NACHWEISE AUS FRIEDRICH RITSCHL, INSTITUTIONES GRAMMATICAE LINGUAE LATINAE (1865), EINLEITUNG UND ANLEITUNG ZUR LATEINISCHEN GRAMMATIK (1866/67), HISTORISCHE GRAMMATIK DER LATEINISCHEN SPRACHE NEBST EINLEITUNG IN DIE ROEMISCHE EPIGRAPHIK (1866/67), LATEINISCHE GRAMMATIK (1867)
Vorlesungen über lateinische Grammatik, KGW II 2.191, Fußnote 1:
die histor. Grammatik faßt das Werden ins Auge. Die fertig gewordene Sprache ist nur ein Moment, nicht einmal das wichtigste. Die älteren Stufen sind viel lehrreicher. Die Sprache ist ein Gewächs mit einem innewohnenden Bildungstriebe. Dabei ist nicht zu unterschätzen die Ausbildung durch den bewußten Menschgeist, theoretische Festsetzung durch Doktrin wenigstens beim Latein. Anders bei den Griechen, die grammat. Untersuchungen treten erst hervor, als die Sprache fertig ist. Bei den Lateinern, bei den ältesten Dichtern ist die Reflexion thätig.
Friedrich Ritschl, Institutiones grammaticae linguae latinae, GSA 71/43, SS 1865, Blätter 3–4:
1. Die Gesetzmäßigkeit einer physischen Entwicklung, zumeist durch Wilh. v. Humbold entdeckt. Der Sprache kommt ein selbständiges Leben zu, sie ist ein Gewächs, aber nur relativ selbständig. 2. Die Sprache ist aber noch mehr. Der Sprachstoff wird bestimmt vom Geiste des Menschen, vom logischen Denken aus vornehmlich. Wesentlich durch die Kantische Philos. fand dies Prinzip seinen Hauptvertreter in der Germanischen Schule. Aber mindestens so viel hat die Phantasie dazu beigetragen, besonders die Poesie, der aesthetische Sinn. Der 3te Faktor untergeordneter Natur ist die theoretische Festsetzung durch die reflektirende Doktrin.
Friedrich Ritschl, Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik, GSA 71/53, WS 1866/67, Blatt 7:
Die Behandlung muß sein: die historische, weil sie es mit dem Leben, mit der Bewegung und dem Fortschritt zu thun hat. Sie faßt ins Auge das Werden selbst. Die fertig gewordene Sprache ist dafür nur ein Moment und nicht einmal das wichtigste. Daher die Bevorzugung des älteren in der Sprache. Unsere Methode ist die empirisch-historische. Wie gehen Sprachentwicklungen vor sich? Drei Faktoren: 1. Die Gesetzmäßigkeit einer physischen Entwicklung. Die Sprache ist ein ge-[1]
Friedrich Ritschl, Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die roemische Epigraphik GSA 71/54, WS 1866/67, Blätter 2–3:
Die hist. Grammatik untersucht, warum etwas so werden konnte u. durfte, das Werdende. Die klass. Sprache ist daher nur ein Element unserer Grammatik. Notwendige Bevorzugung des Aelteren in der Sprache. Empirisch-historische Grammatik. § 2. Wie geht die Sprachentwicklung überhaupt vor sich? 3 Factoren wirken zusammen: 1. Die Gesetzmäßigkeit der phys. Entwickelg geknüpft an physiologische Bedingungen. Dieser Hauptfactor gebunden an die physiologischen u. Sprachorgane des Menschen. 2. Ein im Menschengeist wohnender Factor, das logische Denkvermögen. Daneben hat ebensoviel zur Sprachentwickelg die Phantasie beigetragen. Einfluß der Poesie u. des poetischen Triebes. 3. ein untergeordneter Factor, teils benutzt, teils instinctiv, die theoretische Festsetzg, die reflectirende Doctrin tritt uns bei weitem stärker entgegen in der lat. Sprache als in d. Griechischen, weil die Doctrin viel später erst herantrat. Von den ersten Anfängen der lat. Literatur haben wir theoretische Doctrin.
