Zusammenfassung
Der Strafvollzug wird international zunehmend digitalisiert. In vielen Ländern haben Strafgefangene bereits Zugang zu digitalen Geräten. Forschung zu »digital rehabilitation« zeigt die Chancen auf, die sich dadurch für die Verbesserung der Haftbedingungen und die Resozialisierung ergeben. Vor diesem Hintergrund sollen auch in Österreich Inhaftierte erweiterten Zugang zu digitalen Technologien erhalten. In Vorbereitung eines Pilotprojekts wurden 39 (zum Teil ehemalige) Inhaftierte in problemzentrierten Interviews, über 600 im Strafvollzug Beschäftigte in einer Online-Befragung und 15 Fachleute zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung befragt. In diesem Artikel werden die Ergebnisse dieser Erhebungen präsentiert und miteinander in Beziehung gesetzt. Die Befragungen zeigen, dass in einigen Bereichen überraschend viel Einigkeit besteht; gleichzeitig unterstreichen die Ergebnisse der Personalbefragung, dass innerhalb der Justizwache ein großes Bewusstsein für die Sicherheitsrisiken der Digitalisierung besteht. Der Artikel stellt eine sozialwissenschaftliche Analyse der Bedingungen für eine sinnvolle und breit akzeptierte Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte dar. Das Ziel der Resozialisierung darf dabei nicht als Legitimation für die Implementierung von digitalen Technologien verwendet werden, mit denen de facto andere Ziele, wie der Ausbau von Überwachung und Kontrolle, verfolgt werden. Bedenken und Widerstände eines Teils des Personals müssen zwar berücksichtigt werden, sollten jedoch nicht dazu führen, dass Inhaftierten auf Dauer der Zugang zu heute selbstverständlichen Tools und Kompetenzen einer digitalen Gesellschaft vorenthalten wird.
Abstract
In many countries, prisoners already have access to digital devices. Research on digital rehabilitation highlights the opportunities it presents for prisoner rehabilitation and the enhancement of prison conditions. With these findings in mind, prisoners in Austria are to be given extended access to digital technologies in the future. In preparation of a pilot project, 39 current and former inmates were interviewed, over 600 prison staff members participated in an online survey, and 15 experts were consulted regarding the potential and the risks of digitilization. This article presents the research findings and argues for the adoption of a multi-perspective approach that considers varying interests and viewpoints when contemplating digital transformation within prison systems. The surveys indicate significant consensus in some areas regarding the benefits and drawbacks of digital tools in prisons. However, the staff survey results emphasize the prison staff’s awareness of the security risks associated with digitilization. This article therefore subsequently analyzes the conditions for a meaningful and widely accepted expansion of prisoners’ access to digital devices. In this context, the intention of improving rehabilitative opportunities should not be used as a mere justification for the implementation of digital technologies that primarily serve other purposes, such as surveillance and control. While addressing staff concerns is essential, it should not result in a permanent denial of prisoners’ access to the tools and skills of today’s society.
1 Einleitung
In vielen europäischen Ländern existieren bereits Modellprojekte oder -anstalten[1], die Inhaftierten Zugang zu digitalen Geräten und ausgewählten Internetseiten ermöglichen. In Österreich ist der Strafvollzug[2] jedoch nach wie vor in vielen Bereichen analog. Insbesondere Gefangene haben nur sehr begrenzten Zugang zu Schulungsräumen und erhalten nur in Ausnahmefällen eigene Geräte ohne Internetanbindung im Haftraum. Im Rahmen eines Pilotprojekts soll nun erstmals die Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte erprobt werden.[3] Dieser Artikel präsentiert die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung, die zur Vorbereitung des Pilotprojekts durchgeführt wurde, diskutiert die Erwartungen sowie die Chancen und Risiken der Digitalisierung des Strafvollzugs aus Sicht der Inhaftierten, des Personals und von Fachleuten und führt diese multiperspektivisch zusammen.
In den vergangenen Jahren entstand eine Reihe von Publikationen, die sich mit »smart prisons«, also der Digitalisierung des Strafvollzugs auseinandersetzten (z. B. Bode, 2019; Järveläinen & Rantanen, 2020; Jewkes & Reisdorf, 2016; Kaun & Stiernstedt, 2020; Kawamura-Reindl, 2019; Knight & Van De Steene, 2017; Lindström & Puolakka, 2020; McKay, 2022; Rantanen, Järveläinen & Leppälahti, 2021; Reisdorf & Rikard, 2018). Innerhalb der Literatur werden unterschiedliche Aspekte der digitalen Transformation von Haftanstalten thematisiert und dabei sowohl ethische und grundrechtliche als auch sicherheitsrelevante Aspekte diskutiert, zugleich aber auch die vielen positiven Potenziale der Digitalisierung des Strafvollzugs hervorgehoben. Denn neben einer Digitalisierung der Verwaltungs- und Überwachungstätigkeiten[4] können Digitalisierungsmaßnahmen für Inhaftierte positive Effekte haben und zu einer gelungenen Resozialisierung beitragen: Studien zu »digital rehabilitation« unterstreichen, dass digitale Systeme bei bedarfsorientierter Anwendung Ausstiegsprozesse fördern und erfolgreiche Resozialisierung begünstigen, indem sie etwa soziale Beziehungen zu Angehörigen festigen (Reisdorf & Rikard, 2018, 1284), selbstständiges Handeln ermöglichen und das Selbstvertrauen stärken (Knight, 2015; McDougall, Pearson, Torgerson & Garcia-Reyes, 2017), Zugänge zu Bildungsinhalten und -programmen schaffen (Hopkins & Farley, 2015; Monteiro, Barros & Leite, 2015), die Abhängigkeit der Inhaftierten vom Strafvollzugspersonal reduzieren (McDougall et al., 2017) und zur Verbesserung des Übergangsmanagements beitragen können (Knight & Van De Steene, 2017; Reisdorf & Rikard, 2018). McDougall und Pearson (2020) gelang der statistische Nachweis, dass sich in den untersuchten britischen Gefängnissen Disziplinarverfahren verringert hatten und die Rückfallraten nach Gefängnissen mit Zugang zu neuen Technologien signifikant niedriger waren als bei Anstalten ohne diese.
In der zitierten Forschungsliteratur wird betont, dass für die gelungene Implementierung von resozialisierungsfördernden Digitalisierungsmaßnahmen die Perspektiven und Bedürfnisse von Inhaftierten berücksichtigt werden sollten (vgl. Van De Steene & Knight, 2017). Gleichzeitig hängt eine in der Praxis gelungene Digitalisierung des Strafvollzugs wesentlich von der Akzeptanz des Personals ab, das den Digitalisierungsprozess prägt und in der Umsetzung eine tragende Rolle einnimmt (Mufarreh, Waitkus & Booker, 2022, 415). Wie wir in diesem Artikel auf der Grundlage der empirischen Forschung argumentieren, hängt das Gelingen von Digitalisierungsmaßnahmen im Strafvollzug also wesentlich davon ab, ob die in den Prozess der Digitalisierung involvierten Personengruppen, aber auch die Besonderheiten des Strafvollzugs im Planungs- und Umsetzungsprozess berücksichtigt und miteinander abgestimmt werden. Im Folgenden stellen wir daher zunächst Methodik und Fragestellung der Bedarfserhebung unter Inhaftierten, der Online-Befragung des Personals sowie der Expertenbefragung vor, um danach die Ergebnisse der jeweiligen Erhebung zu präsentieren. In der abschließenden Diskussion werden die unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt und die sich daraus ergebenden Implikationen für eine gelungene Digitalisierung des Strafvollzugs erörtert. Da die deutschsprachige Fachliteratur zur Digitalisierung des Strafvollzugs weitgehend juristische Fragestellungen behandelt (Bode, 2019; Esser, 2020; Wawzyniak, 2012) oder praxisnahe Berichte zu diversen Modellprojekten liefert (Hammerschick, 2019; Mandach, 2019; Reschke, 2020), möchte dieser Artikel den Forschungsstand durch eine empirisch fundierte sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung erweitern.
