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Ex ante-Betrachtung bei Notwehr

Veröffentlicht/Copyright: 14. Februar 2023
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Ex ante-Betrachtung bei Notwehrhttps://doi.org/10.1515/jura-2023-2001Leitsatz:Für die zur Beurteilung der Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung gebo-tene ex ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objekti-ven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation desAngeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildendenden tatrich-terlichen Überzeugung darstellt. Geprägt wird die Tatsituation eines Verteidigersdabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont;maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspek-tive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers. (Leitsatz d. Gerichts).BGH, Be-schluss v. 25.10.20225 StR 276/22.Sachverhalt:Der Angeklagte A und der Mitangeklagte M trafen sich mit dem Neben-kläger N, um von diesem eine Pistole für 4000Euro zu kaufen. A hatte eine Schuss-waffe dabei, um sich im Fall einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen zu können.Es kam zu Unstimmigkeiten und N verließ den Ort des Treffens, um nach wenigenMinuten mit Z zurückzukehren. N bestand auf Zahlung vor Übergabe der Waffe,woraufhin A das Geld aus seiner Jackentasche holte, um es N zu zeigen. N sprühtenun mit einem Pfefferspray in Richtung des A, der davon auch im Gesicht getroffenwurde. In diesem Zusammenhang entriss Z dem A das Geld. A, der ein besondersgeübter Sportschütze ist, holte sodann den mitgeführten Revolver aus der Tasche. Nund Z sahen dies und rannten zum in der Nähe abgestellten Motorrad des N. A liefihnen hinterher und forderte sie erfolglos zur Rückgabe des Geldes auf. Da beideweiter flüchteten, schoss er zweimal in schneller Folge gezielt auf Oberkörperhöhein Richtung der etwa zwei bis drei Meter entfernten N und Z, verfehlte sie jedoch. Zwar bereits in einen Stichweg abgebogen als sich A noch einmal für einen kurzenAugenblick umdrehte. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Meter entfernte A schoss einweiteres Mal gezielt auf N und traf diesen an der Körpervorderseite unterhalb desSchlüsselbeins. Der lebensgefährlich verletzte N schaffte es dennoch, weiter zuflüchten und A brach die weitere Verfolgung ab, da er davon ausging, die Fliehendennicht mehr einholen zu können.Problem:Das Landgericht hat die drei gezielt abgegebenen Schüsse als Einheitangesehen und aufgrund dessen eine Rechtfertigung des A insgesamt mangels Er-forderlichkeit der Notwehr abgelehnt. Der Senat rügt dies und mahnt eine differen-zierte Betrachtung an. Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit sei zwischen denersten beiden, gezielt auf den Oberkörper des N abgegebenen Schüsse und demdritten Schuss zu unterscheiden. Während das Ausgangsgericht hinsichtlich derersten zwei Schüsse zu Recht eine Erforderlichkeit verneint habe, seien die erforder-lichen Feststellungen im Hinblick auf den dritten Schuss nur unzureichend erfolgt,so dass der Senat die Anforderungen an die Notwehrhandlung nicht abschließendbeurteilen könne. Insoweit muss grundlegend die Frage aufgeworfen werden, wel-cher Maßstab an die Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung anzulegen und auswelcher Perspektive diese zu beurteilen ist.I. Notwehrlage und abwägungsfeindliches NotwehrrechtUm sich auf Notwehr berufen zu können, müsste ein notwehrfähiges Rechtsgutangegriffen worden sein. Studierende denken in Fällen, in denen nicht Leib undLeben betroffen sind, sondern wie hier das Eigentum angegriffen wird, häufig nichtan Notwehr, sondern prüfen stattdessen eine Rechtfertigung kraft Notstands. Das istverständlich, denn das Notwehrrecht erfordert keine