Zusammenfassung
Die Aktenanalyse ist die zentrale Methode der Rechtstatsachenforschung. Dennoch schrecken viele Jurist*innen wegen der scheinbar kaum überwindbaren methodischen Herausforderungen und den Unwägbarkeiten empirischer Forschung vor ihr zurück. Der Artikel möchte einen Beitrag zur Überwindung dieser Hemmnisse leisten und am Beispiel zweier Promotionsprojekte die Durchführung einer Aktenanalyse von der Konzeptionsphase bis zur Darstellung der gefundenen Ergebnisse beleuchten, wobei der Fokus – in Anbetracht der Erfahrungen aus den beiden zugrundeliegenden Forschungsprojekten – auf die Ermittlung und Beantragung der analyserelevanten Akten und die Bewältigung der hierbei oftmals auftretenden Schwierigkeiten gelegt wird. Er schließt mit einem Ausblick auf Auswirkungen der Einführung der e-Akte in Strafsachen.
Abstract
Case file analysis is the core method of legal empirical research. Nevertheless, many jurists tend to shy away from it because of its seemingly insurmountable methodological challenges and uncertainties of empirical research. The article aims to make a contribution to overcoming these obstacles by examining the implementation of a case file analysis from the conception phase to the presentation of the results found, using the example of two PhD projects. The main focus is, considering the experiences gained from the underlying projects, put on identifying and applying for the case files of relevance for the study and overcoming the common difficulties in this phase. It concludes with an outlook on the effects of the introduction of the e-file in criminal proceedings.
1 Einleitung
Auf der Suche nach einem geeigneten Promotionsthema stehen strafrechtlich interessierte Absolvent*innen des Studiengangs Rechtswissenschaft vor einer besonderen Entscheidung: Wie ihren öffentlich-rechtlich oder zivilrechtlich interessierten Kolleg*innen stehen ihnen neben dogmatischen Fragestellungen auch rechtshistorische, rechtsphilosophische oder rechtssoziologische Forschungsfelder offen. Hinzu kommt jedoch für strafrechtsaffine Absolvent*innen das weite Feld der Kriminologie, also die Forschung über Kriminalität als soziales Phänomen mit ihren (Hinter-)Gründen, Folgen und Erscheinungsformen sowie dem rechtlichen und tatsächlichen Umgang mit ihr.[1] Während die überwiegend im Schwerpunktbereichsstudium angesiedelten Vorlesungen zur Kriminologie oftmals auf große Resonanz stoßen, steht dem – nach unserer Erfahrung – eine vergleichsweise kleine Anzahl derer gegenüber, die sich für ein kriminologisches Dissertationsvorhaben entscheiden. Noch kleiner ist die Anzahl jener, die sich entschließen, (empirische) Rechtstatsachenforschung zu betreiben. Dies ist bedauerlich, hob Arthur Nußbaum bereits vor über 100 Jahren die Bedeutung der Rechtstatsachenforschung als wichtiges Mittel zur Reduzierung der Diskrepanz zwischen Rechtswirklichkeit und Rechtswissenschaft bzw. -politik hervor.[2] Die Gründe für die Zurückhaltung der Promovierenden sind indes nachvollziehbar: Regelmäßig stehen die Lehrangebote zur Kriminologie im strafrechtlichen Schwerpunktstudium gleichwertig neben jenen des materiellen Straf- und Strafprozessrechts, sodass für sie nur eine vergleichsweise kurze Zeit verbleibt. Angesichts der langjährigen Vorerfahrungen der Absolvent*innen mit dem materiellen Recht verglichen mit den neuen und teilweise fremden kriminologischen Forschungsmethoden, scheint man sich mit einem kriminologischen Forschungsprojekt in eine raue See zu begeben, während man mit einem dogmatischen Projekt scheinbar in sicherem (und vertrautem) Fahrwasser bleibt. Speziell für die Rechtstatsachenforschung mit ihren naheliegenden Methoden der Praktiker*innenbefragung und als »zentrale Methode«[3] der Analyse von Verfahrensakten ergibt sich ein weiteres Hemmnis: Steht den meisten Doktorand*innen erfahrungsgemäß ihr Referendariat und zweites Staatsexamen nach der Promotionsphase noch bevor, sind sie entsprechend mit der praktischen juristischen Arbeitsweise und der Aktenführung der Behörden nicht vertraut. Die Organisation und Koordination umfangreicher – teils bundesweiter – Aktenauswertungen mitsamt entsprechender Beantragungsverfahren, behördlicher Kommunikation und einem fachgerechten Umgang mit den Akten, erscheinen als »große Unbekannte« und somit als Risikofaktoren für das Nichtgelingen eines Dissertationsprojektes. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang auch die erhebliche und, da von Dritten abhängig, nur schwer planbare Forschungsdauer, die entsprechend mit der persönlichen Lebens- und Finanzplanung abgestimmt sein will. Für die Analyse von Verfahrensakten ergibt sich schließlich ein Viertes: Während es zahlreiche – auch für Quereinsteiger geeignete – Werke zur empirischen Sozialforschung gibt[4], findet sich für die Analyse von Verfahrensakten an der Schnittstelle zwischen Empirie und Recht kaum Literatur.[5]
Der Beitrag möchte daher am Beispiel und aus der Erfahrung zweier nahezu[6] bzw. vollständig abgeschlossener[7] Dissertationsprojekte die Phasen und Herausforderungen einer Analyse von Strafverfahrensakten aus dem Blickwinkel juristischer Absolvent*innen darstellen, praktisch bewährte Lösungsansätze aufzeigen sowie den noch vorhandenen, zusätzlichen Unterstützungsbedarf für angehende Doktorand*innen herausstellen, um so künftige Kolleg*innen zur – tatsächlich sehr lohnenswerten und sinnhaften – Rechtstatsachenforschung zu motivieren.
Hierzu erfolgt eine Einführung in die beiden zugrundeliegenden Projekte (2.) und ein Umriss der Hypothesenbildung (3.) sowie ein kurzer Blick auf damit zusammenhängende Forschungsmethodik und denkbare Vorgehensweisen (4.). Schwerpunkte sollen auf die für die Durchführbarkeit des Projekts entscheidende Konzeptions- (5.) und die sich anschließende Aktenbeantragungsphase (6.) gelegt werden, in denen eine profunde, aber oftmals nicht ausreichend vorhandene Kenntnis der Arbeitsweise der Justiz sowie eher entlegener rechtlicher Vorschriften von zentraler Bedeutung ist, die aber in der Literatur eher schlaglichthaft behandelt werden.[8] Abschließend soll nach einem Blick auf die Auswertungsphase (7.) ein Ausblick auf Chancen und Risiken für Forschungsprojekte nach der Einführung der e-Akte in Strafsachen gegeben werden (8.).
2 Zwei Projekte mit unterschiedlichen Forschungsfragen und Datengrundlagen
Die beiden hier gegenständlichen Forschungsprojekte befass(t)en sich übereinstimmend mit Rechtstatsachenforschung betreffend Taten sexuellen Missbrauchs von Kindern mit jedoch individuell sehr unterschiedlichen Fragestellungen. Da die beiden Erhebungen der Auswertung unterschiedlicher Datengrundlagen bedurften, waren auch die Herausforderungen der Konzeptions- und Durchführungsphase entsprechend divergent, wobei sich jedoch der grundlegende Ablauf der Forschungsarbeiten stark ähnelte und sich übereinstimmende Problemfelder offenbarten.
2.1 Forschungsprojekt Franzke: »Der ›einvernehmliche Missbrauch‹«
Anlass für das Projekt war die durch zwei Einzelfälle[9] veranlasste Feststellung, dass das deutsche Sexualstrafrecht im Untersuchungszeitraum[10] sexuelle Kontakte mit Kindern (Personen unter 14 Jahren) ohne Rücksicht auf eine faktische Übereinkunft der Beteiligten oder auf das Alter des anderen Teils verbietet, sofern der Partner strafmündig ist (mindestens 14 Jahre, § 19 StGB). Insofern können auch Fälle »früher Jugendlieben« strafrechtlich relevant sein. Das Projekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine umfassende Phänomenologie des Fallaufkommens der Strafverfolgungsbehörden zum Verdacht von Sexualstraftaten nach §§ 176–177 StGB a.F. bei älteren Kindern (ab 11 Jahren) und jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten (14–20 Jahre) zu erstellen. Innerhalb des so ermittelten Fallaufkommens sollte dann der Bedeutung des »einvernehmlichen Missbrauchs« im Vergleich zu nicht einvernehmlichen Fallgestaltungen nachgegangen werden. Für eine umfassende Beschreibung des Phänomens sollten Daten zu den Beteiligten (z. B. Alter, Bildung, psychische Auffälligkeiten), ihrer Vorbeziehung und der verfahrensgegenständlichen Tat erhoben werden. Interessant war ferner, wie derartige Verfahren zur Kenntnis der Strafverfolger gelangten und wie diese sodann mit dem Vorwurf umgingen. Soweit es zu einer Beteiligung der Jugendgerichte kam, war abschließend deren Arbeit zu untersuchen. Das Projekt zielte auf eine umfassende Darstellung des gesamten staatsanwaltschaftlichen Fallaufkommens ab, was auch solche Verfahren einschloss, bei denen es zu einer Anklageerhebung mangels Tatnachweis oder wegen einer Einstellung aus Opportunitätsgründen (§§ 45, 47 JGG, §§ 153, 153a, 154 StPO) nicht mehr gekommen war.
2.2 Forschungsprojekt Hüster: »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit«
So fundamental und einleuchtend das Grundprinzip »nulla poena sine culpa – keine Strafe ohne Schuld« für die Rechtsstaatlichkeit ist, so sehr entwickelt sich an ihm bei Sexualdelikten gegenüber Kindern ein drastisches Spannungsfeld: Sexualdelikte gegenüber Kindern finden gesellschaftlich große Beachtung und Missbrauchstaten wie auch ihren Täter*innen wird mit besonderer Abscheu begegnet. Dies führt letztlich auch dazu, dass die Gesellschaft eine stark erhöhte Sanktionsbereitschaft gegenüber Täter*innen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern hat.[11]
Gleichzeitig werden eben jene Täter*innen im Falle der Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB nicht bestraft und so findet das Strafverlangen der Gesellschaft in diesen Fällen keine Erfüllung.
