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NACHWEISE AUS FRIEDRICH MAX MÜLLER, ESSAYS. BEITRÄGE ZUR VERGLEICHENDEN MYTHOLOGIE UND ETHOLOGIE (1869)

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Published/Copyright: October 17, 2025
Nietzsche-Studien
From the journal Nietzsche-Studien

Vorlesungen über lateinische Grammatik, KGW II 2.190, Z. 6–21:

Sanscrit

Littauisch

Zend

Dorisch

Altslavisch

Latein

Gothisch

Ich bin

asmi

esmi

ahmi

ἐμμί

yesme

sum

im

asi

essi

ahi

ἐσσί

yesi

es

is

asti

esti

asti

ἐστί

yeste

est

ist

Armen.

Ital.

Wallach.

Rhät.

Span.

Portug.

Franz.

em

sono

sum

sunt

soy

sôn

suis

es

sei

es

eis

eres

es

es

e

è

e

ei

es

he

est

Nicht eine von diesen Sprachen ist die Wurzelsprache ἐσμές kann nicht von Sansc. smas abgeleitet werden, da Sansc. das wurzelhafte a verloren hat. Das Griech. kann wiederum nicht Wurzel sein, da das Latein. einige Formen primitiver bewahrt hat sunt (sanscr. santi), während im Griech. ἐντί ἐνσί oder εἰσί. Das wurzelhafte as ganz verloren denn santi steht führ asanti. Sansc. u. Latein. haben davon doch noch s festgehalten, im Griech. ἔσ|εντι hat ganz das ἐσ weggeworfen.

Vgl. Friedrich Max Müller, Essays. Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie. Bd. II, Leipzig 1869, S. 16 f.:

Italien

Wallachisch

Rhätisch

Spanisch

Portug.

Französ.

Ich bin:

sono

sum (sunt)

sunt

soy

sou

suis

Du bist:

sei

es

eis

eres

es

es

Er ist:

e

é (este)

ei

es

he

est

Wir sind:

siamo

sŭntemu

essen

somos

somos

sommes

Ihr seid:

siete

sŭnteti

esses

sois

sois

êtes (estes)

Sie sind:

sono

sŭnt

eân (sun)

son

são

sont

Es ist ersichtlich, selbst aus einer kurzen Betrachtung dieser Formen, erstlich, dass sie alle nur Spielarten eines einzigen gemeinsamen Urbildes sind; zweitens, dass es unmöglich ist, eins dieser sechs Paradigmen als die Originalform anzusehen, von der die übrigen entlehnt wären. Hierzu können wir, drittens, hinzufügen, dass in keiner der Sprachen, zu denen diese Verbalformen gehören, die Elemente sich finden, aus denen sie sich hätten zusammensetzen können […]

Sanskrit

Littauisch

Zend

Dorisch

Alt-Slavisch

Latein.

Gothisch

Armen.

Ich bin:

ásmi

esmi

ahmi

ἐμμί

yesmè

sum

im

em

Du bist:

āsi

essi

ahi

ἐσσί

yesi

es

is

es

Er ist:

āsti

esti

asti

ἐσσί

yestô

est

ist

ê

Wir (zwei) sind:

‘svás

esva

yesva

siju

Ihr (zwei) seid:

‘sthás

esta

stho ?

ἐστόν

yesta

sijuts

Sie (zwei) sind:

‘stás

(esti)

sto

ἐστόν

yesta

Wir sind:

‘smás

esmi

hmahi

ἐσμές

yesmo

sumus

sijum

emq

Ihr seid:

‘stha

este

sta

ἐστέ

yeste

estis

sijuth

êq

Sie sind:

sánti

(esti)

hènti

ἐντí

som

sunt

sind

en

Aus einer sorgfältigen Betrachtung dieser Formen müssen wir zu genau den nämlichen Schlüssen gelangen; erstlich, dass sie alle nur Spielarten eines gemeinsamen Urbildes sind; zweitens, dass es unmöglich ist, irgend eine von ihnen als die Originalform zu betrachten, von der die übrigen entlehnt wären; und drittens, dass, hier wie dort, keine der Sprachen, in denen diese Verbalformen vorkommen, das grammatische Material besitzt, aus denen sich solche Formen hätten bilden können. Dass das Sanskrit nicht als die Originalform, von der alle die übrigen abgeleitet worden, gefasst werden kann, (eine Ansicht, die von vielen Gelehrten festgehalten wird) geht daraus klar hervor, dass das Griechische in manchen Fällen eine primitivere oder, wie man sagt, organischere Form als das Sanskrit bewahrt hat. Ἐσ-μές kann nicht vom sanskritischen smas hergeleitet werden, da smas das wurzelhafte a, welches das Griechische bewahrt hat, verloren hat; die Wurzel nämlich ist as, sein, die Endung mas, wir. Auch kann man sich nicht auf das Griechische als die primitivere Sprache berufen, von der die übrigen abgeleitet wären, denn man könnte nicht einmal das Latein die Tochter des Griechischen nennen, da die Sprache Roms einige Formen in primitiverer Gestalt bewahrt hat als die griechische; z. B. sunt anstatt ἐντί oder ἐνσί oder εἰσί. Das Griechische hat hier das wurzelhafte as ganz und gar verloren, denn ἐντί steht für ἐσεντί, während das Latein, wie das Sanskrit zum wenigsten das wurzelhafte s in sunt = santi bewahrt hat.