Güterproportionalität und eswirkt deshalb irritierend, dass die h.M. zur Verteidigung von Eigentum als letztesMittel auch die Tötung des Angreifers für zulässig erachtet. Aus diesem Grund willein Teil der Lehre das Tötungsverbot des Art.2 Abs.2 MRK, das eine »absichtliche«Tötung eines Menschen nur zur Abwehr rechtswidriger Gewalt gegen einen Men-schen, nicht aber bei bloßen Sachangriffen gestattet, auch auf das Verhältnis zwi-schen Staatsbürgern und nicht nur auf Träger hoheitlicher Gewalt erstrecken (zurDiskussion MüKo/Erb§32 Rn.20ff.). Die h.M geht hingegen zu Recht davon aus, dassdie Konvention im Verhältnis der Staatsbürger zueinander keine ausstrahlendeWirkung auf deren Verteidigungsrechte entfalten kann.Nach der gesetzlichen Konzeption des §32 StGB besitzt das »schneidige« Not-wehrrecht eine doppelte Grundlage. Es dient zum einen dem Individualschutz, d.h.der Verteidigung eigener Rechtsgüter und zum anderen basiert es auf dem Prinzipder Rechtsbewährung (zur dualistischen KonzeptionOttoAT §8 Rn.17). Aufgrunddieser generalpräventiven Zwecksetzung und des Grundgedankens, dass das Rechtdem Unrecht nicht zu weichen braucht, wäre es eher rechtfertigungsbedürftig, wennder Angegriffene eine Verletzung seines Eigentums zur Schonung des Angegriffenenhinnehmen müsste. Dabei soll nicht verkannt werden, dass das der Notwehr zu-grundliegende »Alles oder Nichts-Prinzip« in der Rechtsprechung de facto zu einerrestriktiven Handhabung der Notwehrvoraussetzungen führt. So kommt es nichtnur im Rahmen der Gebotenheit der Notwehr über Umwege doch zu einer ver-steckten, an sich untersagten Abwägung. Prägend ist für diese vor allem die Per-spektive, aus der etwa die Gegenwärtigkeit eines Angriffs oder die Erforderlichkeiteiner Verteidigungshandlung bestimmt wird. Ein allwissender objektiver Beobach-ter, der zudem entsprechend der für ihn relevanten Maßstabsfigur optimal handelt(hier z.B. für A der »geübte Sportschütze«), wird zwangsläufig zurückhaltender inRechtsgüter des Angreifers eingreifen als bei einer streng subjektiven Betrachtung.II. Objektive ex ante Perspektive des sorgfältig Beobachtenden1.Hier liegt unzweifelhaft eine Bedrohung rechtlich geschützter Interessendurch menschliches Verhalten und damit ein Angriff durch N und Z vor. Dieser istnoch nicht beendet und damit auch gegenwärtig, da Z und N mit dem Geld flüchteten,ohne jedoch gesicherten Gewahrsam erlangt zu haben. Der Verteidiger darf aller-dings nur ein geeignetes und erforderliches Mittel wählen, d.h. er muss von mehre-ren Verteidigungsarten diejenige wählen, die den geringsten Schaden anrichtet (dasmildeste Mittel). Insbesondere beim Einsatz lebensgefährdender Mittel ist grund-sätzlich eine Stufenfolge der Verteidigung zu wahren. Der Einsatz einer Schusswaffemuss zunächst angedroht, dann ein Warnschuss abgegeben werden und erst alsletztes Mittel darf ein Schuss gegen den Körper des Angreifers erfolgen (vgl. BGHSt40, 100). Auf eine zweifelhafte Rettungschance muss sich der Verteidiger allerdingsnicht einlassen. Hat er keine Rettungsalternative, die ex ante gleich sicher undendgültig zur Beendigung des Angriffs geeignet ist, so darf grundsätzlich nicht aufeine Handlung mit ungewissem Ausgang verwiesen werden. Der Verteidiger darfvielmehr das Mittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung desAngriffs erwarten lässt. Der Einsatz lebensgefährdender Verteidigungsmittel istdann selbst ohne vorherige Androhung gerechtfertigt.2.Bei den ersten beiden Schüssen hätte für A jedoch bei objektiver Betrachtungeine mildere Abwehrmöglichkeit bestanden, da A angesichts des geringen Abstands(zwei bis drei Meter) nicht gezielt auf den Oberkörper hätte schießen müssen. Daauch das Handlungsunrecht gerechtfertigt sein muss, bleibt außer Betracht, dass