2 Methodische Herangehensweise und Fragestellungen
Um einen multiperspektivischen Einblick in die Digitalisierung des Strafvollzugs zu erlangen, kombinierten wir unterschiedliche Methoden: Mit den Inhaftierten bzw. aus der Haft Entlassenen wurden explorative qualitative Interviews geführt, um ihre Bedarfe zu eruieren. Das Strafvollzugspersonal wurde mit einem standardisierten Erhebungsinstrument befragt, weil ein breiter Einblick in die Einstellungen des Personals gewonnen und auch etwas über die Verteilung der befürwortenden wie ablehnenden Haltungen ausgesagt werden sollte. Ausgewählte Fachleute aus dem In- und Ausland wurden interviewt, um Expertise aus der Praxis und Erfahrungswerte aus nationalen Arbeitsgruppen und internationalen Modellprojekten miteinzubeziehen.
2.1 Bedarfserhebung
Ziel der Interviews mit Inhaftierten war es, einen Einblick in die Erfahrungen und Bedürfnisse von Inhaftierten österreichischer Justizvollzugsanstalten hinsichtlich der aktuellen und zukünftigen Nutzung von digitalen Geräten zu erhalten. Zusätzlich wurde in den Gesprächen mit ehemalig langzeitinhaftierten Haftentlassenen erhoben, ob und inwiefern diese durch mangelnde digitale Kompetenzen Probleme bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft hatten und in welcher Weise ihnen ein ausgeweiteter Zugang zu digitalen Geräten in Haft bei der Reintegration hätte helfen können. Insgesamt wurden im Rahmen der Bedarfserhebung 35 qualitative Interviews in drei österreichischen Anstalten und vier Interviews mit Haftentlassenen geführt.
Für die Erhebung wurde die Methode des problemzentrierten Interviews nach Andreas Witzel (2000) gewählt. Bei dieser induktiv-deduktiv ausgerichteten Methode soll zum einen bestehendes Vorwissen strukturiert in die Erhebung einfließen, zum anderen ausreichend Offenheit gegenüber dem zu untersuchenden Phänomen bestehen bleiben. Zu Beginn der Gespräche fragten wir die Inhaftierten nach der Situation in Haft, wie sie den beschränkten Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien erleben und welche digitalen Anwendungen sie dabei besonders vermissen. Daran anschließend wurde gemeinsam eine Vision für eine bedarfsorientierte Digitalisierung des Strafvollzugs entwickelt, in der die Befragten die Möglichkeit hatten, ihre Wünsche, Präferenzen und Sorgen bezüglich des Zugangs zu digitalen Geräten zu artikulieren und kreativ eigene Lösungen einzubringen. Abschließend wurden die Inhaftierten gezielt zu technisch realisierbaren Funktionen digitaler Anwendungen befragt, um die zuvor entwickelten Visionen möglichst realitätsnah für die Entwicklung des geplanten Modellprojekts zu konkretisieren. Mit jenen Interviewpartnern, die bereits aus der Haft entlassen waren, sprachen wir sowohl über ihre Erfahrungen während der Inhaftierung als auch über die Herausforderungen, die sich nach der Entlassung für sie gestellt hatten.
Auch wenn aufgrund des qualitativen Forschungsdesigns kein Anspruch auf Repräsentativität besteht, sollte das Sample die Vielfalt der im Untersuchungsfeld vorhandenen Konstellationen erfassen (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, 127) und die Heterogenität des österreichischen Strafvollzugs anhand zentraler Variablen wie Alter, Geschlecht, Haftdauer und dem Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien abbilden. So wurden im Zuge der Bedarfserhebung Frauen und Männer, Personen unterschiedlichsten Alters von 15 bis 80 Jahren, mit unterschiedlichen Haftdauern von Untersuchungshaft bis Langzeitvollzug inklusive Personen, die sich im Maßnahmenvollzug befinden, befragt. In Bezug auf den Zugang zu digitalen Geräten wurden Personen berücksichtigt, die über einen persönlichen Computer im Haftraum verfügen; Personen, die Zugang zu den Computerräumen haben; und Personen, die gar keinen Zugang zu digitalen Geräten haben.
Die Gespräche dauerten im Durchschnitt zwischen 20 und 40 Minuten und wurden anonym sowie ohne die Anwesenheit vom Justizwachepersonal[5] geführt. Je nach Haftanstalt meldeten sich die befragten Personen aus Eigeninitiative für das Gespräch (Aushang auf der Abteilung) oder wurden im Vorfeld von der jeweiligen Anstalt gefragt, ob sie Interesse an einer Teilnahme hätten. Vor Beginn des Interviews erhielten die Befragten ein Informationsblatt. Sie wurden zusätzlich mündlich über die Ziele des Projekts informiert und darüber in Kenntnis gesetzt, dass das Gespräch freiwillig sei und von ihnen jederzeit beendet werden könne. Die Gespräche wurden aufgezeichnet und anschließend transkribiert.
Die Transkripte wurden mit Hilfe des qualitativen Auswertungsprogramms MAXQDA systematisch codiert und analysiert. Im Rahmen des inhaltsanalytischen Auswertungsprozesses (Kuckartz & Rädiker, 2022) wurden zunächst deduktiv Kategorien gebildet, um diese in einem offenen Kodierungsprozess mit induktiv generierten Sub-Kategorien zu erweitern. Die Oberkategorien orientierten sich dabei an der Forschungsfrage sowie dem Interviewleitfaden und umfassten die bisherigen Erfahrungen der Inhaftierten, ihre Einschätzung zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung, ihre Beurteilung der jeweiligen digitalen Anwendungen sowie Vorschläge zur praktischen Implementierung. Die Unterkategorien wurden aus dem empirischen Material selbst generiert und mit dem deduktiven Kategoriensystem in Beziehung gesetzt, d. h. ergänzt oder subsumiert. Durch dieses Vorgehen konnten die Interviews hinsichtlich des Forschungsinteresses systematisch ausgewertet und Einschätzungen zu den Themenbereichen in einem hierarchischen Kategoriensystem zusammengefasst werden, ohne dabei an analytischer Tiefe zu verlieren.
2.2 Personalbefragung
Die Einstellungen der Strafvollzugsbediensteten wurden mit einem standardisierten Fragebogen erhoben. In einem Online-Survey wurden die Chancen und Risiken der Digitalisierung aus Sicht des Personals mittels Likert-Skala[6] ermittelt sowie das Potenzial der Digitalisierung in unterschiedlichen Bereichen abgefragt. Diese Bereiche (z. B. Bildung, Entlassungsmanagement, Unterhaltung) und digitalen Anwendungen (z. B. digitaler Einkauf, Kommunikation, Anfragen und Beschwerden) orientierten sich dabei an dem, was technisch aktuell bereits möglich ist und von den meisten Anbietern digitaler Geräte für Justizvollzugsanstalten bereitgestellt wird.
