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Gegen Immobilienspekulation und steigende Mieten?

Countering Real Estate Speculation and Rising Rents?
  • Anna Grotegut

    Anna Grotegut ist Doktorandin am Profilbereich Gesellschaft/Wissen/Umwelt der Abteilung Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Sie war von 2018-2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“. In ihrer Dissertation untersucht sie die Besteuerung von städtischen Immobilien in Deutschland und Großbritannien zwischen 1870 und 1950.

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Published/Copyright: May 12, 2022

Abstract

This article focuses on the reasons for the introduction and rapid abolition of the increment value tax on real estate in Germany between 1911 and 1913. It examines the interplay between the land reformers who campaigned for the tax and the political situation that made it possible for all parties to support an increment value tax. It highlights the fact that the tax neither fulfilled the land reform goal of combating speculation nor generated enough revenue, as was criticised. Nevertheless, the tax was exceptional because it represented the first direct financial relationship between the Empire and the municipalities. A changed political landscape made the introduction of a property tax possible, which in the eyes of many made the increment value tax redundant.

JEL Classification: H 20; H 71; N 43; R 52

1 Einleitung

Gentrifizierung, Spekulation und Wohnungsnot sind einige prominente Begriffe, die die aktuelle Berichterstattung zum Thema Immobilien prägen. Einen Vorschlag, Wohnen, insbesondere in den Städten, günstiger zu machen, unterbreitete in diesem Zusammenhang der ehemalige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans. Er äußerte im Jahr 2020 die Idee, eine Bodenwertsteuer zu erheben und löste damit erhebliche Unruhe aus. Die ihm vorschwebende Steuer solle extreme Wertzuwächse von Boden abschöpfen, wie sie etwa bei der Umwidmung in Bauland entstünden. Die Kommunen sollten von den teilweise enormen Wertzuwächsen profitieren und die dadurch eingenommenen Steuern in kommunalen Wohnungsbau investieren. Die Union kündigte prompt ihren Widerstand an, mit ihr werde es keine Steuer geben, die den Neubau von Wohnungen weniger attraktiv mache. [1] Walter-Borjans war jedoch nicht der Erste in Deutschland, der die Idee einer Bodenwertsteuer anregte. Bereits in den 1970er Jahren hatte der SPD-Oberbürgermeister von München und späterer Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Hans-Jochen Vogel, die steigenden Kosten für Wohnraum problematisiert. Als Minister holte er das Thema Bodenordnung auf die bundespolitische Ebene – jedoch mit wenig Erfolg. [2] Die von Walter-Borjans vorgeschlagene Bodenwertsteuer wäre nicht nur eine Steuer, die das Ziel hätte, Einnahmen zu genieren, sondern auch ein staatlicher Eingriff in den Immobilienmarkt, der Wohnen günstiger machen soll.

Einen solchen Eingriff forderten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits die sogenannten Bodenreformer. Sie sahen in der Spekulation mit Boden ein, wenn nicht gar das Hauptproblem der Gesellschaft und machten sie für die steigenden Mieten verantwortlich. Die Bodenreformer forderten unter anderem eine Wertzuwachssteuer auf Immobilien, die den Gewinn abschöpfen sollte, der nicht vom Eigentümer selbst erwirtschaftet wurde, sondern der auf Errungenschaften der Allgemeinheit zurückzuführen sei, wie etwa eine verbesserte Infrastruktur. Diese Forderung der Bodenreformer nach einer Wertzuwachssteuer im gesamten Deutschen Reich wurde tatsächlich erfüllt – zumindest teilweise und auch nur für knapp drei Jahre.

Der vorliegende Beitrag erklärt, welche Gründe für die Einführung und die schnelle Wiederabschaffung der Steuer auf den Wertzuwachs von Immobilien im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verantwortlich waren. Die zentrale These ist, dass die Wertzuwachssteuer auf Reichsebene nicht aus bodenreformerischen Motiven eingeführt wurde, sondern aus politischen, beziehungsweise fiskalischen Gründen. Sie war weniger eine Reaktion auf die Situation auf dem Wohnungsmarkt, sondern vielmehr ein erster Schritt in der von Peter-Christian Witt sogenannten Militarisierung der Reichsfinanzpolitik des späten Kaiserreichs. [3] In ihrer Ausgestaltung wurde die Wertzuwachssteuer derart abgeschwächt, dass sie den Forderungen der Bodenreformer kaum noch entsprach. Außerdem konnte sie die mit ihr verfolgten fiskalpolitischen Ziele nicht erfüllen. Zwar brachte die Steuer eine entscheidende Neuerung, da sie erstmals eine direkte Finanzbeziehung zwischen dem Reich und den Kommunen herstellte. [4] Im Kern war sie allerdings nicht als großer steuersystematischer Wurf, sondern als Mittel zum Zweck eines politischen Kompromisses in einer verfahrenen Lage gedacht. Als sich diese Situation nach den Reichstagswahlen 1912 auflöste, kam es 1913 zu einer grundlegenden Zäsur in der Ausgestaltung des Finanzsystems des Reiches. Die damit verbundene Einführung einer Vermögenswertzuwachssteuer machte die mit großen Erhebungsproblemen behaftete Reichswertzuwachssteuer effektiv überflüssig.