Verstärkt wird dieses Spannungsfeld noch dadurch, dass im gesellschaftlichen Sprachgebrauch das Schlagwort »Sexueller Missbrauch« als Synonym für »Vergewaltigung eines Kindes« zu stehen scheint und sich die weitaus milderen möglichen Begehungsweisen, wie etwa exhibitionistische Handlungen, dem Fokus des gesellschaftlichen Diskurses entziehen.
Das Forschungsprojekt untersucht und beschreibt die Phänomenologie einschlägiger Taten. Hierbei liegt ein Fokus neben der Tatbegehung selbst und der Beschreibung von Täter*innen und Opfern sowie den Gründen für die Schuldunfähigkeit und dem Umgang der Justiz mit Schuldfähigkeitsgutachten auch auf der Rolle der Diagnose Pädophilie im Rahmen des § 20 StGB. Mittels Strafaktenanalyse erfolgte eine bundesweite Erhebung aller einschlägigen Ermittlungsverfahren (Urteile und Einstellungen) der Jahre 2011 bis 2015.
3 Hypothesenbildung
Beide vorgestellten Projekte haben sich für ein hypothesengeleitetes Vorgehen entschieden. Dieses Vorgehen, das bei einem primären Erkenntnisinteresse an den in den Akten dokumentieren Fällen und deren Behandlung üblich ist[12], soll daher im Mittelpunkt der weiteren Betrachtungen stehen. Alternativ kommen auch qualitativ-rekonstruktive Verfahren bei der Aktenanalyse in Betracht, etwa wenn gesellschaftliche Definitions- und Selektionsprozesse im Strafverfahren Gegenstand der Forschung sein sollen.[13]
Die Forschungshypothesen[14] sind individuell ausgehend von den Fragestellungen des Forschungsprojektes zu bilden. Im Hinblick auf die Möglichkeit von Alpha-Fehlern[15] bei der Hypothesentestung, sollte hierbei nicht nach dem »Gießkannenprinzip« vorgegangen werden, sondern auf die Bildung konkreter und plausibler Hypothesen geachtet werden. Idealerweise kann hierfür auf belastbare Erkenntnisse aus den Vorarbeiten anderer Forscher*innen zurückgegriffen werden. Im Forschungsprojekt zum »einvernehmlichen Missbrauch« standen etwa Vorerkenntnisse zur Jugendsexualität zur Verfügung, die erahnen ließen, dass die Anzahl der Sexualkontakte von Kindern unter 14 in absoluten Zahlen so hoch ist, dass jedenfalls einige Fälle auch zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangt sein müssen. Ferner konnte etwa auf Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen (formaler) Bildung und dem »Ersten Mal« zurückgegriffen werden. Was das potentielle Anzeigeverhalten angeht, standen etwa Erkenntnisse zum Umgang von Jugendheimen mit Sexualkontakten von Kindern zur Verfügung, die eine starke Überrepräsentierung von Heimkindern im polizeilichen Hellfeld vermuten ließen.[16] Für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« konnte unter anderem auf Nebenbefunde aus älterer Forschung zur Deliktsgruppe zurückgegriffen werden, aus denen zum Beispiel die These gebildet werden konnte, dass die Diagnose Pädophilie im Rahmen des § 20 StGB wohl keine wesentliche Rolle spielen dürfte.[17]
Bei der Hypothesenbildung hat sich bewährt, die Möglichkeiten und Limitationen der zur Verfügung stehenden Forschungsmethoden (dazu sogleich unter 4.) und somit die grundsätzliche Umsetzbarkeit des Projektes nicht aus den Augen zu verlieren. Bereits an dieser Stelle der Forschung begibt sich der/die Jurist*in auf ungewohntes Terrain, denn er oder sie muss sich mit den Grundlagen der statistischen Arbeit vertraut machen.
Idealerweise verfügen Forschende selbst über hinreichende Kenntnisse, um sich diese Fragen zu beantworten. Jedenfalls aus dieser Perspektive wäre eine Verselbstständigung des Schwerpunktbereichsstudiums der Kriminologie unter Loslösung vom materiellen Strafrecht wünschenswert. Dies würde es ermöglichen, ein Modul zu den Methoden empirischer Sozialforschung und zur Statistik in das Studium zu integrieren. Bedauerlicherweise kann man dies jedoch mit guten Gründen für unzulässig halten.[18] Die nächstbeste Lösung wäre sodann die Etablierung fester Doktorand*innenseminare zur Vermittlung statistischer Grundkenntnisse. Kann auch dies aus Gründen knapper Ressourcen und weniger empirisch forschender Doktorand*innen nicht gewährleistet wären, bleibt scheinbar als letzte Option nur das von den meisten Jurist*innen gefürchtete Selbststudium im fachfremden Stoff. Auch wenn die Erfahrung zeigt, dass die Einarbeitung ihren Schrecken schnell verliert, sollten Doktorand*innen sich insoweit nicht scheuen, an ihre/n Doktorvater beziehungsweise -mutter heranzutreten und nach zusätzlicher Unterstützung zu fragen. Besonders bewährt hat sich für uns insofern eine Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen der psychologischen Institute, zu denen ohnehin aufgrund der Schnittmenge im Bereich der Rechtspsychologie eine besondere fachliche Nähe besteht. Es bieten sich daher zahlreiche Möglichkeiten zur wechselseitigen Hilfestellung, sei es informell im Rahmen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe oder formell durch die Beschäftigung einer fachfremden (studentischen oder wissenschaftlichen) Hilfskraft. Die praktische Erfahrung zeigt, dass durch diese Konstruktion eine »Win-Win-Situation« geschaffen werden kann. Auch im Zuge der beiden hier vorgestellten Forschungsprojekte bestand Unterstützung durch wissenschaftliche/studentische Hilfskräfte.
4 Die Wahl der Untersuchungsmethode
Neben der Praktiker*innenbefragung und der Strafaktenanalyse stehen den kriminologisch Forschenden verschiedene weitere Methoden, wie die Einzelfallstudie oder auch das Experiment zur Verfügung, wobei erstgenannte Methoden im Bereich universitärer kriminologischer Forschung vorherrschen dürften. Die hier vorgestellten Projekte hätten grundsätzlich auch in Form einer Praktiker*innenbefragung erfolgen können, wobei entsprechende Fragebögen an alle Gerichte mit der Bitte um Weiterleitung an die Strafrichter*innen oder die Staatsanwaltschaften gesendet worden wären. Hierdurch wäre bei der Erstellung eines Online-Fragbogens ein großes Untersuchungskollektiv mit im Vergleich zur Aktenanalyse – wie noch gezeigt wird – geringerem Aufwand erreicht worden. Allgemein steht diesem grundlegenden Vorteil der Methode jedoch als erheblicher Nachteil eine erwartungsgemäß geringe Rücklaufquote gegenüber, gehen wissenschaftliche Anfragen doch oftmals im Arbeitsalltag von Praktiker*innen unter. Richter*innen können aufgrund ihrer durch Art. 97 GG garantierten Unabhängigkeit auch nicht zur Teilnahme angewiesen werden; bei den sich in einem hierarchischen Behördenaufbau befindlichen Staatsanwält*innen (§§ 145 ff. GVG) sind uns jedenfalls keine Fälle bekannt, in denen Forschende eine entsprechende Weisung der Behördenleitung oder gar des Justizministeriums erreicht hätten. Spezifisch in den vorgestellten Projekten wären zudem mit der Fragebogenstudie die Forschungsfragen nicht verlässlich beantwortet worden. Soweit nämlich die Strafverfolgungspraxis Gegenstand des Erkenntnisinteresses ist, können einzelne Verfahrensbeteiligte immer nur subjektive Erfahrungswerte mitteilen, die jedoch in ihrer Summe nicht einem objektiven Befund gleichzustellen sind. Anders können die Dinge aber liegen, wenn es noch gar keine Rechtsanwendungspraxis gibt, etwa, weil eine neue Vorschrift vom Gesetzgeber erlassen wurde. In diesem Fall kann die Befragung von Praktiker*innen anhand von Fallvignetten Defizite betreffend die Normklarheit aufdecken oder Prognosen zur künftigen Anwendungspraxis der Norm erlauben.[19]
Hand in Hand mit der Wahl der Untersuchungsmethode sollte eine Klärung erfolgen, welche Daten mit dieser verlässlich erhoben werden können und welche nicht. Insofern stehen viele Jurist*innen, wenn sie sich für eine Strafaktenanalyse entscheiden, erstmals in ihrer Karriere vor der Aufgabe, sich mit der Aktenführung der Staatsanwaltschaften und Gerichte vertraut zu machen. Da Akten nicht zu Anschauungszwecken angefordert werden können, sind Lehrbücher für die Praxis hilfreich.[20] Auch ein fachlicher Austausch mit einer/einem im Strafrecht tätigen Praktiker*in kann hier hilfreich sein, zumal die Aktenführung von Bundesland zu Bundesland variiert. In diesem Kontext gilt es dann auch zu beachten, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten im Fall einer Einstellung des Verfahrens, wie in der überwiegenden Anzahl der ausgewerteten Fälle für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« geschehen, nicht zwingend komplett ausermittelte Sachverhalte enthalten und die Aussagekraft der Daten, etwa hinsichtlich des Tatablaufs aber auch der Täterschaft, begrenzt ist. So erschienen oftmals bei Vorliegen „evidenter“ Schuldunfähigkeit (etwa bei gravierenden geistigen Behinderungen) die Sachverhalte nicht in Gänze ausermittelt. Überdies – so zeigt die Erfahrung beider Projekte – divergiert der Umfang angestellter Ermittlungen bei ähnlich gelagerten Sachverhalten teils stark, weshalb sich angeforderte Strafakten mitunter als recht »unergiebig« erweisen können.