Die Einladung zur Befragung erfolgte über die Anstaltsleitungen, denen ein Link zum Online-Survey und ein Begleitschreiben zugesandt wurde, mit der Bitte, dies allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ihrem Haus zukommen zu lassen. Das erste Anschreiben kam vom Bundesministerium für Justiz, das zweite vom Forschungsinstitut zwei Wochen später. Von den 990 Personen, die auf den Link geklickt hatten, füllten 603 den Fragebogen vollständig aus. Bei rund 4.000 Beschäftigen im Strafvollzug entsprechen rund 600 Fragebögen einer Response Rate von 15 Prozent.[7] Die Auswertung erfolgte mittels des Statistik-Programms SPSS.
Knapp drei Viertel der Befragten waren Angehörige der Justizwache[8], ein Fünftel gehörte den Fachdiensten an, auch administratives und medizinisches Personal nahm an der Umfrage teil. Die sogenannten Betreuungs- und Fachdienste bestehen aus psychologischem, ärztlichem, pädagogischem und sozialem Dienst und beschäftigen (Stand 2020) etwa zehn Prozent des österreichischen Vollzugspersonals (siehe Bundesministerium für Justiz, 2020).[9] Die Befragten waren zwischen 19 und 63 Jahre, im Schnitt 43 Jahre alt, zu knapp zwei Drittel Männer, ein gutes Drittel Frauen. 47 Prozent der Antworten kamen aus gerichtlichen Gefangenenhäusern[10], 45 Prozent aus Strafvollzugsanstalten, sechs Prozent aus forensisch-therapeutischen Zentren (ehemals Sonderanstalten für den Maßnahmenvollzug).
2.3 Expertenbefragung
Ziel der Expertengespräche war es, einen breiten Einblick in die Chancen und Risiken der Digitalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven zu erhalten, um diese für die Planung und Implementierung des Modellprojekts nutzbar zu machen. Insgesamt wurden 15 Interviews mit im österreichischen Strafvollzug arbeitenden Expertinnen und Experten und (inter)nationalen Fachleuten geführt. Die Expertise der Interviewpartner umfasste die Bereiche Anstaltsleitung, Vollzugsleitung, IT-Leitbedienung, Fachdienste, Ausbildung, digitales Lernen, internationale Erfahrungswerte sowie rechtliche Expertise zu Datenschutzfragen. Für die jeweiligen Gespräche wurden gesondert Interviewleitfäden erstellt, die je nach fachlichem Schwerpunkt thematisch variierten, in der Gesamtheit aber Chancen, Risiken und praktische Hinweise der bedarfsorientierten Digitalisierung aus der jeweiligen Fachperspektive umfassten. Vor den Gesprächen wurden die Experten über das Projekt informiert und erklärten sich damit einverstanden, anonym an dem Interview teilzunehmen. Die Gespräche wurden teilweise aufgezeichnet und transkribiert oder mittels Gesprächsprotokoll erfasst und dauerten im Durchschnitt zwischen 30 und 60 Minuten.
3 Ergebnisse
3.1 Die Sicht der Inhaftierten
Die 39 Interviewten, die bis auf vier Personen alle noch inhaftiert waren, befanden sich in unterschiedlichen Haftformen (Untersuchungs-, Strafhaft oder Maßnahmenvollzug) und hatten in ihrem Haftalltag unterschiedlich viel mit digitalen Tools zu tun: Manchen war es möglich, die ELIS[11]-Schulungsräume zu nutzen, manche hatten ein eigenes Gerät im Haftraum, die meisten hatten allerdings keinen Zugang zu einem (legalen) digitalen Gerät in Haft. Wie erwähnt handelte es sich um ein sehr heterogenes Sample: Männer und Frauen im Alter von 15 bis 80 Jahren, mit und ohne österreichische Staatsbürgerschaft und mit sehr unterschiedlichen digitalen Kompetenzen.
Wir interessierten uns zunächst für die Erfahrungen der Inhaftierung bzw. des Lebens in Haft ohne digitale Geräte. Bei der Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt werden den Neuzugängen ihre Smartphones abgenommen und damit auch: ihre Fotos, ihre Musik, ihre Adressen, ihr Kalender, ihre Notizen, ihre E-Mails, ihr Zugang zum Internet – ihr »halbes Leben«, wie es eine interviewte Person formulierte, weil »wenn das einfach weg ist, da fehlt doch ein Teil von dir«. Für einige verstärkte das Fehlen des Smartphones gerade in der Anfangszeit das Gefühl »ausgeschlossen aus der Welt zu sein«. Während manche Personen davon berichteten, dass ihnen die Beschäftigung mit dem Smartphone aus Gewohnheit fehlte, löste der Entzug der digitalen Geräte bei anderen geradezu »Panik« und »Schlaflosigkeit« oder im Falle eines Untersuchungshäftlings »Existenzängste« aus. Viele meinten, man würde sich mit der Zeit daran gewöhnen, ohne Smartphone leben zu müssen. Nur ganz vereinzelt wurde der Verlust des Zugangs zum Smartphone und zum Internet auch als eine Art Befreiung von den süchtig machenden Geräten dargestellt.
Aus Sicht der »digital rehabilitation«-Forschung geht es vor allem darum, dass Inhaftierte die Zeit in Haft dafür nutzen, digitale Kompetenzen aufzubauen, Bildungsinhalte zu konsumieren, ihr Leben selbstständiger zu organisieren und an der Entlassungsvorbereitung mitzuwirken. All diese Punkte wurden von den Inhaftierten auch selbst angesprochen. Für viele bestand ein großes Bedürfnis nach sinnvoller Beschäftigung und nach Ausweitung der eigenen Handlungsfähigkeit – dies reichte von der Möglichkeit, an internen Vollzugsprozessen zu partizipieren und diese transparent nachzuvollziehen, über die Option, selbstständig auf Bildungsinhalte (wie z. B. in ELIS) zugreifen zu können und digitale Kompetenzen zu stärken, bis zum Zugang zu Informationen unterschiedlichster Art, z. B. Rechtsinformationen oder Informationen bezüglich der Haftentlassung. Man würde sich nämlich gerne mehr in die Entlassungsvorbereitung einbringen, weil die Fachdienste damit überlastet seien und man oft lange auf Termine warte. Dies umfasste etwa die selbstständige Job- und Wohnungssuche, die Kontaktaufnahme mit Betreuungseinrichtungen oder die Möglichkeit der Kommunikation mit der Bewährungshilfe. Auch der Wunsch nach vermehrter Kommunikation mit Familie und Freunden, unabhängig von den teuren und beschränkten Telefonanlagen in den Anstalten, wurde häufig geäußert. Gerade inhaftierte Mütter und Väter hatten ein besonders starkes Bedürfnis, mit ihren Kindern im Austausch zu bleiben bzw. von ihren Partnerinnen und Partnern alle wichtigen Informationen über ihre Familie zu erhalten. Ein Gesprächspartner meinte in diesem Zusammenhang, dass der Hauptgrund für die weit verbreiteten illegalen Smartphones in Haft das Bedürfnis sei, mit der Familie im Austausch zu bleiben, aber zu wenige legale Möglichkeiten dafür bestünden.