Der Aufsatz leistet einen Beitrag zu zwei aktuellen Forschungsfeldern. Zunächst zum Forschungsfeld der städtischen Immobilienmärkte, zum zweiten zu dem der Besteuerung im Deutschen Reich. Die aktuelle Forschung über Immobilienmärkte befasst sich etwa mit der Immobilienfinanzierung und der Preisentwicklung, dem Wohnungsmarkt und der damit verbundenen Stadtentwicklung und der Immobilienspekulation, unter anderem im Hinblick auf Immobilienkrisen und Wohnungsmangel. Die Bedeutung von Steuern auf Immobilienmärkten wurde weitestgehend nur im Hinblick auf die kommunale Wohnungspolitik untersucht. [5] Die bisherige Forschung zum Immobilienmarkt und zur Bodenreformbewegung übersieht in weiten Teilen den fiskalpolitischen Kontext der Einführung der Reichswertzuwachssteuer.

Bei der Forschung über die Besteuerung im Kaiserreich finden sich finanzpolitische Untersuchungen, die sich mit der Innenpolitik und der Sozialstruktur beschäftigen. [6] Eine wichtige Überblicksdarstellung über die Entwicklung des deutschen Steuerstaats liefert Hans-Peter Ullmann, der sich auch mit den steuerrechtlichen Verbindungen zwischen Reich, Staat und Kommune befasst. Er analysiert außerdem die zunehmende Bedeutung der Steuern als sozialpolitisches Instrument der Umverteilung. [7] Marc Buggeln zeichnet in seiner Habilitationsschrift die Steuerpolitik seit 1871 nach und betrachtet insbesondere die Entwicklung der progressiven Steuern. [8] Die Darstellungen, die aus der Sicht der Steuergeschichte die Reichswertzuwachssteuer behandeln – und das meistens nicht sehr ausführlich – übersehen, dass nur die umfangreiche Debatte über den Wohnungsmarkt und die Bodenreform dazu führte, dass es 1911 überhaupt die Möglichkeit zu einem Steuerkompromiss gab. Ohne die propagandistische Vorarbeit der Bodenreformbewegung und die Ablehnung der Bodenspekulation bei sowohl rechten als auch linken Parteien ist nicht zu erklären, warum sich die Parteien überhaupt auf diese Wertzuwachssteuer einigen konnten.

Dieser Beitrag verbindet die beiden Perspektiven und kann so die Frage nach den Ursachen für die Einführung und die zügige Abschaffung der Steuer beantworten und gleichzeitig eine Forschungslücke in den genannten Forschungssträngen schließen. Betrachtet wird, wie die Unzufriedenheit mit der Situation auf dem Immobilienmarkt und die Arbeit der Bodenreformer zu einer Steuer geführt haben, die, zumindest der Idee nach, den Markt verändern sollte und so keine reine Fiskalsteuer, sondern eine Lenkungssteuer darstellte. Der Fokus liegt auf den politischen Debatten über die Einführung und Abschaffung der Steuer. Als Quellen dienen die stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Reichstags (SBR), [9] die den Werdegang der Steuer – von den ersten Anträgen, über die Lesungen des Gesetzentwurfs, die Erwähnungen bei der Debatte über Änderungen im Finanzwesen bis hin zur Abschaffung – deutlich machen. Im Zentrum stehen die wesentlichen Parteipositionen. Anhand der Debatten lässt sich die komplizierte politische Gemengelage ablesen, die für die Einführung der Reichswertzuwachssteuer verantwortlich war. Außerdem werden Schriften der Bodenreformer hinzugezogen.

Im folgenden Kapitel werden zunächst die Entwicklung des Wertzuwachssteuergedankens und die Forderungen der Bodenreformer untersucht. Im dritten Kapitel wird die Einführung der Steuer auf kommunaler Ebene betrachtet, die der Reichswertzuwachssteuer vorausging. Das vierte Kapitel befasst sich mit den Debatten über die Wertzuwachssteuer auf Reichsebene und ihrer letztendlichen Einführung 1911. Betrachtet werden soll auch das Spannungsverhältnis zwischen einer Steuer als sozialpolitischem Instrument der Umverteilung und einer Steuer als Einnahmequelle. Anschließend geht es um die recht klanglose Abschaffung der Steuer auf Reichsebene und die weitere Erhebung der Steuer in den Gemeinden. Im Fazit werden die zentralen Ergebnisse zusammengefasst.