Vorlesungen über lateinische Grammatik, KGW II 2.192, Z. 13–16:

Rückschlüsse auf die indogerman. Periode zB. Vater Mutter Bruder Schwester Tochter. Vater pitar heißt „Beschützer“ duhitar ist die Melkerin. brathar Beisteher, svasar die Erfreuende.

Vgl. Friedrich Max Müller, Essays. Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie. Bd. II, Leipzig 1869, S. 20–23:

Die blosse Thatsache, dass die Namen für Vater, Mutter, Bruder, Schwester und Tochter in den meisten der arischen Sprachen dieselben sind, könnte auf den ersten Anblick von unwesentlicher Bedeutung erscheinen […]. Der Vater als Erzeuger hiess im Sanskrit ganitár, als Beschützer und Helfer seiner Nachkommenschaft aber hiess er pitár […].

Die ursprüngliche Bedeutung von bhrâtar war, wie mir scheint, Träger oder Beisteher, von svasar, die welche erfreut oder tröstet – svasti bedeutet nämlich im Sanskrit Freude oder Glück […].

Duhitar ist, wie Professor Lassen zuerst dargethan hat, von DUH abgeleitet, einer Wurzel, die im Sanskrit die Bedeutung: melken hat. Vielleicht ist es mit dem Lateinischen duco verwandt, und der Bedeutungsübergang würde der nämliche sein, wie zwischen trahere, ziehen, und traire, melken. Der Name Melkerin, der Tochter des Hauses beigelegt, öffnet nun vor unsern Augen ein kleines Idyll in dem poetischen Hirtenleben der ersten Arier.

Vorlesungen über lateinische Grammatik, KGW II 2.192, Z. 16–22:

Man muß vermuthen, daß sie in einem Centrum, im Binnenlande gelebt haben, daß es kein gemeinsames Wort für Meer giebt. Dies bestätigt sich. sara ἅλς sal beweist nur das „Salz“. πόντος ist „Landstraße“ θάρασσα τάρασσα ist das bewegte Meer mare wahrscheinlich das todte Meer (vom Stamm mar) Wohlbekannt Ruder Steuer und Schiff navas navis ναῦς.

Vgl. Friedrich Max Müller, Essays. Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie. Bd. II, Leipzig 1869, S. 40–42:

Während dieser frühen Periode müssen die Vorältern der arischen Race in einer mehr centralen Stätte gesessen haben, von der aus die südlichen Zweige sich gen Indien, die nördlichen nach Kleinasien und Europa ausdehnten. Daraus würde mithin folgen, dass sie vor ihrer Trennung von der Existenz des Meeres nichts wissen konnten, und der Name für Meer muss daher, falls unsere Theorie wahr ist, von späterer Entstehung und in den arischen Sprachen verschieden sein. Und diese Erwartung bestätigt sich vollkommen. […] Pontus und πόντος bedeuten Meer in demselben Sinne, in dem Homer von ὑγρὰ κέλευθα spricht, denn pontus kommt von derselben Quelle, von der wir pons, pontis und das skt. pantha, wenn nicht pâthas, haben. Die See nannte man nicht eine Grenzscheide, sondern eine Landstrasse, von grösserem Nutzen für Handel und Reisen, als alle die andern Strassen […]. Ebensowenig könnten Wörter wie skt. sara, lat. sal und griech. ἅλς, ἁλός citirt werden, um bei den ersten Ariern eine Bekanntschaft mit der See nachzuweisen. Sara bedeutet im Sanskrit zuerst Wasser, danach, aus Wasser gewonnenes Salz, aber nicht nothwendigerweise Meerwasser. Wir möchten aus skt. sara, griech. ἅλς, und lat. sal schliessen, dass die Bereitung des Salzes durch Verdampfung den Vorfahren der arischen Familie vor ihrer Trennung bekannt war. Dies ist indess Alles, was durch ἅλς, sal, und skt. sara oder salila bewiesen werden könnte […]. Dieselbe Bemerkung findet ihre Anwendung auf Wörter wie aequor im Latein oder πέλαγος im Griechischen. Dass θάλασσα eine dialektische Form von θάρασσα oder τάρασσα ist und die erregten Wogen des Meeres (ἐτάραξε δὲ πόντον Ποσειδῶν) bezeichnet, ist längst nachgewiesen worden […]. Es ist wahrscheinlicher, dass mare ein Name für todtes und stehendes Gewässer ist, da es, wie skt. maru, Wüste, von der Wurzel mar, sterben, kommt […]. Die Wörter Ruder und Steuer können auf das Sanskrit zurückgeführt werden, und der Name des Schiffes ist genau derselbe im Sanskrit (naus, nâvas), im Latein (navis), im Griechischen (ναῦς), und im Teutonischen (ahd. nacho, agls. naca).