Personen, die nach langen Haftstrafen entlassen worden waren, schilderten, wie die fortschreitende Digitalisierung »draußen« nach der Entlassung zum Problem wurde – eine Überforderung mit der digitalen Welt, die auch in anderen Studien beschrieben wurde (Jewkes & Reisdorf, 2016).[12] Eine Interviewpartnerin schilderte beispielsweise, dass sie Schwierigkeiten hätte, ganz einfache Anwendungen wie Schreibprogramme zu verwenden. Sie teilte das »unter uns« mit, denn es war für sie schambesetzt, mit solchen grundlegenden Programmen nicht zurechtzukommen. Vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in der Bewältigung des Alltags sahen sich einige Personen benachteiligt bzw. herausgefordert, weil sie nicht über genügend digitale Kompetenzen verfügten. Ein Langzeitinhaftierter beschrieb seine Hilflosigkeit:
Wo ich inhaftiert worden bin, hat es das normale Tastenhandy gegeben. Ich bin dann entlassen worden, schon bei den Ausgängen, da hat es dann das Smartphone gegeben. Und ich kann mich erinnern, es hat geläutet, ich hab nicht einmal abheben können. Also ganz arg war das.
In den Interviews wurde auch danach gefragt, welche Bereiche aus Sicht der Inhaftierten in den Justizvollzugsanstalten sinnvollerweise digitalisiert werden sollten. Von der Digitalisierung des Ansuchen- und Beschwerdewesens versprach man sich mehrheitlich positive Auswirkungen, etwa ein Ende der »Zettelwirtschaft«, mehr Transparenz über den Status eines Ansuchens bzw. einer Beschwerde und Arbeitserleichterungen für das Justizwachepersonal, dem man dann nicht mehr »auf die Nerven gehen« müsste. Außerdem erhoffte man sich datenschutzrechtliche Verbesserungen, wenn bestimmte Informationen digital übermittelt würden. Auch das Abrufen des eigenen Kontostands oder von Terminen wurde als wünschenswert erachtet. Kritischer wurde die Digitalisierung des anstaltsinternen Einkaufs[13] gesehen, da dieser für einige eine der wenigen Abwechslungen im Haftalltag darstellen, ein Gefühl von Normalität vermitteln und Möglichkeiten zur sozialen Interaktion bieten würde. Immer wieder wurde betont, dass die Digitalisierung nicht dazu führen dürfte, dass »analoge« Interaktionen reduziert würden. Die Nutzung von Geräten und Inhalten im Haftraum zur Unterhaltung wurde – erwartungsgemäß – befürwortet, allerdings nicht mit dem gleichen Nachdruck wie bei Informations- und Bildungsinhalten. Trotz zahlreicher Fernsehkanäle sind viele mit dem Angebot unzufrieden – es sei »jeden Tag dasselbe« und häufig würden Zellengenossen mit anderen Vorlieben die Auswahl des Fernsehprogramms dominieren. Besonders oft wurde der Wunsch geäußert, auch zur psychischen Entlastung die eigene Musik hören zu können.
In den Gesprächen mit den Inhaftierten zeigte sich, dass sie sich durchaus einiger Risiken der Digitalisierung im Strafvollzug bewusst sind. Dies betrifft zum einen den Aufwand und die Kosten für den Strafvollzug, die durch die Ausstattung mit digitalen Geräten, den Betreuungsaufwand, die nötigen Wartungsarbeiten etc. entstehen. Zum anderen geht es dabei um Risiken, die von Inhaftierten selbst ausgehen, wie z. B. die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung von Geräten. In den Gesprächen wurde zudem das Problem digitaler Ungleichheit in Haft thematisiert, etwa wenn der Zugang zu Geräten und Diensten über finanzielle Beiträge geregelt werden würde und finanziell schwächer gestellte Inhaftierte damit nicht die Möglichkeit erhielten, digitale Dienste voll zu nutzen. Einige Befragte betonten auch, dass es aufgrund der sprachlichen, kognitiven und digitalen Fähigkeiten der Inhaftierten viel Unterstützung bei der Nutzung der digitalen Geräte brauchen würde. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass vor allem ältere Personen bei der Bedienung digitaler Geräte Probleme haben könnten. Gleichzeitig waren unter den befragten Personen auch ältere vertreten, die über digitale Kompetenzen verfügten und im Umgang mit digitalen Geräten routiniert waren.
3.2 Die Perspektive des Strafvollzugspersonals
Die folgenden Ausführungen zu den Einstellungen des Strafvollzugspersonals in Bezug auf eine Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte und die Einschätzung der Risiken, aber auch der akzeptierten Bereiche für eine Ausweitung, basieren auf 603 ausgefüllten Online-Fragebögen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass es unter dem Strafvollzugspersonal durchaus Zustimmung zu einer Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte gibt, zugleich jedoch ein hohes Risikobewusstsein besteht. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Befragung für ausgewählte Items sowie die großen Unterschiede zwischen den zwei größten Berufsgruppen im Gefängnis, der Justizwache und den Fachdiensten.
Aus Tabelle 1 wird mit Blick auf alle Befragten ersichtlich, dass durchaus Chancen in der Ausweitung digitaler Zugänge für Inhaftierte gesehen werden, insbesondere im Bereich der Entlassungsvorbereitung. Die Hälfte der Befragten verspricht sich davon auch Arbeitserleichterungen. Dabei sind Angehörige der Justizwache deutlich skeptischer als andere Befragte: Rund ein Drittel sieht keine Chancen in der Ausweitung der Digitalisierung für die Inhaftierten, nicht einmal im Bereich der Entlassungsvorbereitung. Das bedeutet aber auch, dass rund zwei Drittel einer Digitalisierung zumindest teilweise, d. h. in gewissem Ausmaß, für bestimmte Inhaftierte oder in bestimmten Bereichen durchaus zustimmen. Die Fachdienste stimmen einer möglichen Ausweitung in viel höherem Ausmaß zu, kaum jemand von ihnen positioniert sich hier dagegen und sieht keine Chancen.