2 Die Wertzuwachssteuer und die Bodenreformbewegung

Die insgesamt wachsende Bevölkerung, die industrielle Revolution und die damit verbundene Urbanisierung sorgten dafür, dass es in zahlreichen Großstädten zunehmend Probleme bei der Unterbringung der Bevölkerung gab. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg fanden, insbesondere in Berlin, zahlreiche Familien keine Wohnung und lebten auf der Straße oder wurden in öffentlichen Gebäuden untergebracht. Diejenigen, die eine Wohnung hatten, lebten häufig mit vielen Personen auf kleinem Raum, zum Teil in dunklen Kellerwohnungen, auch Untervermietung war weit verbreitet. [10] Die Wohnungsfrage wurde in der Öffentlichkeit immer bedeutender, Reformer führten Debatten über die mögliche Verbesserung der Wohnumstände und zumindest die Kommunen begannen ab 1890 sich verstärkt der Wohnungspolitik zuzuwenden. [11]

Die Wohnungsnot sahen viele Zeitgenossen in der Spekulation mit Boden begründet. Der Begriff Spekulation wurde im Kaiserreich häufig als politischer Kampfbegriff verwendet und für Geschäfte mit sehr hohen Gewinnen verwendet. [12] So galten in den Debatten um die Wohnungsnot die sogenannten Terraingesellschaften als Spekulanten. Die häufig als Aktiengesellschaften agierenden Gesellschaften kauften günstigen Boden im Umfeld der Städte, erschlossen ihn und verkauften ihn im Zuge der Stadterweiterung weiter. Die Erschließung reichte von der Erstellung eines Bauplans über den Bau von Straßen bis hin zur Errichtung von Infrastruktur, wie beispielsweise dem Bau von Wasserleitungen und Kanalisation. Die Terraingesellschaften bauten selten selbst, sondern verkauften den mehr oder minder erschlossenen Boden an Bauunternehmer und Bauhandwerker weiter. Die wiederum bauten nicht mehr, wie es vorher üblich gewesen war, auf Bestellung, sondern hofften wie die Terraingesellschaften auf eine zukünftige Nachfrage. [13] Daneben spielten für den zeitgenössischen Spekulationsdiskurs auch die verbreiteten Legenden von sogenannten Millionenbauern, denen Ackerland für Millionenbeträge abgekauft wurde, eine wichtige Rolle. So soll ein Bauer in Schöneberg 1825 einen Kartoffelacker für 8.100 Mark gekauft haben, sein Sohn soll den Acker 50 Jahre später für 6 Mio. Mark verkauft haben. [14] Diese enormen Wertzuwächse waren in den Augen zahlreicher Zeitgenossen nicht gerechtfertigt.

Intensiv mit der Wohnungsfrage beschäftigte sich seit den 1870er Jahren der Verein für Socialpolitik. Er diente angesehenen Wissenschaftlern als Diskussionsforum, die sich gegen die Manchesterschule des laissez-faire wandten und stattdessen staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt forderten. [15] Eine wichtige Rolle im Verein und für die Wertzuwachssteuer spielte der Nationalökonom Adolph Wagner. Er war konservativer Abgeordneter in Preußen und unterstützte die agrarischen Grundbesitzer, setzte sich aber gleichzeitig für eine Wohnungsreform in den Städten ein. Bei einer Diskussion um Kommunalsteuern 1877 vertrat er als erster die Idee einer kommunalen Wertzuwachssteuer. Er stellte sich eine Steuer vor, die den „nicht durch eigene Leistungen verdienten Werthzuwachs […] des Grund- und Gebäudeeigentums“ besteuern sollte. Insbesondere in Großstädten sollte dieser unverdiente Wertzuwachs bei einem Besitzwechsel eingezogen werden. [16] Wagner vertrat mit einigen anderen Angehörigen des Vereins die Ansicht, die Wohnungsnot sei in der Spekulation begründet, die eine Verknappung und somit eine Preissteigerung zur Folge habe. Doch nicht alle Vereinsmitglieder befürworteten diese These. Die liberalen Ökonomen Adolf Weber, Andreas Voigt und Ludwig Pohle waren der Meinung, nicht der Bodenpreis treibe die Mieten in die Höhe, sondern im Gegenteil: Die zu erwartenden Mieten erhöhten den Bodenpreis. Anhand dieser Linie schieden sich auch die Geister bezüglich der Wertzuwachssteuer, die Wagner und sein Lager als wirksames Mittel gegen die Wohnungsnot ansahen. Weber und andere bezweifelten, dass eine Steuer die Mieten günstiger machen könne und befürchteten eine Abwälzung der Steuer auf die Mieter. [17]

