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Der Streit um den Schlieffenplan

Terence M. Holmes, Der Schlieffenplan des Friedrich von Bernhardi: Zur Beilegung eines mythischen Streitfalls
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Veröffentlicht/Copyright: 24. Oktober 2017
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Terence M. Holmes, Der Schlieffenplan des Friedrich von Bernhardi: Zur Beilegung eines mythischen Streitfalls


In: MGZ, 63 (2004), 2, S. 429–443; https://doi.org/10.1524/mgzs.2004.63.2.429

Spätestens seit Gerhard Ritters bahnbrechender Studie aus dem Jahre 1956 darf die seit den 1920er Jahren verbreitete Legende, der Schlieffenplan sei ein unfehlbares Rezept für den entscheidenden Sieg in einem Krieg gegen Frankreich gewesen, als widerlegt betrachtet werden.[1] Gleichwohl kam es in der Forschung zu intensiven Auseinandersetzungen über Sinn, Zweck und Bedeutung der von Generalstabschef Alfred von Schlieffen um die Jahreswende 1905/06 vorgelegten Denkschrift »Krieg gegen Frankreich«. Ritter hatte Schlieffens Plan für eine gewaltige Westoffensive, die unter Bruch der niederländischen und belgischen Neutralität und unter Umgehung von Paris zur Einkesselung und Vernichtung der französischen Armee führen sollte, als »ein kühnes, ja überkühnes Wagnis« bezeichnet.[2] Denn die minutiösen Operationsanweisungen beruhten auf allzu vielen Unwägbarkeiten und rechneten mit deutschen Truppen, die überhaupt nicht vorhanden waren. So konnte dieser Plan nicht funktionieren. Folgt man Ritters harschem Verdikt stellt sich die Frage, was hinter Schlieffens Denkschrift steckte. War der Mann seiner Aufgabe wegen seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr gewachsen oder verfolgte er unterschwellig verborgene Ziele? Warum, darüber hinaus, hielt der deutsche Generalstab in der Folgezeit an den Grundprinzipien des Schlieffenplans fest und verfuhr im Sommer 1914 dementsprechend?

Im Jahre 2002 löste der amerikanische Historiker Terence Zuber eine heftige Debatte mit der Behauptung aus, der Schlieffenplan als Operationsanweisung habe nie existiert. Der Schlieffenplan sei vielmehr eine Erfindung von Generalstabsoffizieren, um ihr Versagen an der Marne im September 1914 zu kaschieren. Schlieffen selber habe aber eigentlich nur mithilfe der Denkschrift seinen Rüstungsforderungen Nachdruck verleihen wollen.[3] Diese provokanten Thesen riefen entschiedene Reaktionen hervor. Zubers Argumente wurden von zahlreichen Fachleuten zerpflückt.[4] Insbesondere Gerhard P. Groß konnte anhand bislang unbekannter Dokumente nachweisen, dass der Schlieffenplan sehr wohl existierte und durchaus als Operationsanweisung gedacht war.[5] Annika Mombauer zeigte zudem, dass der jüngere Moltke als Nachfolger Schlieffens keineswegs von dessen Überlegungen überzeugt war und vielmehr einen eigenen Operationsplan erarbeitete, der im Sommer 1914 umgesetzt wurde.[6] Mombauer widerlegte das häufig immer noch gängige schiefe Bild, der deutsche Generalstab habe im Sommer 1914 auf der Grundlage des Schlieffenplans operiert. Wenn die »Zuber-Debatte« aber einen positiven Effekt hatte, dann die Erkenntnis, dass reine Textexegese und militärimmanente Betrachtungen nicht ausreichen. Ohne die zeitgenössischen Rahmenbedingungen, die internationale Lage, die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, die verschiedenen Mentalitäten sowie die sozialen und kulturellen Entwicklungen kann die Geschichte des Schlieffenplans nicht verstanden werden. Es braucht daher all das, was die moderne Militärgeschichte ausmacht.