Dem Akteninhalt kann und sollte man sich nach dem Zweck des Strafverfahrens, nämlich einen oder mehrere bestimmte Tatverdachte aufzuklären (§§ 152 Abs. 2, 160 StPO), annähern: So ist es regelmäßig für den Ermittlungserfolg schon nicht erforderlich, das private (Vor-)Leben des/der Beschuldigten in Gänze aufzuklären und insbesondere nicht dasjenige des mutmaßlichen Opfers. Ausnahmen können sich aber da ergeben, wo ergänzende biographische Angaben entscheidungserheblich sind, etwa in Jugendstrafverfahren oder auch bei Schuldfähigkeitsbegutachtungen. Diese Zweckbindung führt auch dazu, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft einzustellen sind, sobald sich herausstellt, dass ein strafbares Verhalten nicht nachweisbar ist, ein nachgewiesenes Verhalten keinen Straftatbestand erfüllt oder eine Straftat nicht (mehr) verfolgt werden kann (§ 170 Abs. 2 StPO). Der Inhalt der Akte ist daher eine Frage des Einzelfalls und nur beschränkt Typisierungen zugänglich. Auch wenn gewisse Weichenstellungen möglich sind, z. B. durch die Beschränkung der Untersuchung auf Verfahren, die durch ein förmliches (gerichtliches) Urteil abgeschlossen wurden, ist daher damit zu rechnen, dass nicht alle Variablen von Interesse in jedem Fall erhoben werden können.
5 Die Konzeptionsphase
Sobald man sich über die Forschungsfrage und die grundsätzlich in Betracht kommende(n) Forschungsmethode(n) Klarheit verschafft hat, empfiehlt es sich, das Erhebungsinstrument zu entwerfen, wobei technische Vorfragen zu klären sind sowie die datenschutzrechtlichen Anforderungen gekannt werden müssen und ausgehend von dem zu erwartenden Arbeitsaufwand den Untersuchungszuschnitt näher zu präzisieren.
5.1 Das Erhebungsinstrument – der standardisierte Erhebungsbogen
Die Konzeption des Erhebungsbogens orientiert sich eng an den bereits aufgestellten Hypothesen. Als hilfreich hat sich erwiesen, Erhebungsbögen bereits abgeschlossener Forschungsprojekte, die regelmäßig im Anhang der Monografien zu finden sind, auszuwerten, um eine Vorstellung von Gliederungsmöglichkeiten für das Erhebungsinstrument zu bekommen. Ebenso, wie die Arbeit selbst, sollte der Bogen nach sachlichen Gesichtspunkten aufgebaut werden, die sich mit dem späteren Gang der Darstellung der Untersuchungsergebnisse decken können. Ein sachlicher Gesichtspunkt für eine Gliederung könnte nämlich etwa das Vorarbeiten vom Allgemeinen zum Speziellen sein, jedoch auch eine primär an der Aktenführung orientierte chronologische Erhebung von Daten oder eine Kombination von beiden. So wurden beim Forschungsprojekt »einvernehmlicher Missbrauch« etwa vorab allgemeine Verfahrensdaten erfasst (z. B. zuständige Behörde, Dauer des Verfahrens), dann Täter*innen- und Opferdaten erhoben und schließlich der Gang des Strafverfahrens von Ermittlungsverfahren, über das Zwischenverfahren bis hin zum Haupt- und ggf. Rechtsmittelverfahren verfolgt.[21] Ähnlich gestaltete sich auch das Vorgehen im Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit«, wobei hier ergänzend mit Zusatzbögen, etwa für divergierende Gutachten oder mehrere Tatopfer, operiert wurde.
Zugleich ist die Klärung methodischer Fragen unerlässlich, um den wissenschaftlichen Wert der Datenerhebung sicherzustellen und zeit- wie kostenintensive Nacherhebungen zu vermeiden. Dem Gebot der Intra- und – bei Projekten mit nur einer/einem Forschenden irrelevanten – Intercodiererreliabilität muss zudem durch eine gut zu handhabende Operationalisierung der Variablen Rechnung getragen werden,[22] gegebenenfalls gestützt durch ein Codiererhandbuch, das verbindliche Anweisungen bezüglich des »Ob« und »Wie« der Datenerhebung für interpretationsbedürftige Begriffe durch eine verbindliche Definitionen vorgibt.[23] Ob die Einhaltung dieses Gebots gelungen ist, kann gegebenenfalls mit einem praktischen Test des Bogens an einer kleineren Menge Datenmaterials geprüft werden, z. B. durch ein vorab gestelltes Einsichtsersuchen bei der lokalen Staatsanwaltschaft. Solche Pretests sind methodisch anerkannt[24] und können daher »erforderlich« im Sinne des Gesetzes sein. Sie helfen, Ungereimtheiten im Erhebungsbogen frühzeitig aufzudecken und die Vorstellung vom Akteninhalt mit realen Beispielen abzugleichen. Andererseits gilt es zu bedenken, dass das »Testmaterial« für die eigentliche Untersuchung nicht mehr herangezogen werden sollte, was bei Projekten mit einer kleinen Gesamtstichprobe zu Schwierigkeiten führen kann. Zudem ist zu beachten, dass einige Behörden nicht unerhebliche Bearbeitungszeiten für das Einsichtsgesuch veranschlagen (dazu sogleich).
Um die Darstellung der Auswertung später mit mehr »Leben zu füllen« empfiehlt es sich darüber hinaus, zu interessanten oder prototypisch wiederkehrenden Fallkonstellationen und anderen Besonderheiten Notizen zu fertigen, um diese später als Fallbeispiele präsentieren zu können.
5.2 Technisches
In technischer Hinsicht sollte zu diesem Zeitpunkt bereits feststehen, mit welchem Programm die Auswertung erfolgt. Bewährt hat sich für die statistische Arbeit – trotz Verfügbarkeit guter kostenfreier Alternativen wie jamovi oder PSPP – für uns das Programm IBM SPSS, für das nämlich nicht nur laienfreundliche Literatur zur Verfügung[25] steht, sondern oftmals auch hochschulseitig Schulungen angeboten werden. Die Zeit in eine solche drei- bis fünftägigen Veranstaltungen ist ausgesprochen gut investiert. Sollte sachkundige Unterstützung verfügbar sein (s. o.), empfiehlt es sich, diese bereits zu diesem Zeitpunkt in Anspruch zu nehmen und den Erhebungsbogen gegenprüfen zu lassen, beziehungsweise sich vor und bei der Erstellung beraten zu lassen.
5.3 Fragen des Datenschutzes
Hinsichtlich des Datenschutzes ist bei der Konzeption zu berücksichtigen, dass die Daten gemäß § 476 Abs. 6 S. 2 u. 3 StPO – der Kernnorm zur Akteneinsicht zu Forschungszwecken – zu pseudonymisieren und (S. 1) zu anonymisieren sind, sobald dies der Forschungszweck erlaubt, gegebenenfalls also bereits von Beginn der Erhebung an. Pseudonymisierung bedeutet, dass diejenigen Daten, die eine Zuordnung des Datensatzes zu einer bestimmten oder bestimmbaren Person ermöglichen (z. B. Aktenzeichen, Name, Geburtsdatum) getrennt und sicher von dem eigentlichen Datensatz aufbewahrt werden und lediglich über eine Kennziffer wieder zusammengeführt werden können, wenn dies der Forschungszweck erfordert. Dem eigentlichen Erhebungsbogen ist also ein Datenblatt voranzustellen, das nicht mit diesem verbunden werden darf, sondern idealerweise in einem Tresor separat zu verwahren ist. Durch Vernichtung dieser Datenblätter wird eine vollständige Anonymisierung des Datensatzes herbeigeführt.[26] Wann dies der Forschungszweck im Sinne von § 476 Abs. 6 S. 1 StPO erlaubt, ist in der Literatur bislang nicht näher konkretisiert worden. Mit Blick auf die ohnehin hohen Anforderungen an die Datensicherheit, erscheint es jedoch vertretbar, die Daten bis zum förmlichen Abschluss des Forschungs- und Dissertationsprojekts durch Einreichung der Arbeit aufzubewahren. Bis zu diesem Zeitpunkt ist es nämlich denkbar, dass sich die Notwendigkeit einer Nacherhebung wegen einer notwendigen Anpassung der Forschungsfrage oder -methode oder teilweisen Datenverlusts ergibt, wofür jedoch die Angabe des Aktenzeichens und des Namens des Beschuldigten erforderlich sind. Auch wenn diese Notwendigkeiten durch zumutbare organisatorische und technische Maßnahmen tunlichst zu vermeiden sind, ist eine partielle Nacherhebung das mildere Mittel im Vergleich zu einer vollständigen Neuerhebung bei zu früher Anonymisierung. Handelt es sich um besonders sensible Daten, wofür man sich an der Aufzählung in Art. 9 Abs. 1 DSGVO orientieren kann, sollte jedoch eine noch frühere Vernichtung der Datenblätter in Erwägung gezogen werden. Insofern wird nämlich das Interesse, eine Nacherhebung zu ermöglichen, kein hinreichender Grund mehr für ein Zuwarten und ein geringfügig unvollständiger Datensatz hinzunehmen sein. Nicht vergessen werden darf schließlich, dass auch für die digital verarbeiteten Daten Vorkehrungen für den Datenschutz zu treffen sind, denn auch insoweit handelt es sich um pseudonymisierte Daten. Wir empfehlen daher, die Daten auf einem Rechner ohne Internetanschluss zu verarbeiten und Sicherungskopien nur dann auf einem USB-Stick zu speichern, wenn dieser mit einem Verschlüsselungs-Tool gesichert ist und in einem Datenschutzschrank auch physisch vor unbefugtem Zugriff gesichert ist.
Zudem ist bei der Erstellung der Erhebungsbögen darauf zu achten, dass zum Einen der geforderten Datensparsamkeit Rechnung getragen wird und gleichzeitig auch eine Reindividualisierung einzelner Fälle ausgeschlossen ist. Insofern bietet es sich – je nach Forschungskonzept – zum Beispiel an, auf die Erhebung des genauen Täter*innenalters zu verzichten und dieses vielmehr lediglich als Altersgruppen zu erheben (so im Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit«). Auch die Erhebung exakter Ortsangaben wird oftmals allgemeineren Parametern (Bundesland, LG-Bezirke) weichen können.
5.4 Der Untersuchungszuschnitt
Bei der Festlegung des Untersuchungszuschnitts müssen Forschende sich insbesondere hinsichtlich der Anzahl der zu untersuchenden Akten, den zu beteiligenden Behörden bzw. Bundesländern und dem zu untersuchenden Zeitraum Gedanken machen. Da die Forschungsfrage oftmals auf verschiedene Arten plausibel beantwortet werden kann, sind darüber hinaus insbesondere auch Fragen der zeitlichen und räumlichen Kapazitäten zu berücksichtigen. Zudem sollte sichergestellt werden, dass die Akteneinsicht nicht an vorrangigen Belangen der Justiz scheitert.