Nicht nur mit der Wohnungsfrage, sondern mit der Bekämpfung der Armut beschäftigte sich der US-Amerikaner Henry George, der als der Begründer der modernen Bodenreformtheorien gilt. [18] In seinem bekanntesten Werk Progress and Poverty von 1879 versuchte er die Diskrepanz zwischen technischem Fortschritt und gleichzeitig wachsender Armut zu erklären und entwickelte einen Ansatz, wie die Armut besiegt werden könnte. Er bezog sich auf David Ricardos Bodenrententheorie und forderte die Abschöpfung der gesamten Bodenrente, beziehungsweise des Einkommens aus der nicht-produktiven Nutzung von Land: Es sollte kein Gewinn mehr durch bloßen Landbesitz entstehen, denn hier sah er den Ursprung der Armut. Alle anderen Steuern seien bei Einzug der Bodenrente überflüssig und könnten abgeschafft werden, denn sie minderten die Produktion. Das Abschöpfen der Bodenrente hingegen erhöhe tendenziell sogar die Produktion, da durch sie Spekulation mit Boden vermieden würde und der Preis für Boden sinke. Eine Entschädigung sollten die Eigentümer nicht erhalten, denn technisch gesehen blieb das Land in ihrem Besitz. [19] George beschrieb in seinem Werk, welches zum internationalen Bestseller wurde, zwar nicht, wie diese später als Single Tax bekannte Steuer konkret durchgeführt werden könnte, fand dennoch zahlreiche Anhänger und beeinflusste die Bodenreformbewegungen in vielen Ländern. [20]

George und Wagner vertraten zwei unterschiedliche Typen von Bodenreformern. George befürwortete die kapitalistische Wirtschaftsordnung und den wirtschaftlichen Liberalismus und war der Ansicht, dass durch seine Single Tax alle Probleme gelöst werden könnten. Es würde keine Wirtschaftskrisen mehr geben, die Produktion steige, Armut würde besiegt und der Wohlstand aller erhöht. Wagners Wertzuwachssteuer hingegen war lediglich ein Baustein eines umfassenderen sozialpolitischen Steuersystems. [21] Wagner sprach sich im Gegensatz zu George gegen laissez-faire aus und forderte entschieden staatliche Eingriffe. Auch bei der Art der Besteuerung unterschieden sich die beiden. Während George die komplette Abschöpfung der Bodenrente forderte, also die Differenz zwischen den lagebedingt unterschiedlichen Einkommen zweier ansonsten gleicher Böden, äußerte sich Wagner zunächst nicht konkret, in welcher Höhe der unverdiente Wertzuwachs besteuert werden sollte. [22]

Als einer der Begründer der organsierten Bodenreformbewegung in Deutschland gilt der Industrielle Michael Flürscheim. Er griff die Ideen von George auf, forderte aber, im Gegensatz zu George, die Aufhebung von Privateigentum. [23] Flürscheim gründete 1888 den Bund für Bodenbesitzreform, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. [24] Daraus entstand zehn Jahre später der Bund der Deutschen Bodenreformer mit dem Volksschullehrer Adolf Damaschke als Vorsitzendem. Dieser Bund sollte um einiges erfolgreicher werden und ist bei der Betrachtung der Wertzuwachssteuer von zentraler Bedeutung. Der Bund sah die Ursachen der sozialen Probleme allein in der Bodenfrage begründet. Für seine Anhänger stand fest, dass die stets steigenden Mieten, die schlechten Wohnverhältnisse und das unzureichende Angebot an kleinen Mietwohnungen an zu hohen Bodenpreisen liege, die durch Spekulation entstünden. Den bereits erwähnten Terraingesellschaften warf der Bund vor, sie ließen baureifen Boden liegen, um auf höhere Preise zu warten. So würde der Boden weiter verknappt und somit verteuert, was letztlich die hohen Mieten und den Wohnungsmangel zur Folge habe. Als exemplarisch für die schlechten Wohnverhältnisse galt die Berliner Mietskaserne mit ihren lichtlosen Innenhöfen. [25]