Chancen und Risiken einer Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte
|
|
Alle Befragten (n = 599–602) |
Berufsgruppe: Justizwache (n = 417–422) |
Berufsgruppe: Fachdienste (n = 97–99) |
Chancen |
||||
Die Digitalisierung des Strafvollzugs ist eine sinnvolle und notwendige Maßnahme, von der auch Inhaftierte profitieren sollten.* |
stimme zu** |
46 % |
35 % |
92 % |
teils – teils |
28 % |
33 % |
7 % |
|
stimme nicht zu |
27 % |
33 % |
1 % |
|
Inhaftierte sollten Zugang zu digitalen Geräten erhalten, um digitale Kompetenzen aufzubauen und sich selbstständiger auf die Haftentlassung vorzubereiten. |
stimme zu |
41 % |
30 % |
86 % |
teils – teils |
28 % |
31 % |
11 % |
|
stimme nicht zu |
31 % |
39 % |
3 % |
|
Es wäre sinnvoll, Inhaftierte mit digitalen Geräten stärker in die Vorbereitung der Haftentlassung wie z. B. Wohnungs- und Arbeitssuche einzubinden. |
stimme zu |
56 % |
46 % |
92 % |
teils – teils |
21 % |
25 % |
7 % |
|
stimme nicht zu |
24 % |
29 % |
1 % |
|
Eine gut überlegte Ausweitung digitaler Geräte für Inhaftierte könnte die Arbeit für das Justizpersonal erleichtern. |
stimme zu |
50 % |
41 % |
88 % |
teils – teils |
24 % |
26 % |
11 % |
|
stimme nicht zu |
26 % |
32 % |
1 % |
|
Risiken |
||||
Bei nur einem Gerät im Haftraum mit mehreren Inhaftierten wird es zu Konflikten kommen. |
stimme zu |
81 % |
84 % |
66 % |
teils – teils |
15 % |
12 % |
28 % |
|
stimme nicht zu |
5 % |
4 % |
6 % |
|
Die Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten lädt zum Missbrauch ein und stellt ein Sicherheitsrisiko dar. |
stimme zu |
76 % |
84 % |
47 % |
teils – teils |
17 % |
12 % |
36 % |
|
stimme nicht zu |
6 % |
4 % |
16 % |
|
Bei der Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten wird es häufig zu Beschädigungen durch Inhaftierte kommen. |
stimme zu |
75 % |
81 % |
48 % |
teils – teils |
18 % |
15 % |
32 % |
|
stimme nicht zu |
7 % |
5 % |
19 % |
|
Viele Inhaftierte werden für die Benutzung der Geräte viel Unterstützung und intensive Betreuung brauchen. |
stimme zu |
66 % |
72 % |
42 % |
teils – teils |
25 % |
21 % |
42 % |
|
stimme nicht zu |
9 % |
8 % |
15 % |
Quelle: Eigene Online-Erhebung. Die Antworten zu den Items addieren sich auf 100 %, minimale Abweichungen ergeben sich durch Rundungen der Kommastellen.
* Die Items werden in der tabellarischen Darstellung leicht verkürzt wiedergegeben.
** »Stimme zu« umfasst die Antworten »stimme sehr zu« und »stimme eher zu«. »Stimme nicht zu« beinhaltet »stimme eher nicht zu« und »stimme gar nicht zu«.
Ein Blick auf ausgewählte Items, mit denen die Risiken der Digitalisierung abgefragt wurden, zeigt viel Skepsis und ein hohes Risikobewusstsein, vor allem aufseiten der Justizwache. Auch viele von denen, die der Digitalisierung grundsätzlich positiv gegenüberstehen, befürchten, dass es im Falle einer Ausweitung zu Konflikten kommt und dass Geräte beschädigt oder missbräuchlich verwendet werden.
Jene, die den abgefragten Statements »teils-teils« zustimmen, befürworteten eine Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für bestimmte Inhaftierte bzw. in bestimmten Bereichen, abhängig von den Rahmenbedingungen. Tabelle 2 fokussiert daher darauf, wie viel Potenzial laut den Befragten in unterschiedlichen Bereichen besteht, wiederum differenziert nach den beiden zentralen Berufsgruppen im Strafvollzug.
Wie Tabelle 2 zeigt, sehen die Befragten insgesamt am meisten Potenzial beim Einsatz digitaler Tools in der Entlassungsvorbereitung und im Bereich Bildung. Aber auch im Bereich der Kommunikation mit Angehörigen sehen drei Viertel der Befragten Möglichkeiten zur Ausweitung. Weniger Potenzial attestieren sie der Digitalisierung des Ansuchen- und Beschwerdewesens sowie dem digitalen Zugriff auf persönliche Dokumente durch Inhaftierte. Ähnliche Vorbehalte bestehen auch hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeiten, durch die Digitalisierung die Arbeit des Justizpersonals zu erleichtern.
Wo sehen Sie die größten Chancen bei einer Ausweitung des Zugangs von Inhaftierten zu digitalen Geräten?
|
Einschätzung Potenzial* |
alle Befragten (n = 595–601) |
Berufsgruppe: Justiz-wache (n = 415–422) |
Berufsgruppe: Fachdienste (n = 98–99) |
Entlassungsvorbereitung** |
J |
81 % |
76 % |
98 % |
N |
19 % |
24 % |
2 % |
|
Erlernen digitaler Kompetenzen |
J |
75 % |
69 % |
97 % |
N |
25 % |
31 % |
3 % |
|
Erweiterter Zugriff auf Bildungsinhalte |
J |
78 % |
73 % |
99 % |
N |
22 % |
27 % |
1 % |
|
Mehr legale Kommunikationsmöglichkeiten |
J |
75 % |
70 % |
95 % |
N |
25 % |
30 % |
5 % |
|
Mehr Autonomie für Inhaftierte |
J |
64 % |
55 % |
99 % |
N |
36 % |
45 % |
1 % |
|
Vereinfachung Ansuchen/Beschwerde |
J |
62 % |
54 % |
90 % |
N |
38 % |
46 % |
10 % |
|
Zugriff auf persönl. Infos/Dokumente |
J |
59 % |
50 % |
91 % |
N |
41 % |
50 % |
9 % |
|
Arbeitserleichterung für Personal |
J |
59 % |
53 % |
85 % |
N |
41 % |
47 % |
15 % |
Quelle: Eigene Online-Erhebung.
* »J« beutetet, dass die Person angegeben hat, im abgefragten Bereich großes oder zumindest teilweise Potenzial für eine Ausweitung zu sehen. »N« bedeutet, dass die Person angegeben hat, im abgefragten Bereich kaum oder kein Potenzial für eine Ausweitung zu sehen.
** für die tabellarische Darstellung teilweise etwas verkürzt wiedergegeben.
Die Tabelle zeigt wieder die Unterschiede zwischen Justizwache und Fachdiensten. Letztere sind in hohem Ausmaß für eine Ausweitung der digitalen Zugänge für Inhaftierte. Aber auch gut drei Viertel der befragten Justizwachebediensteten sehen Potenzial für den Einsatz digitaler Geräte bei der Entlassungsvorbereitung und immerhin 70 Prozent bei der legalen Kommunikation mit Familie und Freunden. Fast alle Befragten aus den Fachdiensten (99 Prozent) attestieren digitalen Geräten zudem Potenzial, wenn es darum geht, die Autonomie der Inhaftierten zu erweitern.
Trotz teilweise hoher Zustimmungswerte zur Ausweitung der Digitalisierung für Inhaftierte in bestimmten Bereichen besteht, wie erwähnt, ein hohes Risikobewusstsein. Die meisten Vorbehalte wurden im Unterhaltungsbereich (Gaming, Streaming) und bei Online-Bestellungen sowie bei der Digitalisierung bisher analoger Ansuchen und Beschwerden[14] bzw. der Terminverwaltung geäußert. Auch die hohen Kosten für den Strafvollzug, die eine solche Ausweitung mit sich bringen würde, wurden von der Mehrheit als (eher) großes Problem gesehen.
Zwischen gerichtlichen Gefangenenhäusern und Strafvollzugsanstalten bestanden keine signifikanten Unterschiede, auch die Digitalisierung in forensisch-therapeutischen Zentren wurde nicht signifikant anders bewertet. Die Unterschiede zwischen Männer- und Frauenstrafvollzug waren ebenfalls mehrheitlich nicht signifikant.[15]
3.3 Der Blick der Experten
In den 15 Interviews mit Expertinnen und Experten des österreichischen Strafvollzugs und internationalen Fachleuten dominierte eine Sichtweise, die als risikobewusste Befürwortung der Digitalisierung des Strafvollzugs bezeichnet werden kann. Das bedeutet, dass sich die Experten klar für die Ausweitung der Digitalisierung der Insassenbereiche aussprachen, jedoch nur eine Form der Digitalisierung für erfolgversprechend hielten, die auch die Risiken einer solchen Ausweitung ausreichend berücksichtigt. Sie betonten die resozialisierenden Potenziale der Digitalisierung, etwa durch eine Ausweitung der Zugriffsmöglichkeiten und Inhalte der Lernplattform ELIS,[16] aber auch die potenziell positiven Auswirkungen der Digitalisierung auf das System Strafvollzug, die Angleichung des Haftalltags an die Außenwelt im Sinne einer »Normalisierung« sowie die Verbesserung der Haftbedingungen und die Stärkung der Rechte von Inhaftierten durch digitale Innovation.