5.4.1 Untersuchungsumfang
Bei der Bestimmung des Untersuchungsumfangs sollte zunächst eine möglichst realistische Abschätzung der eigenen Ressourcen erfolgen: Wie lange darf das Projekt dauern? Erhalte ich organisatorische Hilfe in Sachen Antragstellung sowie Aktenversand? Ist die Finanzierung der Forschung und des Lebensunterhalts gesichert? Erwarte ich Akten mit umfangreichen Gutachten und vielen Rechtsmittelverfahren oder dünne Akten zu oftmals informell erledigten Verfahren?
Unter Berücksichtigung dieser Parameter können sich sehr unterschiedliche Mengen an zu bewältigendem Aktenmaterial ergeben, wobei der Zeitplan anfangs oft noch nicht realistisch abgeschätzt werden kann, da sich etwa mit zunehmender Erfahrung mit dem eigenen Erhebungsinstrument und der Aktenführung der Staatsanwaltschaften erhebliche Effizienzsteigerungen ergeben können. Spiegelbildlich können aber auch nicht vorhersehbare Verzögerungen, etwa im Beantragungsprozess und Aktenversand, auftreten.
Je nach Fragestellung kommt somit zwischen einer Totalerhebung aller Fälle für mehrere Jahre bis zu einer bloßen Teilerhebung für ein Kalenderjahr Vieles in Betracht. Zur (überschlägigen[27]) Ermittlung der zu erwartenden Akten können in Abhängigkeit von der Fragestellung entweder Berechnungen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) oder der Strafverfolgungsstatistik vorgenommen werden, während die Staatsanwaltschaftenstatistik mit ihrer Gliederung nur nach Sachgebiet in der Regel keine hinreichend genauen Angaben macht. Sollen auch Verfahren ohne Hauptverfahren untersucht werden, gibt die PKS Auskunft über die zu erwartende Anzahl an Verfahren nach bestimmten Summenschlüsseln[28], bei Bedarf auch aufgeschlüsselt nach Beschuldigtenalter[29] und/oder Bundesländern.[30] Soll nur eine Teilerhebung stattfinden, können zudem über die Angaben zum Bevölkerungsstand[31] relevante Tatverdächtigenbelastungszahlen ermittelt werden. Hieraus lässt sich der Anteil der Verfahren der in den Blick genommenen Untersuchungsorte am Gesamtfallaufkommen abschätzen.
Es ist jedoch auf eine bedeutsame Restriktion bei diesem Vorgehen hinzuweisen, da die PKS im Falle der Idealkonkurrenz mehrerer Delikte nur das schwerste verwirklichte Delikt ausweist.[32] Idealkonkurriert der untersuchte Deliktsbereich daher typischerweise mit anderen, schwereren Delikten, so ist von einer erheblichen Untererfassung auszugehen, deren Umfang nicht abgeschätzt werden kann.
Für Verfahren, die durch Aburteilung enden, lassen sich die Fallzahlen anhand der Strafverfolgungsstatistik abschätzen. Neben dem genauen Delikt erfasst die Statistik auch weitere Merkmale, zum Beispiel das Geschlecht der/des Abgeurteilten, Angaben zu Grund und Dauer von Untersuchungshaft oder die für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« relevante Annahme der Schuldunfähigkeit.[33]
5.4.2 Belange der Justiz als Versagungsgrund für die Gewährung der Akteneinsicht
Zu beachten sind bei der Konzeption ferner verschiedene Belange der Justiz. Ausgangspunkt ist dabei die Vorschrift des § 479 Abs. 1 Alt. 1 StPO, derzufolge eine Übermittlung von Verfahrensakten nach § 476 StPO unter anderem dann unterbleibt, wenn und soweit dem Zwecke des Strafverfahrens entgegenstehen. Nach wohl allgA handelt es sich insoweit um einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum für die entscheidende Stelle.[34] Die hierunter ohne Weiteres zu subsumierenden Belange der Wahrheitserforschung und der Verfahrensbeschleunigung führen der Erfahrung nach dazu, dass im gesamten vorbereitenden Verfahren bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss[35] keine Akteneinsicht zu Forschungszwecken gewährt wird, was Nr. 189 Abs. 1 S. 3 RiStBV zudem ausdrücklich als Kriterium vorgibt. Nach unserer Erfahrung geht die Praxis noch einen Schritt weiter und hält die Akten auch bis zur Erledigung der Strafvollstreckung für unabkömmlich. Auch wenn diese Praxis aus rechtlicher Perspektive durchaus Zweifel hervorruft,[36] muss dem aus Gründen der Praktikabilität Rechnung getragen werden. Der Untersuchungszeitraum sollte daher an einem oder mehreren Geschäftsjahren der Staatsanwaltschaft ausgerichtet werden[37] und dabei der Verfahrensdauer bei den Staatsanwaltschaften[38], bei Gericht einschließlich etwaiger Rechtsmittel[39] sowie der zu erwartenden Vollstreckungsdauer[40] Rechnung tragen, sodass er sich je nach erforschtem Deliktsfeld erheblich unterscheiden kann.
Lässt sich so – ggf. mit einem zusätzlichen »Sicherheitsabschlag« – das Minimum des zeitlichen Abstands der zu untersuchenden Verfahren zur Gegenwart ermitteln, ergibt sich das Maximum aus der Aktenverfügbarkeit und –auffindbarkeit. Insofern gilt, dass die Akten nach Abschluss des Verfahrens wieder[41] an die im Verfahren zuständige Staatsanwaltschaft zurückgegeben werden, die daher auch gemäß § 480 Abs. 1 S. 1 StPO für die Entscheidung über das Gesuch regelmäßig zuständig ist. Über die Aufbewahrungsdauer geben Rechtsverordnungen der Länder Auskunft. Hierbei gilt im Grundsatz, dass eine Vernichtung der Akten mit nicht-verurteilten Beschuldigten bis zum Verjährungseintritt ausgeschlossen ist (z. B. Bemerkung [Spalte 6] zu Nr. 622 der Anlage 1 zur AufbVO NRW). Im Falle einer Verurteilung richtet sich die Aufbewahrungsfrist nach der Höhe der ausgesprochenen Sanktion und beträgt mindestens fünf Jahre.
Maßgeblich für den Laufzeitbeginn der Aufbewahrungsfrist ist das Ende des Jahres, in dem Rechtskraft eingetreten ist bzw. im Falle der Verfahrenseinstellung das Jahr der Entscheidung (z. B. § 3 Abs. 1 AufbVO NRW).
Für die Dauer der Aufbewahrung ist regelmäßig auch eine Auskunft aus den Vorgangsverwaltungsdaten der Staatsanwaltschaften gemäß §§ 487 Abs. 4 S. 2, 476 Abs. 2 S. 1 StPO möglich und zulässig, soweit diese zur Ermittlung der forschungsrelevanten Aktenzeichen erforderlich ist (dazu sogleich). Die Speicherdauer nach § 489 Abs. 1 Nr. 3 StPO kann nämlich an der Aufbewahrungsdauer des Schriftguts ausgerichtet werden.[42] Zu beachten ist allerdings eine Besonderheit bei bundesweiten Forschungsprojekten. Da hier zur Vermeidung »blinder« Akteneinsichtsgesuche an sämtliche 113 Staatsanwaltschaften[43] eine vorherige Identifikation der Fälle (Aktenzeichen und aktenführende Staatsanwaltschaft) über das Bundeszentralregister sachdienlich ist, sind zusätzlich die dortigen Tilgungs- bzw. Löschfristen der Eintragungen zu beachten (dazu unter 6.3.1).
6 Die Beantragungsphase
Hat sich unter Berücksichtigung der dargestellten Faktoren ein praktikabler Untersuchungszuschnitt ermitteln lassen, folgt hierauf die Beantragungsphase, die mit der oftmals obligatorischen Beteiligung des Datenschutzbeauftragten sowie fakultativen Unterstützungsgesuchen bei den Justizministerien beginnt. Es folgen die Identifikation der Aktenzeichen zu den analyserelevanten Verfahren, ehe diese Arbeitsphase mit der Übersendung der Akten zur Auswertung ihren Abschluss findet. Der/die Forschende sollte dabei nach Möglichkeit ein Verfahren anwenden, das Überlastungen bei den beteiligten Stellen vermeidet. Eine erhebliche Belastung der ersuchten Stelle durch ein Akteneinsichtsgesuch, die die Durchführung vorrangiger Aufgaben gefährdet, ist insofern nämlich als Versagungsgrund nach § 479 Abs. 1 Alt. 1 StPO anerkannt.[44]
6.1 Die Beteiligung des/der Datenschutzbeauftragten
Sofern das Forschungsprojekt an einer Universität stattfindet, wie es bei den hier zugrunde gelegten Promotionsprojekten der Fall war, enthalten Art. 37 Abs. 1 lit. a, Art. 38 Abs. 1 DSGVO die unmittelbar geltende Verpflichtung, eine/n Datenschutzbeauftragten »frühzeitig« in alle mit dem Schutz personenbezogener Daten zusammenhängenden Fragen einzubinden. Für andere Institutionen, die kriminologische Forschung betrieben, gilt regelmäßig gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. b DSGVO dasselbe. Nach Sinn und Zweck der Vorschriften soll es dem/der Datenschutzbeauftragten noch möglich sein, entscheidenden Einfluss auf die Projektdurchführung zu nehmen, sodass dieser Schritt, wie auch in beiden Forschungsprojekten geschehen, den Anfang der Beantragungsphase (bzw. das Ende der Konzeptionsphase) bilden muss. Zweckmäßigerweise sind etwaige Bedenken des/der Datenschutzbeauftragten zu berücksichtigen und das eigene Konzept gegebenenfalls entsprechend anzupassen. Auch wenn Belange des Datenschutzes primär dem Schutz der von der Datenerhebung betroffenen Person dient, liegt dies nicht nur zur Vermeidung von Haftungsrisiken (Art. 82, 83 DSGVO) im Eigeninteresse des/der Forschenden, sondern auch, weil die Vorlage einer unbedingt zustimmenden Stellungnahme für den weiteren Antragsprozess förderlich sein dürfte.