Die Terraingesellschaften ihrerseits gaben an, keineswegs an der Hortung von Boden, sondern im Gegenteil, am möglichst schnellen Weiterverkauf interessiert zu sein und darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Wohnungsversorgung zu leisten. Unterstützt wurden diese Ansichten von Kritikern der Bodenreformer, bei denen es sich zumeist um liberale Ökonomen handelte. Ihrer Ansicht nach war Bodeneigentum wie Kapitalbesitz zu behandeln und die Gewinne standen dem vermeintlichen Spekulanten zu, schließlich hatte er ein Risiko in Kauf genommen. [26] Diese Sichtweise wird in der neueren Forschung zumeist unterstützt, vor allem mit dem Argument, dass die Terraingesellschaften überwiegend lediglich solide Renditen erwirtschaften, da der Boden sich häufig erst nach einiger Zeit verkaufen ließ. Da die Terraingesellschaften meist an der Börse waren, profitierten außerdem die Anleger, die vielfach aus dem bürgerlichen Milieu stammten. [27]

Die zentrale Forderung des Bundes bestand darin, jeden „Mißbrauch“ von Boden zu verhindern und die „Wertsteigerung, die er ohne die Arbeit des Einzelnen erhält“, der Allgemeinheit zuzuführen. [28] Dieses sollte mittels einer Wertzuwachsteuer, wie Wagner sie vorgeschlagen hatte, erreicht werden. Wagner war für den Bund als Fürsprecher der Wertzuwachssteuer aus dem Bereich der Wissenschaft sehr bedeutend, nahm an zahlreichen Veranstaltungen teil und wurde 1900 sogar zum Ehrenmitglied ernannt. [29] Die anvisierte Steuer sah vor, die Wertsteigerung, die durch gesamtgesellschaftliche Aktivitäten, wie etwa der Verbesserung der Infrastruktur, zustande kam, zu besteuern. [30] Wie genau sich Damaschke und der Bund eine solche Steuer vorstellten, war nicht Teil des Vereinsprogramms. Damaschke gab in seinem Werk Gemeindepolitik ein Beispiel von einer 20-prozentigen Steuer an, die progressiv gestaltet werden solle, um Besitzer von kleinen Grundstücken nicht übermäßig zu belasten. Die Investitionen, die der Eigentümer selbst in die Immobilie getätigt hatte, würden vom Wertzuwachs abgezogen. [31]

Die organisierte Bodenreformbewegung hatte sich von den progressiven und rigorosen Vorschlägen Georges und Flürscheims hin zu den Ideen des konservativen Wagners entwickelt. So hatte der Bund die Forderung einer Verstaatlichung, wie sie noch Flürscheim aufgestellt hatte, aufgegeben und wollte sich ausschließlich reformatorischen und den jeweiligen, auch regionalen Anforderungen entsprechend betätigen. Das Programm wurde zunehmend allgemeiner formuliert. Bei der Neugründung 1898 enthielt es noch konkrete Forderungen wie die Sicherstellung der Forderungen von Bauhandwerkern oder die Erweiterung des Gemeinde-Grundbesitzes. 1904 wurden diese Forderungen gestrichen, übrig blieb nur der zentrale Leitsatz „dass der Grund und Boden, diese Grundlage aller nationaler Existenz, unter ein Recht gestellt wird, das seinen Mißbrauch mit ihm unmöglich macht und das die Wertsteigerung, die er ohne Arbeit des Einzelnen enthält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht.“ [32]

Mit diesem Programm konnte der Bund unter der charismatischen Führungspersönlichkeit Damaschke zu einer Anlaufstelle für breite Gesellschaftsschichten und interessant für alle politischen Richtungen werden, die sich mit dem so allgemein verfassten Leitsatz identifizieren konnten. Genau das war auch Damaschkes Ziel, er wollte unter dem Dach der Bodenreform Pfarrer, Freidenker, Alldeutsche, Zionisten, Monarchisten und Demokraten vereinen. [33] Die Bodenreformbewegung präsentierte sich als akzeptablen Mittelweg zwischen „Mammonismus und Kommunismus“. [34] Die Vereinsarbeit wurde fortlaufend ausgeweitet, deutschlandweit hielten Mitglieder Vorträge, verteilten Flugblätter und es gründeten sich zahlreiche Ortsgruppen. [35] Die Bodenreformbewegung um Damaschke fand große Anhängerschaft und wirkte besonders im bürgerlichen Milieu meinungsbildend. [36] Der Bund hatte darüber hinaus die Unterstützung von einigen Stadtverwaltungen, sozialreformerischen Vereinen, Mietervereinen, Gewerkschaftsorganisationen und Gewerbevereinen. 1912 waren insgesamt 728 Körperschaften Vereinsmitglieder, darunter 106 Staats- und Gemeindebehörden. [37] Neben der Wertzuwachssteuer trat der Verein auch für Kriegerheimstätten, das Erbbaurecht und die Erhebung der Grundsteuer nach dem gemeinen Wert ein. [38]