Mehrfach wurde kritisiert, dass derzeit in Haft keine digitalen Kompetenzen aufgebaut würden, und daher gefordert, dass dies für die Entlassungsvorbereitung eine größere Rolle spielen sollte. In diesem Zusammenhang sprachen sich mehrere Fachleute auch dafür aus, Inhaftierte stärker in den Prozess des Übergangsmanagements miteinzubeziehen, also im Entlassungsvollzug selbstständig(er) nach einer Arbeit oder Wohnung zu suchen, Kontakt mit Ämtern und unterstützenden Organisationen aufzunehmen oder mit der Bewährungshilfe zu kommunizieren – Vorschläge, die auch von den Inhaftierten selbst in der Befragung geäußert wurden. Die für die Resozialisierung so bedeutsamen positiven sozialen Beziehungen zum familiären Umfeld sollten durch digitale Geräte ebenfalls unterstützt werden, hier sei jedoch auch der Überwachungsaufwand zu berücksichtigen.
Neben den resozialisierenden Effekten wurden auch grund- und menschenrechtliche Überlegungen angeführt. Genannt wurden hier die potenzielle Erhöhung der Privatsphäre durch digitale Prozesse und klar geregelte Zugriffsrechte, der Abbau von unverhältnismäßigen Deprivationseffekten durch den verwehrten Zugang zu digitalen Geräten, eine Erhöhung der Nachvollziehbarkeit und Transparenz von haftinternen Prozessen sowie die Ermöglichung des Zugangs zu rechtlichen Informationen für Inhaftierte. In der Gesamtheit würden bedarfsorientierte Digitalisierungsmaßnahmen den Strafvollzug potenziell humaner machen und zu einer menschenwürdigeren Unterbringung beitragen, so der Tenor der Expertengespräche.
Die Experten nannten auch mögliche positive Effekte für das Strafvollzugspersonal, vor allem durch die Digitalisierung von vollzugsinternen Prozessen und einer damit verbundenen Entbürokratisierung, angefangen beim Ansuchen- und Beschwerdewesen, über den digitalen Einkauf bis hin zur selbstständigen Einschreibung in Kurse oder das Ausleihen von E-Books. Auch mögliche Dolmetschfunktionen und die damit verbundene Vereinfachung der Kommunikation zwischen Personal und Inhaftierten wurden als großes Potenzial genannt.
Die Risiken, die es aus Sicht der Fachleute zu berücksichtigen gelte, betrafen die strukturellen und baulichen Rahmenbedingungen, den personellen und finanziellen Ressourcenaufwand einer solchen Digitalisierungsoffensive sowie administrative und organisatorische Herausforderungen. Nicht nur am Anfang, sondern auch im laufenden Betrieb wäre mit viel Unterstützungs- und Überwachungsbedarf zu rechnen. Wichtig sei, dass es bei Supportanfragen keine langen Wartezeiten gebe, um Frustration sowohl bei den Inhaftierten als auch beim Personal gering zu halten.
4 Zusammenschau der Befragungen und Folgen für die Implementierung
Die Zusammenschau der Befragungen zeigt, dass die Chancen und Risiken der Digitalisierung aus den unterschiedlichen Perspektiven nicht völlig verschieden wahrgenommen werden. So besteht auch bei den Inhaftierten durchaus ein Bewusstsein für die mit einer Ausweitung der Digitalisierung verbundenen Probleme, etwa den Kosten für den Strafvollzug, dem Missbrauch der Geräte durch Gefangene oder dem möglichen Verlust analoger sozialer Interaktionen. Der Bedarf nach digitalen Zugängen wird nicht primär in Unterhaltsangeboten gesehen, sondern es wird vielmehr mit dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, dem Wunsch, die Zeit in Haft sinnvoll zu nützen, etwa für Weiterbildung, oder mit dem Wunsch nach Vorbereitung auf die Zeit nach der Haft argumentiert.
Die Befragung des Strafvollzugspersonals ergibt in Summe mehr Zustimmung, als wir erwartet haben. Gleichzeitig zeigt sich, dass beim Personal von keiner einheitlichen Interessenlage ausgegangen werden kann – insbesondere hinsichtlich der unterschiedlichen Einschätzungen von Justizwache und Fachdiensten. Der Unterschied zwischen den beiden Berufsgruppen spiegelt in unseren Augen idealtypisch die Ziele des Strafvollzugs – Sicherung bzw. Sicherheit versus Resozialisierung – wider. Die Fachdienste als Betreuungsdienste sehen sich fast ausschließlich den resozialisierenden Aufgaben verpflichtet und versprechen sich von der Digitalisierung viele Chancen in diesem Bereich. Bei der Justizwache steht zwar die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Vordergrund, viele sehen in der Ausweitung digitaler Technologien für Inhaftierte dennoch einiges Potenzial. Das betrifft vor allem die Bereiche Bildung, Entlassungsvorbereitung, Aufbau digitaler Kompetenzen und Kommunikation mit Angehörigen, in denen der Digitalisierung von der Mehrheit der befragten Justizwachebediensteten zumindest teilweise Potenzial attestiert wird. Das sind auch jene Bereiche, die von den Expertinnen und Experten sowie den Inhaftierten selbst als wichtig erachtet und auch in der Forschung zu »digital rehabilitation« als Schlüsselbereiche genannt werden (McDougall et al., 2017; McDougall & Pearson, 2020).