Weitgehend ungeklärt ist bislang die Frage, ob über diese Verpflichtung hinaus auch eine Datenschutz-Folgenabschätzung gemäß Art. 35 DSGVO zu fertigen ist. Abs. 3 lit. b) der Vorschrift statuiert nämlich als Regelbeispiel einer Verpflichtung zur Fertigung der Folgenabschätzung die »umfangreiche Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten«, namentlich solche über Straftaten im Sinne von Art. 10 DSGVO. Klargestellt ist durch den Bezug auf einen besonderen Umfang der Verarbeitung aber auch, dass nicht der Umgang mit sensiblen Daten allein bereits die Verpflichtung auslöst. Zwar hat sich der Gesetzgeber letztlich gegen eine schematische Bestimmung des großen Umfangs entschieden, jedoch deutet Erwägungsgrund 91 der DSGVO durch seine Bezugnahme auf »große Mengen personenbezogener Daten«, die »auf regionaler, nationaler oder supranationaler Ebene« verarbeitet werden und hierdurch »eine große Zahl von Personen« betreffen darauf hin, dass man sich neben einem überregionalen Zuschnitt der Datenerfassung weiterhin an einem Schwellenwert von ca. 5000 betroffenen Personen orientieren kann, wie er vom europäischen Parlament im Gesetzgebungsprozess vorgeschlagen worden war.[45] Diesen Schwellenwert werden Dissertationsprojekte, die regelmäßig nur auf der Schulter einer Person lasten, anders als umfangreiche kriminologische Forschung in Forschergruppen kategorial verfehlen, sodass gute Gründe für eine Entbehrlichkeit der Folgenabschätzung streiten. Bis zur endgültigen Klärung kann zudem insofern »Entwarnung« gegeben werden, dass die (unterbliebene) Fertigung einer Datenschutz-Folgenabschätzung die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung ohnehin unberührt lässt.[46]
6.2 Fakultative (?) Beteiligung der Justizministerien
Zu Beginn der Beantragungsphase sollte erwogen werden, die Justizministerien derjenigen Bundesländer, in denen die Untersuchung stattfinden soll, um ihre Unterstützung zu bitten. Jedenfalls theoretisch bestünde bei entsprechendem Interesse der Ministerien die Möglichkeit, dass diese per Erlass die Staatsanwaltschaften bindend anweisen, die begehrte Einsicht zu gewähren. In der Regel belassen es die Ministerien jedoch bei einer formlosen Unterstützungszusage, die der/den Generalstaatsanwaltschaft/en zur Kenntnis gegeben wird. Hierin liegt gleichwohl ein nicht unerheblicher Vorteil. So sind uns kaum Fälle bekannt, in denen eine Staatsanwaltschaft gegen das positive Votum »ihres« Ministeriums die Akteneinsicht noch versagt hat. Außerdem begründet dieses Vorgehen in der Regel keinen Zeitverlust, was sich aus Nr. 189 Abs. 3 RiStBV ergibt. Nach Satz 2 dieser Vorschrift ist nämlich in vielen Fällen ohnehin vor Gewährung der Akteneinsicht durch die einzelne Behörde die Fertigung eines sogenannten Absichtsberichts an die oberste Dienstbehörde erforderlich, wenn auch sich hier in der Praxis ein weitaus »pragmatischeres« Vorgehen zeigte. Die Bitte um Unterstützung greift diesem Prozess vor. Auch bei nur informeller Unterstützung enthalten die Schreiben regelmäßig den Passus, dass die Fertigung eines Absichtsberichts nicht mehr erforderlich ist.
6.3 Ermittlung der analyserelevanten Aktenzeichen
Um die Staatsanwaltschaften nicht zu überlasten, sollte diesen mit dem Antrag eine konkrete Liste mit den Aktenzeichen der erbetenen Verfahren vorgelegt werden. Die Wege hierzu richten sich abermals nach der Forschungsfrage.
6.3.1 Der Weg über das Bundeszentralregister
Für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« sollten ursprünglich »lediglich« bundesweit sämtliche einschlägigen Aburteilungen untersucht werden, wobei sich das Forschungskonzept später auch auf alle einschlägigen Ermittlungsverfahren ausweitete. Zum Zwecke der Identifikation der Fälle bot sich hier die Einholung von Auskünften aus dem Bundeszentralregister an.
Sowohl gerichtliche Entscheidungen als auch Verfügungen der Strafverfolgungsbehörden zur Schuldunfähigkeit werden gemäß §§ 3 Nr. 4, 11 BZRG in das Bundeszentralregister (nicht zu verwechseln mit dem Führungszeugnis nach §§ 30 ff. BZRG) eingetragen. Daneben finden sich im Register unter anderem auch die besonders forschungsrelevanten Eintragungen im Falle von Verurteilungen und Maßregelanordnungen (§ 4 BZRG). Der genauere Inhalt der Eintragung richtet sich nach § 5 BZRG, wobei im vorliegenden Fall das Auskunftsersuchen zweckmäßig auf die Angabe des Namens, der Staatsanwaltschaft und des Aktenzeichens gerichtet wurde.
Zu beachten ist, dass sich – je nach Art des Eintrags – im Register unterschiedliche Tilgungs- und Löschfristen ergeben, wodurch die Auskunftsmöglichkeiten eine Einschränkung erfahren. Es gilt der Grundsatz, dass ein Eintrag im BZR ein Jahr nach Eintritt der Tilgungsreife gelöscht wird (§ 45 Abs. 2 BZRG). Die Länge der Tilgungsfrist bestimmt sich nach § 46 BZRG und beträgt mindestens 5 Jahre. Bestimmte Eintragungen wie die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus werden nie getilgt (§ 45 Abs. 3, 1 BZRG).
Die Eintragungen im Bundeszentralregister erfolgen auf Mitteilung durch die mitteilungspflichtigen Behörden, in der Regel gemäß § 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des BZRG durch die Vollstreckungsbehörde, in den Fällen der Schuldunfähigkeit durch die Strafverfolgungsbehörde gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 VV BZRG.
Für die Erlangung von Auskünften aus dem Bundeszentralregister zu Forschungszwecken normiert § 42a BZRG eine eigene Rechtsgrundlage, die im Wesentlichen dieselben Voraussetzungen formuliert, wie die spiegelbildliche Norm der StPO (dazu unten). Der Antrag ist an das Bundesamt für Justiz zu richten. Zur Vereinfachung des Auskunftsersuchens und zur Überprüfung, ob die begehrten Auskünfte überhaupt erlangt werden können, lohnt es sich, die Datensätze anhand der entsprechenden Textkennziffern des BZR (Anlagen K, M und N zur VV BZRG[47]) vorzudefinieren und bei Bedarf mit dem Bundesamt für Justiz abzustimmen.
6.3.2 Der Weg über die staatsanwaltschaftlichen Verfahrensinformationssysteme
Sofern auch Verfahren ohne gerichtliches Hauptverfahren von Interesse sind – wie im Projekt zum »einvernehmlichen Missbrauch« – verfügen die Staatsanwaltschaften über die notwendigen Informationen. Diese sind in ihren jeweiligen Verfahrensinformationssystemen hinterlegt, von denen in Deutschland zwei gebräuchlich sind: MESTA (Mehrländer-Staatsanwaltschafts-Automation) und web.sta. Über das jeweils genutzte Programm und seine Version geben die EDV-Länderberichte der Öffentlichkeit Auskunft. Nach unserer Erfahrung sind die sich hieraus ergebenen Konsequenzen jedoch zu vernachlässigen. Unterschiede bestehen vielmehr innerhalb der Länder im Hinblick auf diejenigen Stellen, die auf die Daten zugreifen können, weswegen – ggf. zeitgleich mit der Kontaktierung der Justizministerien – eine Anfrage an die bzw. eine Generalstaatsanwaltschaft bezüglich des länderspezifisch effizientesten Vorgehens ratsam ist. In der Praxis haben wir insofern ganz unterschiedliche Auskünfte erhalten: Teils wurden wir auf die Zuständigkeit der einzelnen Staatsanwaltschaften verwiesen (Baden-Württemberg), verbunden mit dem Hinweis, dass dies jedoch kein Problem für diese darstelle, teilweise erhielten wir umgehend nach der Anfrage eine Liste mit Aktenzeichen direkt von der Generalstaatsanwaltschaft (z. B. Thüringen). In NRW ist bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf eine »Verfahrenspflegestelle MESTA-ACUSTA« eingerichtet, die die jeweiligen Staatsanwaltschaften bei der Abfrage unterstützt hat.
Bei keinem der skizzierten Vorgehensweisen wurde die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage für die Abfrage problematisiert. Dies ist zweifelsohne für solche Vorgehensweisen zutreffend, bei denen der Forschende das Ergebnis der Abfrage überhaupt nicht zu Händen erhält, sondern dieses nur behördenintern übermittelt wird. Jedoch ist auch für die Übersendung einer Aktenzeichenliste eine Ermächtigungsgrundlage – wenngleich sie jedenfalls gegenüber den einzelnen Staatsanwaltschaften mit §§ 487 Abs. 4 S. 2, 476 Abs. 2 S. 1 StPO sogar vorläge – nicht erforderlich, da zu diesem Zeitpunkt die Aktenzeichen noch keine personenbezogenen Daten darstellen. Denn nach Art. 4 Nr. 1 DSGVO ist die Frage der Identifizierbarkeit der Person unter Berücksichtigung der dem Empfänger konkret zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu beantworten (vgl. Erwägungsgrund 26 zur DSGVO). Hierbei erschiene es jedoch verfehlt, bereits auf das avisierte Akteneinsichtsgesuch abzustellen. Denn insofern hat der Gesetzgeber gerade mit § 476 ff. StPO ein gesondertes Verfahren geschaffen, in dem der Forschende sein Interesse am Zugriff auf personenbezogene Daten noch gesondert darlegen muss. Findet also in diesem zweiten Schritt eine umfassende Prüfung aller Belange statt, ohne die eine Zuordnung der Aktenzeichen zu einer konkreten Person unmöglich wäre, sind die Daten auf der ersten Stufe noch nicht als personenbezogen zu betrachten. Mangels Eingriff in Persönlichkeitsrechte genügt daher ein Tätigwerden der Generalstaatsanwaltschaften im Rahmen der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zur rechtlichen Legitimation des Vorgehens.