Einer der wichtigsten Opponenten Zubers war der britische Historiker und Germanist Terence M. Holmes. Ihm ging es erkennbar darum, dem Schlieffenplan und dessen Autor Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die berühmte Denkschrift Schlieffens sei missverstanden worden. Es habe sich keineswegs um Überlegungen für den Zweifrontenkrieg gehandelt, sondern um einen Operationsplan für die konkrete Situation des Jahres 1905, als die Möglichkeit bestand, dass das Deutsche Reich nur einen Krieg gegen Frankreich alleine führen musste. Auf die inneren Widersprüche dieses Plans, die rigiden und jede Flexibilität vermissenden Anweisungen sowie die inhärente Hoffnung auf Glücksumstände ging Holmes allerdings nicht näher ein.[7] Detail- und kenntnisreich hielt er Zuber dessen Fehlinterpretationen, sachliche Ungenauigkeiten und mangelnde Faktenkenntnis vor. Kaum eine Kritik an Zuber war härter.[8] Doch auch anderen Autoren, die den Schlieffenplan kritisch bewertet hatten und seiner Meinung nach falsch verstanden, widersprach Holmes in seinen Veröffentlichungen mit Entschiedenheit. Wie zu zeigen sein wird, führte dies jedoch mitunter zu merkwürdigen Resultaten.

Noch zu Lebzeiten sah sich Schlieffen zum Teil heftiger Kritik von Leuten ausgesetzt, die ihn zum Teil noch aus gemeinsamer Zeit im Generalstab persönlich kannten. Manche hielten Schlieffen schlichtweg für einen Versager.[9] Die operative Planung des Generalstabs unterlag allerdings strengster Geheimhaltung, sodass offene Kritik am Schlieffenplan natürlich nicht aufkommen konnte. Da aber Schlieffen nach seiner Entlassung publizistisch tätig wurde und dabei seine Grundüberlegungen zum modernen Krieg sowie zu Aufgaben und Möglichkeiten der deutschen militärischen Führung offenbarte,[10] war eine öffentliche Debatte über prinzipielle Fragen durchaus gestattet. Vor allem der ehemalige Generalstabsoffizier und prominente Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi setzte sich intensiv mit Schlieffens Ansichten auseinander. In seinem im Jahre 1912 veröffentlichten Werk »Vom heutigen Kriege« äußerte er sich durchaus kritisch zu Schlieffens Überlegungen.[11] Ritter und andere Autoren betrachteten Bernhardi daher als Kronzeugen für die bereits unter Zeitgenossen kursierende Kritik an Schlieffens Grundgedanken von der Umfassungsschlacht.[12]

Hier nun setzt Terence M. Holmes’ Miszelle an, die im Folgenden einer kritischen Analyse unterzogen werden soll.[13] Die »Militärgeschichtliche Zeitschrift« (MGZ) bot Holmes ein international gewichtiges Forum, um seine Position in dem sich damals in vollem Gange befindlichen Streit über den Schlieffenplan weiter zu verfeinern. Auch wenn es sich nur um eine Miszelle handelte, so war doch Holmes’ Beitrag bedeutend genug, um als zentrale Referenz im WIKIPEDIA-Eintrag zur Person Friedrich von Bernhardis zu fungieren.[14] Darüber hinaus aber ist diese Miszelle schon deswegen interessant, weil sie Auskunft über Holmes’ Arbeitsweise gibt und grundsätzliche Fragen zur Methodik der modernen Militärgeschichte aufwirft.

Holmes unternimmt den Versuch, die Positionen Schlieffens und Bernhardis zu versöhnen, um den späteren Kritikern des Schlieffenplans ein Argument zu nehmen. Im Mittelpunkt steht dabei die vor 1914 intensiv diskutierte Frage, ob im Zeitalter der Massenheere, der gesteigerten Feuerkraft von Artillerie und Infanterie sowie angesichts der starken französischen Armee und der mächtigen Grenzbefestigungen die operative Frontaloffensive oder der Flankenangriff das probate Mittel sei. Konkret setzt sich Holmes mit den theoretischen Positionen Schlieffens und Bernhardis zum Thema Durchbruch oder Umfassung auseinander, indem er die oben zitierten Schriften der beiden Autoren einer genauen Analyse unterzieht. Holmes kommt dabei zu dem Schluss, dass die Ansichten Schlieffens und Bernhardis gar nicht so weit auseinanderlagen. Ausführlich zeigt Holmes, dass sich Bernhardi der großen Risiken und der damit verbundenen enormen Verluste eines Frontalangriffs durchaus bewusst war. Die von ihm angeblich favorisierte Durchbruchsschlacht hielt demnach auch er für eine Ausnahmeerscheinung, die nur unter besonders günstigen Bedingungen und mit zahlenmäßiger Überlegenheit am entscheidenden Punkt überhaupt Aussicht auf Erfolg habe. Bernhardis Kritik an Schlieffen, dieser habe in seinen Aufsätzen die Durchbruchsschlacht kategorisch und unberechtigter Weise für unmöglich erklärt, hält Holmes für deplatziert, denn Schlieffen habe dies keineswegs derart zum Ausdruck gebracht.