Friedrich Ritschl, Lateinische Grammatik, GSA 71/55, SS 1867, Blatt 2:
Wir müssen Leben suchen, fortschreitende Entwicklung, daher das historische Studium der Sprache. Nicht das Geworden sein, auch nicht das Werden Müssen, sondern das Werden selbst. Die fertig gewordene Sprachbildg. der klassischen Periode ist nur ein Element ihres Stoffes. Um das Werden zu finden, sind die Vorstufen wichtiger, als der Abschluß. Empirisch-historische Sprachforschung. Es gibt 3 Factoren aller Sprachbildung: 1.) die Gesetzmäßigkeit einer physischen Entwicklg (W. v. Humboldt.) 2.) Anregung, ausgegangen von dem logischen Denkvermögen der Menschen. Die Phantasie hat ebensoviel zur Sprachbildg beigetragen. In enger Verbindg damit steht der Einfluß der Poesie, der ein schöpferischer ist. 3.) mehr untergeordnet, theoretische Festsetzung durch die reflectirende Doctrin, die wissenschaftliche Grammatik. (für die latein. Gr. speziell wichtig.)
Es wird in der Forschung seit Langem vermutet, dass Nietzsche seine Vorlesungen in Basel teilweise auf Grundlage seiner eigenen Kollegnachschriften aus der Studienzeit in Bonn und Leipzig konzipierte. Werner Ross fragt, ob die Manuskripte zur Vorlesung über die griechische Lyrik nicht ursprünglich als Mitschriften der Vorlesungen von Curtius entstanden sein könnten.[2] Auch Timo Hoyer betont die Ähnlichkeit zwischen den von Nietzsche in Basel gehaltenen Vorlesungen und dem Inhalt der Kollegnachschriften: Nietzsches Vorlesungen über lateinische Grammatik und Einleitung in die lateinische Epigraphik erinnern an Ritschl, während Die griechischen Lyriker, Enzyklopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium derselben und Geschichte der griechischen Literatur stark an Curtius’ Vorlesungen erinnern.[3] Francisco Arenas-Dolz folgt diesem Ansatz und hebt hervor, dass Nietzsche bei der Konzeption seiner Vorlesungen über lateinische Grammatik möglicherweise auf Vorlesungsnotizen Ritschls zurückgegriffen hat, nämlich: Institutiones grammaticae linguae latinae, Die römische Epigraphik als Hülfsmittel zum Studium der lateinischen Grammatik, Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik, Historische Grammatik nebst Einleitung in die römische Epigraphik, Lateinische Grammatik und Die wichtigsten Lehren der lateinischen Grammatik.[4] Ich habe diese Annahme konkretisiert und Institutiones grammaticae linguae latinae, Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik, Historischen Grammatik nebst Einleitung in die römische Epigraphik sowie Lateinische Grammatik als Quellen für das zweite Kapitel der Vorlesungen über lateinische Grammatik erkannt.[5]
Nietzsche greift in seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik – unter Rekurs auf verschiedene Passagen aus den genannten Kursnotizen Ritschls – die von Ritschl entwickelte These der drei Faktoren der Sprachbildung auf. Es handelt sich dabei um eine von Ritschl entwickelte These, die als Alternative zu logisch und naturalistisch geprägten Sprachauffassungen gedacht war und auf eine vermittelnde Position abzielt.[6] Dieser Punkt ist von besonderer Bedeutung, da er eine mögliche Nähe zwischen Nietzsche und August Schleicher – einem der wichtigsten Vertreter des sprachlichen Naturalismus, der im zweiten Kapitel der Vorlesungen ebenfalls paraphrasiert wird – relativiert.
Literaturverzeichnis
Arenas-Dolz, Francisco: „Was ist eine Vorlesung bei Nietzsche? Oder: Wie stellt Nietzsche den Text seiner Vorlesungen zusammen? Am Beispiel der Einleitung in die Tragödie des Sophocles (SS 1870)“, in: Nietzsche-Studien 41 (2012), 192–30710.1515/niet.2012.41.1.192Suche in Google Scholar
Hoyer, Timo: Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biographie und Rezeption, Würzburg 2002Suche in Google Scholar
Nasser, Eduardo: „Os Kollegnachschriften de Nietzsche. Considerações sobre uma lacuna das obras completas“, in: Cadernos Nietzsche 42/1 (2021), 89–11010.1590/2316-82422021v4201enSuche in Google Scholar
Ross, Werner: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1997/98Suche in Google Scholar
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