Bei der Anwendung dieses Verfahrens ist jedoch auf eine Restriktion hinzuweisen: Ähnlich wie die PKS erfasst auch MESTA nur den schwersten Tatvorwurf. Zudem handelt es sich nicht um ein Programm, das für statistische Zwecke verwendet wird. Es erfasst daher oftmals nur den anfänglichen Tatverdacht in der Form wie er im System angelegt und auf dem Aktendeckel niedergelegt wird. Eine Korrektur ist in der Praxis aber allenfalls bei einem Sachgebietswechsel innerhalb der Staatsanwaltschaft zu erwarten. Es ist daher auch zu bedenken, ob es typische »Fehleinschätzungen« bei der Polizei geben kann (Betrug vs. Diebstahl) oder sich der Tatvorwurf – wie beim Projekt zum »einvernehmlichem Missbrauch« – während des Ermittlungsverfahrens noch abmildern kann (z. B. bei sich ergebenden Einvernehmen von Vergewaltigung zu sexuellem Missbrauch von Kindern).
6.4 Die Antragstellung
Nach Ermittlung der analyserelevanten Aktenzeichen sind die entsprechenden Akteneinsichtsgesuche an die zuständigen Stellen zu übersenden.
6.4.1 Adressat*in
Mit Blick auf die dargelegten justiziellen Belange ist dies in der Praxis nahezu immer die aktenführende Staatsanwaltschaft (§ 480 Abs. 1 S. 1 StPO), so auch in beiden hier zugrundeliegenden Projekten. Nach den Vorschriften der RiStBV ist behördenintern für die Entscheidung der Behördenleiter zuständig (Nr. 189 Abs. 2). Hierbei handelt es sich um eine besondere Zuständigkeitszuweisung, die nicht delegierbar ist, soweit es nicht um bloß vorbereitende Maßnahmen geht.[48] Nach unseren Erfahrungen wird dieser Vorschrift in der Praxis oftmals keine Folge geleistet und die Entscheidung über den Antrag durch die/den in der Hauptsache zuständige/n Dezernent*in ebenso getroffen, wie auch der Aktenversand durch diese Stelle verfügt wird. Bei mehreren Anträgen betreffend unterschiedlicher Dezernate derselben Staatsanwaltschaft birgt dieses Vorgehen nicht nur die Gefahr behördenintern divergierender Entscheidungen, sondern bedeutet auch entsprechende Mehrarbeit. Mutmaßlich erfolgt die Nichtbefolgung der Nr. 189 Abs. 2 RiStBV daher nicht bewusst. Es schadet daher keineswegs, die Anträge direkt namentlich an den Behördenleiter zu adressieren und in das Anschreiben die zuständigkeitsbegründende Norm einfließen zu lassen.
Betreffen die Akteneinsichtsanträge erkennbar mehrere Staatsanwaltschaften (wie in den hier zugrundeliegenden Forschungsprojekten) ist gemäß Nr. 189 Abs. 3 RiStBV zudem der gemeinschaftlich übergeordneten Behörde (i. d. R. der Generalstaatsanwaltschaft) ein Absichtsbericht vorzulegen. Sind mehrere Bundesländer betroffen, ist ein Absichtsbericht der jeweils obersten Dienstbehörde, also (exemplarisch gem. § 3 Abs. LOG NRW) dem Justizministerium des Landes, vorzulegen (vgl. § 147 GVG zum Behördenaufbau). Die Staatsanwaltschaften haben die Generalstaatsanwaltschaften und Justizministerien in den vorliegenden Forschungsprojekten jedoch nur im Ausnahmefall konsultiert, bei Anwendung des unter 6.2. dargestellten »vorgreiflichen« Vorgehens sogar überhaupt nicht.
6.4.2 Antragsteller*in
§ 476 Abs. 3 S. 1 StPO begrenzt den Kreis der Empfänger*innen der personenbezogenen Daten auf Beamt*innen und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete. Ob der Begriff des/der Empfänger*in mit demjenigen des/der Antragsteller*in deckt, scheint nur auf den ersten Blick ein akademisches Problem. Denn einerseits kann nur der/die Antragsteller*in durch eine ablehnende Entscheidung beschwert sein und hiergegen Rechtsschutz suchen. Andererseits ist aber auch nur der/die Antragsteller*in Kostenschuldner*in (§ 14 Abs. 1 JVKostG). Für ein universitäres Forschungsprojekt erscheint es daher unerlässlich, dass das Antragsgesuch unter namentlicher Nennung derjenigen Person(en), die die Akten einsehen werden, von dem/der Doktorvater/Doktormutter unterzeichnet oder mitunterzeichnet wird. Denn nur hierdurch wird die sachgerechte Lösung erreicht, dass der/die Doktorand*in selbst unter keinen Umständen in die Kostenhaftung gerät. Ist nämlich eine Vertretung der Universität durch Promotionsstudierende unter keinen Umständen denkbar, so handelt es sich für kriminologische forschende Hochschullehrer*innen um die Wahrnehmung ihrer Dienstaufgaben (z. B. § 35 Abs. 1 S. 1 HG NRW) und somit eine Handlung, die nach dem objektiven Empfängerhorizont unzweifelhaft allein der Körperschaft Hochschule zuzurechnen ist.
6.4.3 Antragsinhalt
Durch die Antragstellung soll die Staatsanwaltschaft in die Lage versetzt werden, die Voraussetzungen des § 476 StPO in eigener Verantwortung zu prüfen. Bei der Zusammenstellung der Antragsunterlagen lohnt es, besondere Sorgfalt walten zu lassen und sich den Adressatenbezug unter besonderer Berücksichtigung der ohnehin schon erheblichen Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaften vor Augen zu führen. Für uns hat sich folgendes Vorgehen bewährt: Im Antragsschreiben selbst, das als Kerninformation das oder die Aktenzeichen enthält, wird das Forschungsprojekt nur ganz kurz umrissen. Als Anlagen werden dann die ausführlichen Informationen beigefügt: Die Antragsbegründung (= Ausführungen zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 476 StPO), eine detaillierte Projektbeschreibung (= ein Forschungsexposé, das regelmäßig schon für den/die Datenschutzbeauftragte*n und oftmals auch dem/der Doktorvater/Doktormutter formuliert wurde), das Datenschutzkonzept (§ 476 Abs. 4–8 StPO), idealerweise nebst Bescheinigung des/der Datenschutzbeauftragten, der Erhebungsbogen, gegebenenfalls das Schreiben des Bundesamtes für Justiz, mit dem dem Auskunftsersuchen aus dem BZR stattgegeben wurde, und schließlich, sofern notwendig geworden, eine Niederschrift über die förmliche Verpflichtung (dazu unten).
Auch, wenn die Prüfung der Voraussetzungen von Amts wegen erfolgt, ist es nach unserer Erfahrung hilfreich, zu den einzelnen im Gesetz normierten Voraussetzungen (unter gesonderten Überschriften) detaillierte Ausführungen zu machen und der Staatsanwaltschaft so eine Entscheidungsgrundlage zu bieten und ihr bestenfalls den Weg zur positiven Bescheidung zu bahnen. Der Verweis auf einen vollständigen Antrag mit rechtlich vertretbaren Einschätzungen stellt auch für die Staatsanwaltschaften die arbeitsärmste Erledigung des Ersuchens dar.
Die Voraussetzungen von § 476 Abs. 1 Nr. 1 StPO (Erforderlichkeit der Durchführung) ergibt sich aus der in dem Exposé dargestellten Untersuchungsanlage. Falls Alternativen (z. B. Befragungen) denkbar scheinen, sollte kurz erörtert werden, warum diese nicht zum Ziel führen. Der unverhältnismäßige Aufwand einer Anonymisierung (§ 476 Abs. 1 Nr. 2 StPO) kann aus der Vielzahl der den Akten zu entnehmenden Informationen, die eine Anonymisierung der gesamten Akte erforderlich machen würden, sowie der Anzahl der erbetenen Akten hergeleitet werden. Hieraus folgt auch, dass die Akteneinsicht im Vergleich zur Auskunftserteilung das Mittel der Wahl ist (§ 476 Abs. 2 S. 2 StPO). Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Abwägung des öffentlichen Interesses an der Forschungsarbeit mit dem schutzwürdigen Interesse des Betroffenen (§ 476 Abs. 1 Nr. 3 StPO) gerichtet werden. Der reine wissenschaftliche Erkenntnisgewinn um seiner selbst willen dürfte an dieser Stelle argumentativ kaum ausreichen.[49] Vielmehr werden sich Argumente für das öffentliche Interesse etwa in der Möglichkeit evidenzbasierter Reformvorschläge bzw. der Herleitung von Ansatzpunkten für Präventionsprogramme oder für Früherkennung von Kriminalität als Ergebnisse der Arbeit finden lassen. Bei der Arbeit mit besonders sensiblen Akten (Sexualdelikte, Schuldunfähigkeit etc.) sollte möglichenfalls ergänzend das Gewicht des Eingriffs in Relation gesetzt werden, z. B. unter Verweis auf die zu erwartende vergleichsweise geringe Deliktsschwere wie etwa im Projekt zum »einvernehmlichen Missbrauch« oder die Darlegung besonders strenger Regeln im Umgang mit dem Datenschutz.
Dass der/die Antragsteller*in zum berechtigten Empfängerkreis (§ 476 Abs. 3 StPO) der Amtsträger*innen oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter gehört, ergibt sich bei Beamt*innen der Universität von selbst und kann bei wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen durch eine Kopie der bei der Einstellung gefertigten Niederschrift belegt werden. Bei externen Doktorand*innen wird aus diesem Anlass eine Verpflichtung nach dem Verpflichtungsgesetz durch die Universität erfolgen, da diese insofern im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VerpflG »für die Universität tätig ist«. Denn Sinn und Zweck der Vorschrift – die Herbeiführung eines strafrechtlich abgesicherten Geheimnisschutzes – greifen in dieser Konstellation ein. Der nach der Rechtsprechung des BGH erforderliche behördenseitige Auftrag an die verpflichtete Person[50] liegt in der Einbindung in das Forschungsvorhaben, das rechtlich der Universität als Antragstellerin zuzurechnen ist (s. o.).
Ausdrücklich beantragt werden sollte zudem unter Verweis auf den überregionalen Zuschnitt der Untersuchung die Übersendung der Akten nach § 476 Abs. 2 S. 3 StPO. Besteht wie zumeist kein Budget für deutschlandweite Reisen zur Einsichtnahme vor Ort, ist der Versand der Akten von ausgesprochenen großer Bedeutung für die Realisierbarkeit des Projekts. Nach unserer Erfahrung bescheiden die allermeisten Behörden dieses Ansinnen auch positiv. Da das Gesetz nicht davon ausgeht, dass die Akten in den Händen der Forschenden weniger sicher sind als etwa bei Rechtsanwält*innen,[51] ist dies auch aus juristischer Perspektive überzeugend.