3 Die Wertzuwachssteuer in den Kommunen

Die von den Bodenreformern geforderte Erhebung einer Wertzuwachssteuer fand zunächst nicht im Deutschen Reich, sondern in der besetzten Region Kiautschou in China Anwendung. Das 1898 besetzte deutsche Schutzgebiet sollte eine Musterkolonie mit städtischer Infrastruktur, Krankenhäusern und Schulen werden. Anders als die anderen deutschen Kolonien war das Gebiet nicht dem Reichskolonialamt, sondern dem Reichsmarineamt unterstellt. So konnte der Staatssekretär der Marine, Alfred von Tirpitz, der die bodenreformerischen Ideen befürwortete, daran mitwirken, das Problem der Bodenspekulation, welches in anderen Kolonien wahrgenommen wurde, zu vermeiden. Die Besteuerung von Boden sollte dem entgegenwirken. Dazu enteignete das deutsche Gouvernement zunächst die chinesische Bevölkerung gegen eine von der Administration festgelegte Entschädigung und der gesamte Grundbesitz ging an die Besatzungsmacht über. Interessenten konnten Boden kaufen, aber es gab zum Teil strenge Vorgaben zur Nutzung. Die neuen Besitzer mussten im Falle eines Weiterverkaufs ein Drittel des dabei gewonnenen Wertzuwachses als Steuer zahlen. Daneben sollten jährlich sechs Prozent des Grundstückswertes als eine Art Grundsteuer gezahlt werden. Die Steuer sorgte für genügend Erträge und abgesehen von einer Hundesteuer wurden keine weiteren Steuern erhoben. [39] Darüber, wie gut die Steuer tatsächlich funktionierte und wie viel Einnahmen sie generierte, gibt es widersprüchliche Meinungen. Einerseits soll die Bodenspekulation mithilfe der Steuer wirksam vermieden worden sein. Andererseits sollen sich dennoch eine große Wohnungsnot und hohe Mieten ergeben haben. Ob, und wenn ja, in welchem Zusammenhang das mit der Zuwachssteuer stand, ist jedoch nicht geklärt. [40] Die Bodenreformer im Deutschen Reich machten sich Hoffnung, dass Kiautschou als ein Vorreiter fungieren und die Wertzuwachssteuer schließlich auch in Deutschland eingeführt werden könnte. Die Voraussetzungen in China waren jedoch kaum mit denen im Deutschen Reich zu vergleichen. Eine Enteignung zu von der Regierung festgelegten Preisen wäre undenkbar gewesen. Die Bodenreformbewegung im Deutschen Reich musste sich auf pragmatischere Vorschläge beschränken.

Das Prinzip der Wertzuwachssteuer schien vielen Gemeinden grundsätzlich erstrebenswert gewesen zu sein. Die Bodenreformer hatten viele Anhänger in bürgerlichen Kreisen und machten reichlich Werbung für ihre Ideen. Der Spekulant als Feindbild war insbesondere in stark wachsenden Städten präsent. Die Wertzuwachssteuer versprach, ein wirksames Gegenmittel zu sein. Außerdem brauchten etliche Städte zusätzliche Einnahmen, da mit wachsender Bevölkerung auch die Aufgaben und somit die Ausgaben wuchsen, etwa für Polizei, das Schulwesen und die Gesundheitsfürsorge. Überdies kamen Kosten für die Infrastruktur, Kanalisation, Wasserversorgung und Nahverkehr hinzu. [41]

Frankfurt am Main war 1904 die erste größere Stadt, die eine Zuwachssteuer auf be- und unbebaute Grundstücke einführte. Der Bürgermeister Franz Adickes, ein Anhänger der Bodenreformbewegung, konnte den Magistrat der Stadt von der Steuer überzeugen. Neben dem sogenannten Währschaftsgeld, einer Art Umsatzsteuer, erhob die Stadt eine Wertzuwachssteuer. Diese wurde fällig, wenn seit dem letzten Verkauf bei unbebauten Grundstücken weniger als zehn und bei bebauten Grundstücken weniger als fünf Jahre vergangen waren und der Wertzuwachs mindestens 30 Prozent des vormaligen Kaufpreises betrug. Hierbei konnten Kaufpreise, die bis zu 20 Jahre zurücklagen, herangezogen werden. Die Steuer war gestaffelt, bis zu 25 Prozent des Wertzuwachses konnten auf diese Weise weggesteuert werden. Ferdinand Haerecke gab an, die Steuer sei weniger aus bodenreformerischen, sondern aus fiskalpolitischen Gründen beschlossen worden, da Frankfurts Finanzlage „bedenklich“ gewesen sei und die Stadt dringend nach neuen Einnahmequellen suchte. [42]