Vielmehr habe Schlieffen den Durchbruchsgedanken durchaus ernsthaft verfolgt und in seine Überlegungen miteinbezogen. In seinen Kriegsspielen habe er den Berichten von Beteiligten zufolge, den Durchbruch unter bestimmten Bedingungen für möglich gehalten, ähnlich wie Bernhardi. Allerdings erschien ihm die Möglichkeit eines Durchbruchs dann am wahrscheinlichsten, wenn der Gegner im Zuge einer Umfassungsoperation sich gezwungen sah, den eigenen Flügel zu verlängern und damit seine Front ausdünnte. Den Frontalangriff hielt er zudem auch deshalb für sinnvoll, weil der Feind dadurch festgehalten werden sollte, um die Umfassung an der Flanke zu erlauben. Aber eben diese Umfassung blieb für Schlieffen das entscheidende Mittel. Holmes analysiert sodann Bernhardis eigene Überlegungen für einen Krieg gegen Frankreich. Dabei entdeckt Holmes erstaunliche Übereinstimmungen mit Schlieffen. Auch Bernhardi kam demnach zu dem Schluss, dass ein Flankenangriff durch die Niederlande und Belgien der beste Weg zum Erfolg sei. So machte sich Bernhardi eine Version des Schlieffenplans zu eigen.[15] Wörtlich: »Es ist Bernhardis eigener Kriegsplan, der an engagierter Ernsthaftigkeit dem Schlieffens keineswegs nachsteht.«[16]

Im Endeffekt, so Holmes, bleibt von dem in der Forschung postulierten Antagonismus zwischen Schlieffen und Bernhardi wenig übrig. Bernhardi habe zwar in Detailfragen durchaus heftige Kritik an Schlieffen geübt. Doch in der Kernfrage waren sie sich ziemlich einig, weil sich beide am Vorbild des preußischen Sieges in der Schlacht bei Leuthen (5. Dezember 1757) orientierten, als die »schiefe Schlachtordnung« König Friedrichs II. durch einen Flankenangriff zum Erfolg führte. So lautet Holmes’ Fazit:

»Angesichts der schicksalhaften Herausforderung des Krieges gegen Frankreich haben sich Bernhardi und Schlieffen in der Umfassungsstrategie, dem vermeintlichen Hauptaspekt ihres Antagonismus, vollends zusammengefunden. Von dem legendären Streitfall bleibt somit nicht mehr viel übrig.«[17]

Nun kann man darüber streiten, ob Holmes’ Argumentation den Tatsachen gerecht wird. Als gelernter Literaturwissenschaftler versteht er ja von Textexegese eine ganze Menge. Meiner Ansicht nach spielt Holmes die Schärfe von Bernhardis Attacken auf Schlieffen jedoch allzu sehr herunter. So warf Bernhardi seinem Kontrahenten Einseitigkeit und eine mechanische Auffassung von Feldherrentum vor, die einer Art Beamtenmentalität entspringt. Wörtlich:

»Also Schwächung der Front, um die Mittel zur Umfassung der feindlichen Flügel zu gewinnen: das scheint das einzige, was selbst der größte Feldherrngenius heute ersinnen kann, um den Feind zu schlagen. Dabei wird stillschweigend angenommen, daß der Gegner nichts gegen dieses Manöver unternehmen könne. Freilich wird das nicht ausdrücklich ausgesprochen, mit keinem Wort aber der Mittel Erwähnung getan, die eine Abwehr der strategischen Umfassung ermöglichen. Das ganze System würde ja auch hoffnungslos zusammenbrechen, wenn die Umfassung nicht unter allen Umständen durchführbar und siegreich wäre. So scheint es fast, als müsse sich der Feind eben mit Notwendigkeit umfassen lassen und werde dann auch mit Notwendigkeit geschlagen.«[18]

Geradezu prophetisch erscheint folgende Passage:

»Andererseits ist es außerordentlich gefährlich, den Erfolg lediglich und ausschließlich durch die Umfassung anzustreben. Oft wird sie überhaupt nicht möglich sein. Wenn das französische Heer zwischen Belgien und der Schweiz aufmarschiert, so kann es überhaupt ohne Verletzung neutralen Gebiets nicht umgangen werden. Wird aber der Angriff durch Belgien oder die Schweiz geführt, so vermehrt sich die Zahl der Feinde durch die Armeen dieser beiden Staaten, und der Umfassungsversuch würde auf neue starke Fronten stoßen [...] Wer mit dem Gedanken zu Felde zieht, nach einem bestimmten System siegen zu wollen, der wird den Lorbeer schwerlich um seine Schläfen winden.«[19]

Das alles ist starker Tobak und liest sich in der Tat wie eine massive Grundsatzkritik an Schlieffens Auffassungen und damit indirekt auch am Schlieffenplan.