6.4.4 Koordination von Antragstellung und Aktenversand
Sind an dem Projekt viele Staatsanwaltschaften zu beteiligen, stellt sich ferner im Hinblick auf räumliche Kapazitäten (datenschutzkonforme Aufbewahrung[52]) und die – in der Regel verlängerbaren – Fristen für die Akteneinsicht mit Blick auf die persönlichen zeitlichen Vorgaben die Frage, ob die Anträge gestaffelt gestellt werden sollten oder eine zu große punktuelle Arbeitslast anderweitig verhindert werden muss und kann. Nach unserer praktischen Erfahrung erscheint eine gestaffelte Antragstellung in mehreren »Wellen« sinnvoll, nicht aber feinere als mehrere Wochen umfassende zeitlichen Untergliederungen.
Der Grund für diese Zurückhaltung liegt in der Erfahrung stark divergierender Bearbeitungsfristen bei den Behörden von ca. zehn Tagen bis hin zu ca. acht Monaten. Kann das Projekt in Vollzeit bearbeitet werden, erscheint eine Koordination bei entsprechenden räumlichen Kapazitäten sogar gänzlich entbehrlich. Hinweisen sollte man dann nur auf etwaige Urlaubszeiten und das Einhalten etwaig gesetzter Fristen durch eine Urlaubsvertretung sicherstellen. Für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« hingegen, dessen Aktenauswertung »neben« dem Referendariat, also extern in Teilzeit und unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie erfolgte, wurden die Akteneinsichten bundeslandweise beantragt, um einen raschen Rückversand der Akten gewährleisten zu können. Die im Zuge der Antragstellung stets ergänzend formulierte Bitte an die Behörden, den Zeitpunkt der Aktenversendung abzustimmen, ging in vielen Fällen unter. Nichtsdestotrotz halten wir ein solches Vorgehen für empfehlenswert, ermöglicht es doch zumindest eine teilweise Planbarkeit des Forschungsablaufs.
6.4.5 Anhörung des/der Betroffenen?
Noch gänzlich ungeklärt scheint die Frage, ob die Staatsanwaltschaften ihrerseits vor der Gewährung von Akteneinsicht verpflichtet sind, den/die (vormals) Beschuldigte*n anzuhören. Eine einfachgesetzliche Regelung findet sich hierzu nicht. Jedoch erkennt die verfassungsgerichtliche Judikatur auch jenseits des Anwendungsbereichs von Art. 103 Abs. 1 GG zunehmend ein Recht auf rechtliches Gehör vor einem Grundrechtseingriff (in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung) an und leitet dies verschiedentlich aus dem Rechtsstaatsprinzip oder der verfahrensrechtlichen Dimension der Grundrechte her.[53] Demzufolge könnte eine Anhörungspflicht des/der Beschuldigten unter Umständen auch ohne einfachrechtliche Ausprägung unmittelbar aus der Verfassung folgen. Diesen Weg hat im zeitlich späteren Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« nunmehr auch erstmalig eine einzelne Behörde beschritten. Hiervor muss aus Sicht des/der Forschenden auch keine Furcht bestehen, geht es eindeutig nicht um ein Zustimmungserfordernis des/der Beschuldigten, wobei eine tatsächlich erteilte Zustimmung die Einsichtnahme sogar nochmals rechtlich absichern würde. Problematisch wäre daher allenfalls, wenn Staatsanwaltschaften Anträge wegen Überlastung aufgrund von notwendigen Anhörungen ablehnen würden oder die zeitliche Verzögerung der Beantragungsprozesse durch die Anhörung regelmäßig aus dem Ruder liefe. Für diese – uns noch nicht bekannten Fälle – müsste dann aber im Wege der praktischen Konkordanz die Anhörungspflicht dahingehend modifiziert werden, dass diese bei unverhältnismäßigem Aufwand entfällt. Ähnliche Regelungen bestehen auch schon für die Informationspflicht nach erfolgter Datenerhebung für den/die Forschende*n (Art. 14 Abs. 5 lit. b DSGVO).
6.4.6 Umgang mit abschlägigen oder modifizierenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaften
Trotz aller Bemühungen kann es dazu kommen, dass das Akteneinsichtsgesuch nicht wie beantragt beschieden wird. Dies ist glücklicherweise sehr selten der Fall und betraf im Projekt zum »einvernehmlichem Missbrauch« etwa im Ergebnis nur zwei von 52 beteiligten Behörden.[54] Im Zuge der Erhebungen für das Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« wurde bei Beteiligung von 77 Staatsanwaltschaften lediglich auf eine Akteneinsicht komplett verzichtet, da diese nur vor Ort gewährt wurde und die Einsicht aufgrund der Entfernung mit unverhältnismäßig hohem Zeit- und Kostenaufwand verbunden gewesen wäre.[55] In Zuge beider Forschungsprojekte konnten wir Bedenken seitens der Staatsanwaltschaften regelmäßig durch eine schriftliche oder – in der Praxis besser – telefonische Kontaktaufnahme beseitigen. Der Dialog ist hier als effizientes und schnellstes Vorgehen stets das Mittel der ersten Wahl, zumal es gegen das »Wie« der Einsichtsgewährung überhaupt keinen Rechtsbehelf gibt (§ 32 f Abs. 3 StPO). Gerade für die Frage eines Aktenversands hilft es unserer Erfahrung nach immens, telefonisch den Grund für eine Versagung/Auflage zu erfragen, was oftmals offenbart, dass »lediglich« Unklarheiten betreffend das Datenschutzkonzept bestehen, die durch entsprechende Erklärungen ausgeräumt werden können. Andernfalls hilft es, gemeinsam mit der Behörde mögliche Alternativen zum Aktenversand an die Universität zu erörtern. Eine solche ist etwa in der Form denkbar, dass die Akten an eine wohnortnahe Staatsanwaltschaft, ein Gericht[56] oder aber auch eine/n Rechtsanwält*in zur Einsichtnahme in die dortigen Räume übersendet wird.
Kommt es gleichwohl zu einer endgültig abschlägigen oder mit dem Forschungsvorhaben unvereinbaren, einschränkenden Entscheidungen über das »Ob« der Einsicht, stellt sich die Frage nach einem möglichen Rechtsschutz. Statthaft wäre insofern nach überwiegender Ansicht und unbestrittener Praxis der Rechtsschutz in Justizverwaltungsangelegenheiten gemäß §§ 23 ff. EGGVG zu den Oberlandesgerichten,[57] wobei ergänzend mit dem Justitiariat die Vertretungsberechtigung für die Universität erörtert werden müsste. In aller Regel wird von derartigen Maßnahmen allerdings abzuraten sein, dürfte das Verfahren nicht selten das Projekt zeitlich verzögern und die Gefahr »verbrannter Erde« für künftige Forschungsvorhaben nicht von der Hand zu weisen sein. Zu raten ist zu derlei Schritten allenfalls, wenn ohne die begehrte Akteneinsicht das Forschungsvorhaben insgesamt zu scheitern droht, was angesichts der regelmäßig hohen Auswertungsquoten bei Strafverfahrensaktenanalysen kaum vorkommen dürfte, oder, wenn der Bescheid der Staatsanwaltschaft ein ganz grundsätzliches Fehlverständnis von der Bedeutung empirischer Rechtstatsachenforschung besorgen lässt. Einen solchen Fall konnten wir indes nicht feststellen, vielmehr stießen unsere Forschungsprojekte auf breite Unterstützung und oftmals auch auf positiv geäußertes Interesse.
6.4.7 Kosten
Hingewiesen sei zuletzt noch auf die mit dem Projekt verbundenen Kosten. Diese fallen der Universität zur Last (s. o.), wozu es aus unserer Sicht keine zumutbare Alternative für den/die Doktorand*in gibt. Insofern sollte die Finanzierung des gesamten Projekts vorab geklärt werden. Für eine überschlägige Berechnung ist folgendes zu bedenken: Universitäten genießen soweit ersichtlich in allen Bundesländern sachliche Gebührenfreiheit (z. B. § 122 Abs. 1 Nr. 3 JustG NRW). Hierunter fallen nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift jedoch nicht die Auslagentatbestände, die gemeinsam mit den Gebühren vom Gesetz als »Kosten« definiert werden (§ 1 Abs. 1 JVKostG). Auch die Universitäten haben daher pro Sendung[58] die Aktenversendungspauschale von 12,– € nach § 4 Abs. 1 JVKostG i.V.m. Vorbem. 2 zur Anlage zum JVKostG, KV 9003 GKG zu tragen. Während diese Kosten in der Praxis nach unserer Erfahrung meist nicht erhoben wurden, fallen in jedem Fall in vergleichbarem Umfang für die Rücksendung Kosten für Verpackungsmaterial und Porto an. Auch der Versand der Auskunfts- und Akteneinsichtsanträge ist in diesem Zusammenhang als Kostenfaktor (Kopien, Umschläge und Porto) nicht zu vernachlässigen, ebenso wenig wie etwaige Lizenzgebühren für Softwares. Schließlich erfordert die Datenerhebung »auf Papier« das Anfertigen von Erhebungsbögen in entsprechender Stückzahl.
7 Die Auswertungsphase
Mit der Übersendung der ersten Akten beginnt die Auswertungsphase. Über die ein- und wieder ausgehenden Akten und gegebenenfalls gewährte Akteneinsichtsfristen sollten genaue Aufzeichnungen (etwa über eine Excel-Tabelle) geführt werden. Dies ist nicht nur für die spätere Darstellung der Vorgehensweise in der Dissertation relevant: Nicht selten erhielten wir Rückfragen zum Aktenverbleib, lange nachdem wie die Akten zurückgesendet hatten. In solchen Fällen ist es freilich sehr hilfreich, die Sendung über einen Postdienstleister nachverfolgen zu können[59], um sich so zu »entlasten«. Tatsächlich klären sich die potentiellen Aktenverluste regelmäßig als behördeninterne »Irrläufer« auf, die zwar bei der Staatsanwaltschaft eingingen, aber dann irrtümlich nicht an den/die Sachbearbeiter*in gelangten.