Köln litt ebenfalls unter finanziellen Schwierigkeiten und beschloss 1905 nach zähen Verhandlungen eine Zuwachssteuer. In der Begründung fanden sich jedoch auch sozialpolitische Aspekte, die Steuer sollte „dazu dienen, die Grundstücksspekulation einzudämmen, welche für die Gesamtheit von so schädigender Wirkung ist.“ [43] Eine Besonderheit in Köln war die Festlegung eines festen Zeitpunktes für die Berechnung des Zuwachses. Besteuert werden sollte nur der Wertzuwachs, der nach dem 1. April 1905 entstand. Dafür mussten alle Grundstücke geschätzt werden. [44]

Nach und nach folgten immer mehr Gemeinden und Kreise den Vorbildern Köln und Frankfurt, wobei in den meisten Gemeinden eine Rückrechnung wie in Frankfurt möglich war. 1910 hatten ca. 650 Gemeinden und 13 preußische Landkreise eine eigene Wertzuwachssteuer, die sich häufig an den Vorreitern orientierte. [45] Es gab rund 55.000 Gemeinden, der Anteil scheint nicht besonders groß, aber die Gemeinden mit einer Wertzuwachssteuer – eher Großstädte und größere Gemeinden – umfassten ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Reiches. [46] Im Rahmen dieses Aufsatzes lässt sich nicht en détail untersuchen, inwieweit die verschiedenen Wertzuwachssteuerordnungen der Gemeinden tatsächlich auch bodenreformerische Ziele verfolgten oder ob sie lediglich als Einnahmequelle dienen sollten. Jedoch lässt sich festhalten, dass die Gesetze ohne die massive Bewerbung durch die Bodenreformer wohl nicht zustande gekommen wären. [47] Die akute Finanznot vieler Gemeinden machte Steuererhöhungen oder die Erhebung neuer Steuern notwendig und einige Politiker setzten sich für die Wertzuwachssteuer ein. Meines Erachtens kann in Frankfurt ein Zusammenspiel beider Zielsetzungen vorgelegen haben, da sich Adickes in Frankfurt schon vorher für eine aktive Wohnungspolitik und Steuerreformen eingesetzt hatte. [48]

Die Steuerverordnungen der Gemeinden entsprachen häufig nicht der Idealvorstellung der Bodenreformer, da sie zu hohe Freigrenzen ließen, geringe Steuersätze aufwiesen oder die Steuer bei längerer Besitzdauer stark abnahm. Diese Tatsache ist häufig dem Einfluss der Grundbesitzer auf die Stadtverwaltungen geschuldet. So galt beispielsweise in Preußen das Hausbesitzerprivileg, wonach die Stadtverordnetenversammlung mindestens zur Hälfte aus Hausbesitzern bestehen musste. In Landgemeinden mussten die Vertretungen gar zu zwei Dritteln aus Grundbesitzern bestehen. [49] Die Stadtversammlungen stimmten einem Wertzuwachssteuergesetz zwar zu, wenn es jedoch an die konkrete Ausgestaltung der Verordnungen ging, machten viele Grundbesitzer von ihrem Einfluss Gebrauch und schützten in manchen Orten insbesondere den alteingesessenen Haus- und Grundbesitz. Der Kölner Oberbürgermeister bezeichnete etwa die nach langen Verhandlungen zustande gekommene und von Grundbesitzern stark abgemilderte Verordnung als „Torso.“ [50]

4 Die Wertzuwachssteuer auf Reichsebene – Ein zahnloser Tiger?

Nachdem die ersten Kommunen die Wertzuwachssteuer als Einnahmequelle für sich entdeckt hatten, kam der Gedanke auf, auch das Reich könnte von ihr profitieren. Vorschläge, eine Wertzuwachssteuer für das Reich zu erheben, machten Abgeordnete ab 1905 immer wieder. So schlug etwa Max Liebermann von Sonnenberg von der Deutschsozialen Partei 1905 vor, das Reich solle vom Wertzuwachs der städtischen Immobilien einen Anteil bekommen. Dieser Vorschlag fand jedoch kein Gehör. [51] 1907 wurde der Antrag Liebermann von Sonnenbergs vom Zentrumsabgeordneten Eugen Jaeger wiederholt, ein Jahr später gab es einen weiteren. Alle blieben letztlich ohne Bedeutung. [52] 1908 forderte schließlich auch Wagner, die Wertzuwachssteuer solle auf das Reich ausgeweitet werden, da die Einheit des Reichs maßgeblich zu den großen Wertsteigerungen beigetragen habe. [53]

