt sich z. B. im Mittelalter,87[87] dass zwischen den Religionen auch in der Vergangenheit trotz exklusiver Ansprüche mehr an konstruktivem Miteinander möglich war, als es die durch die Erfahrung von Konfessionalisierung und aufklärerischer Reaktion geprägte Perspektive für möglich hält.

Die Orientierung an der solidaritätsstiftenden Funktion des Ritus im Spannungsfeld von Individualisierung und Vergesellschaftung erweist sich wie deutlich wurde als hilfreich für ein differenziertes Verständnis für Veränderungsprozesse im Feld der Religion. Anders als der Aspekt der Kontingenzbewältigung im Sinne Luhmanns lässt diese Funktion nicht erwarten, dass sich Religion bei gesellschaftlichem Fortschritt erübrigen könnte.

Die für das Gelingen der für Individuierung und Vergesellschaftung nötigen Perspektivenwechsel und Perspektivenübernahmen sind schon immer kontingenzbehaftet. Diese Prozesse sind, wie z. B. Luthers Doppelthese in der Freiheitschrift zeigt, zugleich theologisch zentral.88[88] Durch Ausdifferenzierung, Pluralisierung und Globalisierung nimmt deren Komplexität zu. Gerade im globalen Kontext betrachtet scheitern diese Prozesse vielfach. Die zentrale Funktion des Ritus Perspektivenwechsel und Perspektivenübernahmen zu unterstützen, gewinnt durch Modernisierungsprozesse an Bedeutung. Der Blick auf die Geschichte und die gegenwärtige Situation zeigt, dass Religion und Theologie einerseits von gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen immer wieder heillos überfordert sind, und andererseits lernen in diesen Herausforderungen neu konstruktiv zu wirken.

Habermas’ Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus unterstützt damit eine an der theologischen Wahrheit orientierte Suche nach einer ihr im sozialen Kontext entsprechenden Gestalt des Ritus.

In subjektivitätstheoretisch orientierter Perspektive wird jedoch bei Habermas eine Funktionalisierung von Religion und Indifferenz in der Wahrheitsfrage unterstellt. Daher soll im Kontext dieser Kritik nach dem Verhältnis von Wahrheit und Funktion gefragt werden. Den Hintergrund zu dieser Auseinandersetzung bildet die Debatte zwischen Dieter Henrich und Jürgen Habermas zum Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität.89[89]

VI Funktion und Wahrheit

Jüngst hat sich Ulrich Barth als Theologe in subjektivitätstheoretisch orientierter Perspektive in seinem Aufsatz „Religionsphilosophie aus Sicht der Kommunikationssoziologie”90[90] mit Habermas auseinandergesetzt.

Dabei reduziert er Habermas’ Interesse an Religion auf den Aspekt eines „vergleichsweise harmlosen Ressourcen- bzw. Übersetzungsmodells.“91[91]

Doch nach Habermas sind die gegenwärtige Theologie „und das nachmetaphysische Denken, (…) am Ende komplementäre Antworten auf dieselben kognitiven Herausforderungen, der aus säkularen Wissensquellen gespeisten Aufklärung.“ Habermas nimmt Schleiermachers Bestimmung der Theologie als nachmetaphysische, auf den geschichtlich gegebenen Glauben der Kirche bezogene Wissenschaft auf. „Die Theologie als Auslegung eines lebendigen, im Kultus der Gemeinde verwurzelten Glaubens (…) hält unter modernen Lebensbedingungen die Verbindung zu einer archaischen Quelle gesellschaftlicher Solidarität aufrecht“92[92] und sie ermöglicht es zugleich „sich (…) mit den Wissens- und Legitimationsansprüchen der institutionalisierten Wissenschaften und der säkularen Staaten“ zu arrangieren.93[93]

Sein Interesse gilt der Funktion von Religion im Spannungsfeld von Individualisierung und Vergesellschaftung ohne jedoch die Möglichkeit zu verkennen mit Schleiermacher Religiosität transzendentalphilosophisch zu begründen.94[94] Religiosität kann nach Habermas weder in der einen noch in der anderen Hinsicht vollständig in den säkularen Kontext übersetzt werden.