7.1 Arbeit mit dem Erhebungsinstrument
Nach Eingang der Akten sollte zunächst überprüft werden, ob überhaupt die richtige Akte übersandt wurde und diese mit Blick auf den Erhebungsbogen inhaltlich vollständig ist. Im Zuge des Forschungsprojektes »Sexueller Missbrauch von Kindern und Schuldunfähigkeit« passierte es etwa des Öfteren, dass die für die Forschung relevanten Schuldfähigkeitsgutachten als Sonderbände angelegt und nicht direkt mit der Akte übersandt wurden. In diesen Fällen verzögerten die dann notwendigen »Nachforschungen« die Aktenauswertung nicht unerheblich.
Sodann sollte eine Grobdurchsicht erfolgen, um zu prüfen, ob die übersendeten Akten tatsächlich auf die definierten Suchparameter passen, also einschlägig sind. Gerade das Vorgehen über die Verfahrensinformationssysteme ist insoweit bisweilen fehleranfällig.[60] Für die Arbeit mit dem Erhebungsbogen empfehlen wir, zusätzlich zum Statistikprogramm mit einer Papierfassung des Bogens zu arbeiten und diesen in Einklang mit dem Datenschutzkonzept aufzubewahren. Die so erhobenen Daten sollten dann zur Vermeidung von Flüchtigkeitsfehlern in regelmäßigen Abständen in das verwendete Computerprogramm übertragen werden; notwendige Voreinstellungen können bereits mit Fertigstellung des Bogens vorgenommen werden. Diese scheinbar doppelte Arbeit ist wichtig, um (Tipp-)Fehler noch korrigieren zu können, auf die man andernfalls erst bei Ausgabe der Variablenwerte stoßen würde. In aller Regel lässt sich eine Korrektur des Datensatzes dann über den Papierbogen noch erreichen, da der Fehler regelmäßig nicht in beiden Versionen auftaucht. Zudem bleibt durch die doppelte Ausführung eine abschließende Kontrolle der eigenen Forschungsdaten möglich.
7.2 Hypothesenprüfung und Darstellung
Liegt nach Auswertung aller Akten ein vollständiger Datensatz vor, können die aufgestellten Hypothesen geprüft und die so gefundenen Ergebnisse verschriftlicht werden. Hierbei handelt es sich in der Theorie nur noch um den Vollzug früherer Überlegungen, da die statistische Durchführbarkeit schon in der Konzeptionsphase erörtert wurde. Gleichwohl kämpfen gerade Jurist*innen aufgrund des nicht unerheblichen Zeitablaufs seit der Konzeption der Studie oftmals gegen das Vergessen an und benötigen eine Auffrischung ihrer Kenntnisse. Als vorteilhaft hat sich erwiesen, schon während der Auswertungsphase »ein Auge« auf den Forschungsfragen und Hypothesen zu halten und sich begleitende erste Notizen anzufertigen.
Nicht zuletzt stellt dann das verwendete Statistikprogramm die/den Forschende*n nunmehr vor die Herausforderungen der praktischen Anwendung. Viele Fragen der Inferenzstatistik lassen sich zum Beispiel viel effizienter lösen, wenn die Befehle nicht über die Bedienflächen, sondern per Syntax gegeben werden. Es empfiehlt sich, um entsprechende »Kniffe« nutzen zu können, auch in dieser Phase, die aufgebauten Hilfestrukturen (s. o. 4.) zu reaktivieren und so eine reibungslose und fruchtbare Auswertung abzusichern.
Bei der Darstellung der Ergebnisse sollte sich nach einer Darstellung der Untersuchungsanlage dann an der Struktur des Erhebungsbogens orientiert werden (s. o. 5.1.). Als hilfreich hat es sich aber erwiesen, der detaillierten Auswertung eine Darstellung der zentralen Ergebnisse vorauszustellen, um auch dem/der eiligen Leser*in einen Überblick zu geben.
8 Die Einführung der e-Akte in Strafsachen: Ein Ausblick zwischen Utopie und Realität
Die vorgestellten Methoden und Hinweise werden auch in Zukunft weiterhin zu beachten sein. Eine Änderung an § 476 ff. StPO ist zurzeit nicht geplant. Jedoch bestimmt § 32 StPO in der ab dem 01.01.2026 gültigen Fassung[61], dass die Akten spätestens zu diesem Zeitpunkt auch im Strafverfahren elektronisch zu führen sind (e-Akte). Wo die elektronische Aktenführung bislang bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten in Strafsachen noch eher die Ausnahme darstellen dürfte, sind Strafverteidiger*innen bereits heute für allgemeine Angaben gehalten (§ 32d S. 1 StPO) und u. a. für die Berufungs- und Revisionseinlegung sowie -begründung verpflichtet (§ 32d S. 2 StPO), ihre Eingaben elektronisch nach § 32a Abs. 4 StPO zu tätigen. In der Praxis geschieht dies über das »besondere elektronische Anwaltspostfach« (beA). Für die Akteneinsicht ist spätestens ab 2026 § 32 f StPO (Form der Gewährung der – dann elektronischen – Akteneinsicht) zu beachten. Dieser regelt die Modalitäten der Akteneinsicht, ohne die materielle Anspruchsgrundlage in § 476 StPO zu modifizieren. § 32 f Abs. 1 StPO bestimmt als Grundform der Akteneinsicht künftig die Übermittlung auf einem sicheren Übermittlungsweg (§ 3 StrafAktEinV) oder durch bereitstellen des Inhalts zum Abruf (§ 2 StrafAktEinV). Für Forschende, die nicht an Systeme wie das beA angeschlossen sind, dürfte gerade der Weg über das Akteneinsichtsportal künftig das Mittel der Wahl werden. Denn hier kann die einsichtgewährende Behörde für den/die Nutzer*in eine temporäre Kennung anlegen, die auf dem Postweg übermittelt wird.[62] Die Dokumente sind durch Staatsanwaltschaften und Gerichte in druckbarer, kopierbarer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form im Dateiformat PDF/A zu erstellen (§ 2 DokErstÜbV).
Bei dieser Ausgangslage ist die Utopie der Forschenden schnell gezeichnet: Durchgängig geführte elektronische Akten könnten mit einem Knopfdruck übermittelt werden, ohne, dass die Behörde hierdurch den Zugriff auf die Akte verliert. Dies würde es (zumindest technisch) ermöglichen, auch laufende Ermittlungs- und Hauptverfahren zu beforschen und hierzu zu verschiedenen Zeitpunkten mehrfach Einsicht zu nehmen. Wie sich in der Betrachtung gezeigt hat, begründet wissenschaftliche Forschung regelmäßig – jedenfalls aber ab dem Moment des § 169a StPO, der auch dem Verteidiger ein umfassendes Einsichtsrecht vermittelt – keine Gefährdung der Zwecke des Strafverfahrens. Dies gilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt, dass § 32c StPO die Einführung standardisierter Formulare vorsieht und so schon behördenseits mittels KI eine effiziente Schwärzung und damit Anonymisierung personenbezogener Daten vorgenommen werden könnte. Für den/die Forscher*in selbst können standardisierte Formulare ebenfalls die Möglichkeit schaffen, mittels KI eine semi-automatische Aktenanalyse, z. B. im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Delikt etc. vorzunehmen.
Wie erste Praxiserfahrungen aus der Pilotierung der e-Akte in Zivilsachen zeigen, dürfte es allerdings noch ein langer Weg bis zum Eintritt dieser Utopie sein. Mangelnde Kompatibilität zwischen e-Akte und beA nötigen oftmals zum Ausdruck elektronischer Dokumente. Hinzukommen die Eingaben von Bürger*innen und anderen nicht zur Übermittlung elektronischer Dokumente Verpflichteten, sodass die »Scanstraßen« der Gerichte zurzeit oftmals lange Wartezeiten vermelden. Aus der Perspektive einer Aktenanalyse besonders grausig ist die in der Übergangsphase der Digitalisierung insbesondere schon in der Zivilgerichtsbarkeit vorzufindende Praxis, sogenannte Hybridakten zu führen. Hierunter versteht man Verfahren, die erst ab einen bestimmten Verfahrenszeitpunkt, etwa der Einlegung der Berufung, von einem Gericht elektronisch weitergeführt werden. In diesen Fällen ist es verbreitete Praxis, das erstinstanzliche Vorgeschehen nicht zu digitalisieren, sondern nur das Berufungsverfahren digital zu bewältigen und lediglich ausgewählte Dokumente wie Beschlüsse und Urteile nochmals in einem Sonderband zur Papierakte zu geben. Sollen diese Übergangsverfahren mittels Aktenanalyse untersucht werden, bleibt nur der Weg, die Akte sowohl klassisch analog als auch digital einzusehen.
Leider deutet nichts darauf hin, dass sich die Lage für Forschende im Strafprozess besser darstellen wird. Im Gegenteil verbietet bereits das Beschleunigungsgebot, lange Wartezeiten für Digitalisierungen von Aktenbestandteilen hinzunehmen. Dazu kommt, dass mit der Vielzahl von sich selbst verteidigenden Beschuldigten, Sachverständigen, Jugendämtern und Bewährungshelfer*innen überdurchschnittlich viele Personengruppen am Strafverfahren beteiligt sind, die zumindest derzeit nicht zur Übermittlung elektronischer Dokumente durch § 32 StPO verpflichtet werden und damit ohnehin die Scanstellen auslasten werden. Bedauerlicherweise dürfte für das Strafverfahren daher eine recht lange Übergangsphase bis zur Volldigitaliserung zu befürchten sein. Es erscheint ratsam, für diese Phase nach Möglichkeit die Untersuchung auf die Auswertung von Papierakten zuzuschneiden.
9 Fazit
Die Entscheidung für ein kriminologisch-empirisches Dissertationsprojekt fällt Vielen nicht leicht. Nachwuchswissenschaftler*innen sind jedoch in keiner der Projektphasen von der Konzeption, über die Beantragung bis zur Auswertung auf sich alleine gestellt, sondern können vielfältige Hilfestellungen erlangen. Trotz der – keinesfalls abschließenden – Anzahl der in diesem Beitrag aufgelisteten Hinweise, Tipps und Tricks ist zu unterstreichen, dass in der Praxis ganz überwiegend ein Verständnis für die große Relevanz von empirischer Rechtstatsachenforschung vorzufinden ist. Ein solide konzipiertes Forschungsprojekt darf sich daher einer breiten Unterstützung gewiss sein, die wir – und hierfür möchten wir uns noch einmal bei allen Beteiligten herzlich bedanken – erfahren durften.
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Rechtsanwältin
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