Zugleich schätzen die befragten Justizwachebediensteten aber eben auch die Risiken und Probleme durch möglichen Missbrauch und Beschädigungen als sehr groß ein. Für die Implementierung bedeutet das, dass sicherheitsrelevante Aspekte jedenfalls ausreichend berücksichtigt werden müssen und an das Personal transparent zu kommunizieren ist, welche Sicherheitsvorkehrungen in den Systemen eingebaut sind und wie Risiken minimiert werden sollen. Bei den am Markt befindlichen Plattformen mit speziell gehärteten Geräten und abgesicherten Betriebssystemen kann der Zugang zum Internet entweder ganz ausgeschlossen oder stark reguliert und überwacht bzw. nur für bestimmte Gruppen oder Zwecke ermöglicht werden. Es ist daher sinnvoll, den Zugang zu digitalen Geräten bzw. Anwendungen stufenweise einzuführen, um das System Strafvollzug nicht zu überfordern und die Technologie auch hierzulande in einem Pilotprojekt zu erproben. Während die Digitalisierung der Kommunikation in manchen Bereichen Vereinfachung bringen kann – wenn etwa E-Mails automatisch übersetzt und nach Begriffen durchsucht werden können –, kann die Ausweitung an Kommunikationsmöglichkeiten in anderen Bereichen zu einer Zunahme an Überwachungs- und Unterstützungsbedarf führen und wichtige soziale Interaktionsformen reduzieren. Die unterschiedlichen Bedarfslagen zu berücksichtigen und in der schrittweisen Implementierung auf mögliche negative Effekte zu achten und reagieren zu können, ist auch ganz im Sinne der Experten und der von ihnen vertretenen risikobewussten Befürwortung der Digitalisierung.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen die Meinungen der befragten Gruppen deutlich auseinandergehen. Die Inhaftierten wollen z. B. den wöchentlichen Einkauf in der Anstalt mehrheitlich nicht gegen ein anstaltsinternes digitales Bestellsystem eintauschen. Im Gegensatz dazu spricht sich bei der Personalbefragung nur ein Viertel gegen eine Digitalisierung des Einkaufs in der Anstalt aus und auch die Experten plädieren aus Effizienzgründen für diese. Im Bereich der Unterhaltung gibt es ebenfalls erwartbare Unterschiede, wobei die Befragten auch hier durchaus differenzieren. Das Hören der eigenen Musik, das Ausleihen von E-Books, die individuelle Nutzung von Unterhaltungsinhalten mit Kopfhörern und natürlich auch das Streamen von Serien und Filmen (auch mit Kostenbeitrag) sowie Computerspiele würden die langen Einschlusszeiten aus Sicht der Inhaftierten erträglicher machen. Die Online-Befragung des Personals ergibt hingegen eine sehr kritische Haltung gegenüber Gaming[17] und Streaming und mehr Zustimmung bei E-Books und Musik.
Besonders interessant sind die unterschiedlichen Einschätzungen des Ansuchen- und Beschwerdewesens. Die Expertinnen und Experten sehen hier großes Potenzial für weniger Bürokratie und einen Ansatz für Modernisierung. Derzeit stellen die Inhaftierten ihre Ansuchen mittels eines Formulars, den sogenannten »Elferzetteln«; andere Ansuchen, etwa für einen Termin beim Arzt oder bei der Psychologin, auf entsprechenden anderen, teilweise farbigen Formularen. Die meisten befragten Inhaftierten würden eine Digitalisierung dieser Ansuchen sehr begrüßen, denn derzeit sei das eine »Zettelwirtschaft«. Wenn die Ansuchen digital eingegeben werden könnten, etwa über ein Kiosk-System oder digitale Geräte in den Hafträumen, »brauchst du (…) die Beamten nicht mehr sekkieren[18]«, wie es eine interviewte Person formulierte. Man verspricht sich von der Digitalisierung, dass der Ablauf transparenter wäre – man wüsste dann, ob ein Ansuchen bereits in Bearbeitung, bewilligt oder abgelehnt und nicht etwa liegengeblieben oder gar verloren gegangen sei. Die Inhaftierten erwarten sich von der Digitalisierung auch mehr Datenschutz, denn derzeit seien gewisse Daten nur dadurch geschützt, dass die Zettel, auf denen z. B. um einen Arzttermin oder einen Termin bei der Psychologin angesucht wird, in der Mitte zusammengefaltet werden, erzählt ein Interviewpartner. Einige Inhaftierte kritisieren, dass Personen oftmals Informationen über einen erhalten würden, obwohl diese eigentlich privat wären. Ihrer Meinung nach könnte die Digitalisierung dazu beitragen, sensible Informationen nur an jene Personen zu übermitteln, die für die Bearbeitung dezidiert zuständig seien.
Wie erwähnt[19] sind die Justizwachebediensteten sehr skeptisch, wenn es um die Digitalisierung des Ansuchen- und Beschwerdewesens geht. Das ist insofern überraschend, als derzeit diese »Elferzettel« laufend ausgegeben, eingesammelt, sortiert, Handschriften entziffert, übersetzt, in den Computer eingetippt oder weitergeleitet werden müssen – Stichwort »Zettelwirtschaft«. Diese Ablehnung hat unterschiedliche Gründe. Aus den offenen Antworten der Personalbefragung geht hervor, dass man durch die Digitalisierung eine Überlastung des Ansuchen- und Beschwerdewesens befürchtet, ein Risiko, das auch in den Gesprächen mit den Experten benannt wurde. Da es ein gesetzliches Recht der Strafgefangenen ist, diese Ansuchen zu stellen, wird der Prozess des Ansuchens derzeit nicht offiziell beschnitten, sondern mancherorts informell eingeschränkt und verlangsamt. In einer der Justizvollzugsanstalten, in der Interviews geführt wurden, erhalten die Inhaftierten in der Regel nur zwei »Elferzettel« pro Woche und können diese nur an einem Tag in der Woche abgeben, wie mehrere Befragte glaubhaft versichern. Mehr Anliegen werden ihnen nicht zugestanden, und nur die Hafterfahrenen unter ihnen wissen, dass man ein solches Formular auch selbst herstellen kann. Die derzeitige »Zettelwirtschaft« verlangsamt die Prozesse, was angesichts der knappen Ressourcen (z. B. Termine bei Fachdiensten) aus der Perspektive des Personals und der Institution durchaus funktional sein kann. Denn es dauert, bis die Formulare ausgegeben, eingesammelt, entziffert, sortiert, den richtigen Stellen zugewiesen etc. sind.
Durch die Digitalisierung des Ansuchen- und Beschwerdewesens würden mehrere verlangsamende Faktoren wegfallen. Es würde zudem bedeuten, dass die gesamte Kommunikation und alle Abläufe und Entscheidungen potenziell transparent und nachvollziehbar wären. Das ist schließlich Teil dessen, was sich die Inhaftierten von der Digitalisierung versprechen. Doch aus Sicht der Insassenverwaltung, die zu wenig Ressourcen hat, um allen Anliegen der Inhaftierten nachzukommen, ist volle Transparenz und Formalisierung wenig wünschenswert. Digitalisierung erleichtert es, Informalität zu detektieren (Büchner, 2018, 340) und bedroht daher informelle, aber für die Institution funktionale Umgangsweisen wie die Ausgabe von nur zwei »Elferzetteln« pro Woche. Berücksichtigt man also die Funktionalität der derzeitigen »Zettelwirtschaft« für das Personal und die Organisation und die Sorge vor einer Überlastung des Systems, lässt sich die geringe Begeisterung der Justizwache für die Digitalisierung des Ansuchen- und Beschwerdewesens besser nachvollziehen.
Das bedeutet nicht, dass deshalb die Digitalisierung dieses Bereichs aufgegeben werden sollte. Legitime Einwände, wie die potenzielle Überlastung durch eine Flut an Anträgen, müssen berücksichtigt werden. Dass die Digitalisierung auch die Tätigkeit des Strafvollzugspersonals nachvollziehbarer macht, mag von diesem als Überwachung empfunden werden, ist aber kein Grund, darauf zu verzichten, im Gegenteil, denn gerade diese Transparenz und Nachvollziehbarkeit könnte wesentliche Grundrechte der Inhaftierten stärken.