Obwohl Nietzsche den Namen Friedrich Max Müllers bereits während seiner Gymnasialzeit in Pforta kannte,[1] setzte er sich erst als Universitätsstudent intensiver mit Müller und dessen Essays auseinander. Müller und sein Werk Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache werden in den Kollegnachschriften zu Friedrich Ritschls Vorlesungen erwähnt: Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik (GSA 71/52, Blatt 174), Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik (GSA 71/54, Blatt 63) und Lateinische Grammatik (GSA 71/55, Blatt 102). In den Notizen zu Curtius’ Vorlesung Geschichte der griechischen Literatur finden sich Hinweise auf Comparative Mythology – allerdings unter dem englischen Originaltitel –, einen Text, der im zweiten Band der Essays enthalten ist, sowie weitere paraphrasierte Zitate aus den Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (GSA 71/45, Blätter 15, 23 und 58).[2]

Die Forschung geht gemeinhin davon aus, dass Nietzsche sich erstmals zwischen 1870 und 1871 mit den Essays beschäftigte, insbesondere mit dem ersten Band, aus dem er Zitate entnahm und einen kritischen Dialog mit Müller begann (5 = U I 3-3a).[3] Nach Johann Figl lässt sich die Verwendung des zweiten Bandes der Essays erst im Sommersemester 1871 im Rahmen der Vorlesung Encyclopaedie der klassischen Philologie nachweisen.[4] Diese Auffassung ist jedoch zu korrigieren: Bereits im zweiten Kapitel der Vorlesungen über lateinische Grammatik (Wintersemester 1869/70) lassen sich Paraphrasen aus dem zweiten Band der Essays nachweisen.[5]

Was die Präsenz Müllers in den Vorlesungen über lateinische Grammatik betrifft, so vermutet Christian J. Emden, dass dieser Autor eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Vorlesung gespielt haben dürfte; er verweist jedoch lediglich auf die Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache als mögliche Quelle.[6] Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das zweite Kapitel der Vorlesungen über lateinische Grammatik auf Paraphrasen Müllers basiert – ohne jedoch explizit den zweiten Band der Essays zu nennen.[7]

In Nietzsches Privatbibliothek befindet sich ein Exemplar des zweiten Bandes der Essays, das deutliche Lesespuren aufweist.[8] Im zweiten Kapitel der Vorlesungen über lateinische Grammatik übernimmt Nietzsche ausschließlich Passagen aus dem zweiten Band der Essays, genauer aus dem Abschnitt „Vergleichende Mythologie“, der ursprünglich 1856 als eigenständiger Text auf Englisch in den Oxford Essays unter dem Titel Comparative Mythology veröffentlicht wurde. Neben dem erklärten Ziel, die verborgenen naturalistischen Bedeutungen der Mythen der indogermanischen Sprachgruppe aufzudecken, hatte die Studie erheblichen Anteil an der Verbreitung der These, die Arier seien das Ursprungsvolk der europäischen Völker. Durch das vergleichende Studium sprachlicher Wurzeln innerhalb einer Sprachfamilie hoffte Müller, das Leben der frühen arischen Völker zumindest schrittweise und in Ansätzen zu rekonstruieren – eine Methode, die später unter dem Begriff der Paläolinguistik bekannt wurde.[9] Die von Nietzsche ausgewählten und in den Vorlesungen integrierten Passagen zeigen deutlich sein besonderes Interesse an diesem Aspekt von Müllers Werk.

Nietzsche übernahm Müllers Passagen jedoch nicht passiv oder unkritisch. Das zeigt sich vor allem daran, dass Nietzsche den Begriff ‚arisch‘ systematisch vermeidet oder durch ‚indogermanisch‘ ersetzt. Diese bewusste Entscheidung legt nahe, dass Nietzsche einer anderen theoretischen Orientierung folgte. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff ‚arisch‘ zwischen 1830 und 1890 häufig als Ersatz für ‚indogermanisch‘ oder ‚indoeuropäisch‘ verwendet wurde – jedoch mit rassischer Konnotation[10] –, scheint Nietzsches Wahl zu zeigen, dass er Müllers Material einer rein sprachwissenschaftlichen, ent-rassifizierten Betrachtung unterziehen wollte. Müller, der Sprachwissenschaft mit Ethnologie verband, gebrauchte ‚arisch‘ sowohl zur Bezeichnung der gemeinsamen grammatischen Struktur der indogermanischen Sprachen als auch für das Volk, das diese Ursprache sprach, sowie für dessen Nachkommen.[11]

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2025-10-17

© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 17.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nietzstu-2025-0030/html
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