sichauch die gezielten Schüsse ex post als ungeeignete Verteidigung erwiesen haben.Weitaus schwieriger ist hingegen die Frage, ob der dritte gezielte Schuss erforderlichwar, zumal nicht aufgeklärt wurde, ob A zu Unrecht davon ausging, dass N das Geldbei sich trug. Da A lediglich auf N schoss und Z bereits erfolgreich geflohen war,hängt die Erforderlichkeit maßgeblich davon ab, wie die gebotene objektive ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Vornahme der Ver-teidigungshandlung zu erfolgen hat (ausführlich hierzu MüKo/Erb§32 Rn.130ff.).Der Senat will hierfür zwar einen umfassend über den Sachverhalt orientiertenDritten in der Tatsituation des Angeklagten heranziehen, damit aber zugleich be-rücksichtigen, wie viel Zeit dem Angegriffenen zur Abschätzung der Lage zur Ver-fügung steht. Maßgeblich könne nicht ein allwissender Beobachter, sondern nur diePerspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers sein (zutr. krit. hierzuOttoAT§8 Rn.16). Angesichts des höchst dynamischen Geschehens (Reizgasverwendungetc.) und der gebotenen Eile (auch N stand kurz davor, erfolgreich zu flüchten) neigtder Senat bei dieser Bestimmung des zugänglichen Erkenntnishorizonts dazu, einemögliche Verwechslung des Gewahrsamsinhabers der Risikosphäre des Angreiferszuzuordnen. Damit berücksichtigt er aber letztlich Umstände, die dem defensivenNotstandsgedanken entsprechen, anstatt die Verkennung der objektiven Umständedem Bereich des Erlaubnistatbestandsirrtums zuzuordnen und damit die Möglich-keit einer Fahrlässigkeitsstrafe offen zu halten.Bosch,JURA(JK), 2023, S. 384, §32Strafrecht | StGB
Online erschienen: 2023-02-14
Erschienen im Druck: 2023-02-08

© 2023 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. JURA INFO
  4. Aufsatz ZR
  5. Der Mietmangel: ein Gewährleistungsrechtsvergleich
  6. Bochumer Preisaufgabe zum Bürgerlichen Recht
  7. Sachverhalt der Bochumer Preisaufgabe
  8. Lösungsvorschlag 1 zur Bochumer Preisaufgabe
  9. Lösungsvorschlag 2 zur Bochumer Preisaufgabe
  10. Grundstudium ZR
  11. Possessorischer Besitzschutz im Internet der Dinge
  12. Grundstudium ÖR
  13. Ne bis in idem als Justizgrundrecht
  14. Repetitorium ZR
  15. Anwartschaftsrecht und Sicherungsübereignung
  16. Lehren und Lernen
  17. Recht verstehen – Eine Gebrauchsanleitung
  18. Schwerpunktbereich
  19. Die Vollstreckungsunterwerfung im Kreditsicherungsrecht
  20. Unternehmensrecht: Examensklausur zum Beschlussmängelrecht
  21. Methodik ZR
  22. ZR-Fortgeschrittenenklausur zum allgemeinen Schuld- und AGB-Recht
  23. ZR-Examensklausur zum Bauträgervertragsrecht
  24. Methodik StR
  25. StR-Fortgeschrittenenklausur zum Versuch des Wohnungseinbruchsdiebstahls und zur Mittäterschaft
  26. Methodik ÖR
  27. ÖR-Anfängerhausarbeit: Klimaschutz
  28. KARTEIKARTEN
  29. Unwirksamkeit einer Klausel zur Fernabschaltung einer Autobatterie
  30. Zum Nutzungsausfallschaden für ein beschädigtes Kfz bei vorhandenem Zweitwagen
  31. Ungarische Straßenmaut vor deutschen Gerichten: ein Fall für den ordre public?
  32. Ex ante-Betrachtung bei Notwehr
  33. Verfassungskonforme Auslegung des § 27 VersammlG und kein »nichtöffentlich gesprochene(s) Wort« i. S. v. § 201 StGB bei »faktischer Öffentlichkeit«
  34. Misslungene Schönheits-OP als Körperverletzung mit Todesfolge – Umfang der Aufklärungspflicht
  35. Versammlungsbeschränkung von Beterinnen und Betern in der Nähe einer Konfliktberatungsstelle
  36. Ausschluss von Scientology-Anhängern von kommunaler Umweltförderung
  37. Anforderungen an Widerruf und Richtigstellung von Äußerungen im Bericht des Bundesrechnungshofs
  38. Auskunftspflicht der Bundesregierung zur Zahl der im Ausland tätigen Verfassungsschutzbediensteten
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