Wichtiger als eine Auseinandersetzung um die richtige Interpretation von Bernhardis Ausführungen sind jedoch grundsätzliche Dinge. Es stellt sich nämlich die Frage, was Holmes mit seiner vehementen Verteidigung des Schlieffenplans eigentlich bezweckt. Was soll das heißen, wenn Holmes sowohl Bernhardi als auch Schlieffen »engagierte Ernsthaftigkeit« zuspricht? Es ist ja nun sattsam bekannt, dass Schlieffen und erst recht Bernhardi hemmungslose Kriegstreiber waren, die nur auf die Gelegenheit warteten, endlich losschlagen zu können. So schrieb Bernhardi in der Einleitung seines Buches, Deutschland sei überbevölkert und brauche daher mehr Raum. Krieg sei deshalb unausweichlich. Wörtlich:

»Wie die Weltlage sich heute gestaltet hat, müssen wir einen solchen Krieg sogar als Notwendigkeit betrachten, von der die gesamte Weiterentwicklung unseres Volkes abhängt.«

Und weiter:

»Ein solcher Zustand schließt die größten Gefahren ein, nicht nur für den Frieden Europas, der uns doch nur in zweiter Linie am Herzen liegen kann, sondern vor allem für uns selbst. Wir sind es, deren wirtschaftliche, nationale und politische Entwicklung gehemmt und beeinträchtigt wird; wir sind es, die unsere mit edelstem Blut erkaufte Weltstellung bedroht sehen. Mit allen Mitteln müssen wir daher eine Klärung der europäischen Machtverhältnisse erstreben. Es hängt von ihr nicht nur die Möglichkeit ab, die weltpolitischen Pläne durchzuführen, die der Größe und den Bedürfnissen unseres Volkes entsprechen, sondern es steht auch unsere ganze Zukunft als Kulturvolk auf dem Spiel.«[20]

Hält Holmes derartige Auffassungen wirklich für einen Ausdruck »engagierter Ernsthaftigkeit«? Holmes’ kritiklose Hinnahme eines derartigen Bellizismus erscheint doch sehr bedenklich.

Ferner stellt sich die Frage, ob der Schlieffenplan wirklich so alternativlos war, wie Holmes suggeriert. Der Überfall auf Belgien (bei Schlieffen kamen noch die Niederlande hinzu) war eine politische Dummheit sondergleichen. Er ermöglichte es der britischen Regierung auf Frankreichs Seite in den Krieg einzutreten und löste somit einen Weltkrieg aus.[21] Bei Holmes werden diese Zusammenhänge mit keinem Wort erwähnt. Bernhardi hatte sogar einmal überlegt, einen möglichen Zweifrontenkrieg defensiv zu eröffnen, ja sogar die eigenen Truppen von den unmittelbaren Grenzen zurückzuziehen, um den Feinden die Last der Offensive unter furchtbaren Verlusten aufzubürden und dann später zum Gegenangriff überzugehen.[22] Ein solches Vorgehen im Kriegsfall wäre in der Tat politisch sinnvoll gewesen, da das Deutsche Reich auf diese Weise nicht als Angreifer erschienen wäre. Doch der Generalstab blieb durchweg bei einer offensiven Planung. Warum dies so war und ob das besonders klug war, wird bei Holmes jedoch nicht einmal ansatzweise diskutiert. Stattdessen folgt Holmes einfach den Prämissen der damaligen Militärs.

Damit sind wir beim Kern der Sache. Holmes’ Arbeiten folgen einer militärimmanenten und positivistischen Methode, die kaum über den Tellerrand hinausblickt. Die politischen Dimensionen des Schlieffenplans kommen bei ihm ebenso wenig zur Sprache, wie das sozio-kulturelle Milieu des deutschen Offizierkorps und die damit verbundenen Mentalitäten. Deshalb gelingt es auch Holmes nicht, die notwendige Distanz zu seinem Thema und den damit verbundenen Akteuren aufzubauen. Nur mit einem multimethodischen Ansatz kann jedoch moderne Militärgeschichte reüssieren und Erklärungen liefern. Das hat auch der wissenschaftliche Streit um den Schlieffenplan gezeigt, der zwangsläufig in ganz andere Dimensionen vorgedrungen ist als die reiner Militärfachlichkeit.

Published Online: 2017-10-24
Published in Print: 2017-9-26

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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