Barth gründet mit Kant über das höchste Gut, als „Idee eines moralischen Ganzen“ im Sinne eines „‚ethisch-bürgerliche[n] Zustand[s] […] unter […] bloßen Tugendgesetzen‘“95[95] die „Religion ihrem reinen Begriff nach in der menschlichen Vernunft selbst“ und unterstellt, Habermas würde sich im Blick auf die Realisierbarkeit des höchsten Gutes den zwingenden – im Subjekt gründenden – geschichtsphilosophischen Einsichten Kants96[96] „entwinden.“97[97] Er wiederholt damit im Blick auf den Begriff des höchsten Gutes und die darin gründende Religionsphilosophie bei Kant die Argumentation von Rudolf Langthaler in der Auseinandersetzung mit Habermas.98[98] Das Zugeständnis Habermas’ an Langthaler im Blick auf die angemessene Kantinterpretation, seine Anfrage an die Überzeugungskraft der geschichtsphilosophischen Argumentation Kants im Blick auf das höchste Gut und die Anliegen in der Entgegnung von Habermas nimmt Barth nicht zur Kenntnis.99[99] Zudem kommen in Barths Perspektive, die Phänomene, die Habermas interessieren, nicht in den Blick, da für ihn der Kirchenglaube und der ihn stützende Kult nur als Vehikel für „den in der Vernunft gründenden reinen Religionsglauben“ dient.100[100] Dieser „reine Religionsglaube“ ermöglicht es, sich „in Gestalt eines unendlichen kritischen Prozesses“ am Kirchenglauben abzuarbeiten, der in der Konsequenz im Kult am besten schweigt und nur die Musik wirken lässt.101[101]

Wenn man allerdings mit Henrich, dem Barth verbunden ist, zumindest zugesteht, dass Subjektivität, die als „Selbstbeziehung im Wissen für selbstexplikativ“ gehalten wurde, aufgrund ihrer inneren Vielfalt nicht mehr als Prinzip gelten kann,102[102] und wenn man zudem mit Henrich zum konstruktiven Verhältnis von Intersubjektivität und Subjektivität festhält, dass Sprache nicht als „Instrument“ der Subjektivität zu verstehen ist, sondern als deren „Medium“,103[103] ist es nicht mehr möglich das bei Habermas nicht im Subjekt begründete Verständnis der Religion unter Verweis auf den in der Vernunft gründenden reinen Religionsglauben nach Kant als oberflächlich und harmlos zu klassifizieren. Der in der Subjektivität begründete Begriff der Religion hat als Hilfe gegen Religion und Macht als Quellen von Unfrieden, Unvernunft und der Missachtung von Autonomie seinen historischen Verdienst, er ist jedoch wenig hilfreich für einen konstruktiven Umgang mit Pluralität und eine Einsicht in die Funktion des Ritus. Wenn man Habermas an einem Begriff der Religion messen möchte, würde sich sowohl ideengeschichtlich als auch in der Sache Hegels Begriff der Religion anbieten.104[104]

Hält man fest, dass Identität und Selbstbewusstsein nur in der Anerkennung durch andere Personen, durch Perspektivenwechsel und in der Übernahme von Perspektiven entsteht, ist die Forderung nach unbedingter Achtung der Autonomie insbesondere im Blick auf Institutionen nur ein – allerdings sehr wesentlicher – Aspekt.

Die Kommunikation unbedingter göttlicher Anerkennung und Solidarität in universaler Weite im Ritus erweist sich als offenbarte und offenbarende übergeordnete göttliche Perspektive, in der die Wahrheit der Würde der Person im sozialen Raum wirksam demonstriert wird und die in der Spannung zwischen Individuierung und Vergesellschaftung eine bleibende Funktion hat. Der Ritus ist so eine Quelle der Solidarität und ein kritisches Korrektiv gegen verletzte Solidarität, Exklusion und Missachtung, die geeignet sind, die Ausbildung von Selbstbewusstsein, Autonomie und Identität zu verhindern. Er kann damit dazu beitragen Normativität kontinuierlich kritisch zu erneuern. Allerdings kann der Ritus dies nur dann, wenn er sensibel ist für verletzte Solidarität, Exklusion und Missachtung im sozialen Raum und wenn er in Entsprechung zu dieser Wahrheit nicht selbst exklusiv wird.105[105] Jeder Versuch, diese Wahrheit geschichtlich zu verantworten, verlangt daher den Bezug auf die ihr im jeweiligen Kontext gemäße rituelle Praxis und damit auch auf die Funktion des Ritus.

Online erschienen: 2016-3-14
Erschienen im Druck: 2016-3-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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