5 Die Digitalisierung des Strafvollzugs zwischen Rationalisierungsmythos und Inklusionsversprechen
Mit Digitalisierung wird grundsätzlich die Hoffnung auf Entbürokratisierung und Vereinfachung bzw. Beschleunigung von Prozessabläufen verbunden. Dabei lässt sich häufig ein gewisser »Rationalisierungsmythos der Digitalisierung« beobachten, also ein unhinterfragter Glaube an die Effizienz und Fortschrittlichkeit digitaler Technologien (Büchner, 2018, 333, 344). Doch Digitalisierung ist ein komplexer Prozess und in allen Organisationen mit spezifischen Herausforderungen verbunden, passiert sie doch nie unabhängig von der Organisation, in der sie stattfindet (Büchner, 2018, 332). Umso wichtiger ist es, die Spezifika der Organisation und die involvierten Personengruppen zu berücksichtigen und deren Perspektiven bestmöglich miteinander abzustimmen. Digitalisierung muss vor diesem Hintergrund auch als Prozess verstanden werden, dessen Akzeptanz und Funktionalität nicht zuletzt davon abhängt, ob Abläufe durch die Digitalisierung tatsächlich vereinfacht werden und ob bei auftretenden technischen Problemen zeitnah reagiert wird. Digitalisierungsprozesse umfassen daher nicht nur eine materielle Dimension im Sinne der Installation von technischen Geräten, sondern erfordern auch die Digitalisierung der Abläufe und der Personen, die mit den Geräten interagieren.
Mit der Ausweitung digitaler Zugänge für Inhaftierte sind ganz spezielle Hoffnungen und Erwartungen verbunden. Der Ausschluss aus der Gesellschaft durch die Inhaftierung soll durch die digitale Anbindung abgemildert werden, der Kontakt zur Familie aufrechterhalten, die Vorbereitung auf die Entlassung durch die Aneignung digitaler Skills und durch den Zugang zu Bildungs- und anderen Ressourcen verbessert und damit Inklusionschancen erhöht werden. Im Sinne einer »digital rehabilitation« soll die Nutzung neuer Technologien »a feeling of worth and personal control« fördern und die Transformation »from dependency to self-responsibility« ermöglichen und sich dadurch nicht nur das Verhalten in Haft verbessern, sondern auch die Rückfallwahrscheinlichkeit verringern (McDougall et al., 2017, 478).
Beide Erwartungen – die Rationalisierungshoffnung sowie das Versprechen, durch Digitalisierung Inklusion und Resozialisierung zu fördern – haben ihre Berechtigung. Justizvollzugsanstalten sind dringend gefordert, Digitalisierungsprozesse zu initiieren und der sich stark vergrößernden Kluft zur Außenwelt etwas entgegenzusetzen – schließlich kann der Ausschluss von digitalen Technologien durchaus als neuer »distinctive pain of modern imprisonment« (Johnson, 2005, 257) bezeichnet werden. Wenn die Digitalisierung auf den Strafvollzug trifft, ergeben sich jedoch eine Reihe von besonderen Herausforderungen, die sich in anderen Kontexten so nicht stellen und die es zu beachten gilt. Abgesehen von Sicherheitsfragen, auf die die am Markt befindlichen Systeme zugeschnitten und die daher relativ gut kontrollierbar sind, müssen vor allem die widersprüchlichen Ziele des Strafvollzugs sowie die ungleichen Machtverhältnisse im Gefängnis berücksichtigt werden.
Im Strafvollzug werden unterschiedliche, teils widersprüchliche Ziele verfolgt, wobei zwischen der Funktion der Sicherung, Abschließung[20] und Überwachung auf der einen Seite und der Funktion der Resozialisierung und Wiedereingliederung auf der anderen Seite unterschieden werden kann. Fungiert die Ausweitung des Zugangs zu digitalen Technologien für Inhaftierte nur als Mittel, um den Anschein von Inklusion zu erwecken und wird das Ziel der Resozialisierung nur zur Legitimation verwendet, kann die Digitalisierung die Schmerzen des Freiheitsentzuges kaum lindern. Wenn die Inhaftierten z. B. ihre von der Anstalt vorgegebenen Termine »verwalten« oder aus einem überteuerten, anstaltsinternen Sortiment »online« auswählen dürfen, führt diese Digitalisierung nicht zu mehr echter Autonomie und Inklusion. Wenn hingegen die Teilnahme an den Funktionssystemen der Gesellschaft durch Digitalisierung ausgeweitet wird, indem z. B. die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen und Fernstudien ermöglicht wird, kann zumindest Teilinklusion gelingen (Ziemann, 1998, 46). Bei der Implementierung ist darauf zu achten, welche Ziele des Strafvollzugs mit welchen Digitalisierungsmaßnahmen de facto befördert werden.
Da das Gefängnis ein Ort mit extrem ungleichen Machtverhältnissen ist, besteht Grund zur Annahme, dass die Perspektive der Inhaftierten in Digitalisierungsprozessen weniger Berücksichtigung findet als die Sichtweisen der Beschäftigten oder die Zwecke und Anforderungen der Organisation, selbst wenn »digital rehabilitation« in aller Munde ist.[21] Digitale Abläufe sowie die Überwachung und Nutzung digitaler Geräte durch Inhaftierte müssen durch das Justizpersonal betreut werden. Das Justizpersonal nimmt daher eine »Gatekeeper«-Funktion bei der Einführung neuer Technologien im Strafvollzug ein (Mufarreh et al., 2022). Die zum Teil nachvollziehbaren Bedenken des Personals müssen ausreichend Berücksichtigung finden, ohne dabei grundlegende Rechte der Inhaftierten zu beschneiden und längst fällige Innovation zu verhindern. Widerstände, die etwa nur darauf abzielen, Praktiken im Graubereich beizubehalten, sollten hingegen keine Berücksichtigung finden. Das Recht, Ansuchen zu stellen, sich zu beschweren und über den weiteren Verlauf der Bearbeitung der eigenen Anliegen Bescheid zu wissen, ist in einer Situation der völligen Abhängigkeit wie in Haft von großer Bedeutung und könnte durch digitalisierte Verfahren besser gewährleistet werden. Auf diese Modernisierung sollte also nicht verzichtet werden, nur um eine in Teilen kritisch eingestellte Belegschaft zufriedenzustellen. Legitime Befürchtungen des Personals sollten hingegen aktiv adressiert werden, etwa durch die Einhaltung rigoroser Sicherheitsstandards und die Verwendung von bereits international erprobten Systemen. Auch durch die schrittweise Einführung der unterschiedlichen Funktionen und die Erprobung der digitalen Lösungen im Rahmen eines Modellversuchs kann verhindert werden, dass es zu sinnlosen, riskanten oder auch kostspieligen Neuerungen kommt. Die in diesem Artikel präsentierten Erhebungen und das darauf aufbauende Modellprojekt verstehen sich als erste Schritte zu einer gelungenen Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte.
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- Zusammenhänge der regionalen Verteilung von Tatverdächtigen bei digitalen Sexualdelikten mit kindlichen Opfern mit dem Verteilungsmuster anderer Straftaten und soziostrukturellen Merkmalen
- Angriffe auf Rettungsdienstmitarbeitende und Polizeibedienstete: Eine vergleichende Betrachtung mit präventionsrelevanten Implikationen
- Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung: Vernehmungspraxis aus der Sicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in Deutschland
- Digitalisierung im Gefängnis: Eine multiperspektivische Betrachtung der Ausweitung des Zugangs zu digitalen Geräten für Inhaftierte im österreichischen Straf- und Maßnahmenvollzug
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- Thomas-Gabriel Rüdiger/P. Saskia Bayerl (Hrsg.): Handbuch Cyberkriminologie 1. Theorien und Methoden. Wiesbaden: Springer VS, 2023, 765 Seiten, € 119,99. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35439-8
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