An Fahrt aufzunehmen begann die Diskussion um die Reichswertzuwachssteuer im Zuge der Finanzreform 1908/1909. Der Finanzbedarf des Reichs stieg, nicht zuletzt wegen der steigenden Militärausgaben, stark an. Die verbündeten Regierungen, sprich der Bundesrat, in dem Repräsentanten der Staaten vertreten waren, schlugen zur Steigerung der Einnahmen eine Ausweitung der Reichserbschaftssteuer vor. Konservative, Zentrum und Polen lehnten diese Steuer entschieden ab und bezeichneten sie als „Witwen- und Waisensteuer.“ [54] Ein Ersatz musste gefunden werden. Das gestaltete sich jedoch schwierig, denn es war festgelegt, dass alle direkten Steuern den Bundesstaaten zustanden. Das Reich finanzierte sich überwiegend durch indirekte Steuern, wie etwa Verbrauchs- und Verkehrssteuern – in immer höherem Maße auch durch Schulden. Die Staaten waren nicht daran interessiert, ihre Steuerhoheit abzugeben und auf Einnahmen zugunsten des Reichs zu verzichten. [55] Verbrauchssteuern, die die wirtschaftlich Schwächeren besonders trafen, sollten Hauptbestandteil der Finanzreform 1909 werden, der Besitz wurde durch die Ablehnung der Erbschaftssteuer geschont.

Diese Politik der Konservativen und des Zentrums, des sogenannten schwarzblauen Blocks, rief in der Öffentlichkeit massive Kritik hervor, sie galt als interessengeleitete Agrarierpolitik. [56] Auf die Proteste musste die Politik reagieren: Die Finanzkommission ging nun auf die Suche nach einer Ersatzsteuer. Einige konservative Abgeordnete stellten in der Kommission einen Antrag, eine Reichswertzuwachssteuer auf Immobilien und Wertpapiere einzuführen. Die Konservativen waren unter Zugzwang geraten, einen Ersatz für die von ihnen verhinderte Erbschaftssteuer zu finden. Die Wertzuwachssteuer erschien ihnen als kleineres Übel. Alle Parteien nahmen den Antrag positiv auf. Die Besteuerung der Wertpapiere wurde jedoch bald gestrichen, sie galt als nicht durchführbar. [57] Anfang Mai nahm die Budgetkommission den Antrag des Deutschsozialen Friedrich Raab an, die verbündeten Regierungen mögen schnellstmöglich eine Gesetzvorlage ausarbeiten, „die eine Besteuerung des Wertzuwachses von Immobilien vorsieht.“ [58] Daraufhin erarbeite das Reichsschatzamt eine Denkschrift, die allerdings zu dem Ergebnis kam „daß die reichsgesetzliche Regelung der Besteuerung des Wertzuwachses bei Grundstücken zum mindestens zur Zeit und für die Zwecke der gegenwärtigen Finanzreform nicht durchführbar erscheint.“ [59] Die Wertzuwachssteuer wurde abgelehnt und somit kein Bestandteil der Finanzreform 1909.

Doch das Urteil der Denkschrift sollte nicht endgültig sein. Der Deutschkonservative Kuno Graf von Westarp stellte den Antrag, die Reichswertzuwachssteuer im Reichsstempelgesetz zu verankern. Einige überwiegend dem Zentrum und den Deutschkonservativen Angehörige unterstützten den Antrag. [60] Sie argumentierten, die Wertzuwachssteuer sei der Umsatzsteuer vorzuziehen, da erstere nur Eigentumsübertragungen erfasse, bei denen ein Gewinn erzielt werde. [61] Trotz der Kritikpunkte, die die Denkschrift aufzeigte, fand der Antrag eine Mehrheit und es wurde im Reichsstempelgesetz (Juli 1909) festgelegt, dass bis zum 1. April 1912 eine „Reichsabgabe von der unverdienten Wertsteigerung bei Grundstücken (Zuwachssteuer) eingeführt werden“ sollte. Diese Abgabe solle im Jahr mindestens 20 Mio. Mark einbringen und bei höheren Einnahmen die unbeliebte Umsatzsteuer auf Immobilien gesenkt oder sogar ganz abgeschafft werden können. [62]

Daraufhin machte der Bund der Bodenreformer im ganzen Land Werbung für die Einführung der Reichswertzuwachssteuer, da er den Widerstand der „Terraininteressenten“, etwa von Immobilienbanken und Grundbesitzervereinen, gegen das geplante Gesetz fürchtete, der die tatsächliche Verabschiedung in Gefahr bringen könne. [63] Der Bund richtete 800-900 Veranstaltungen aus, verteilte 60.000 Flugblätter und 12.000 Broschüren. Zudem gab es eine Masseneingabe, die Organisationen mit 730.000 Mitgliedern und über 145.000 Einzelunterschriften gewinnen konnte. Wie von den Bodenreformern befürchtet, agierten die Gegner der Bodenreform dagegen. [64]

Bereits ein Jahr vor der vereinbarten Frist legten die verbündeten Regierungen am 11. April 1910 einen Gesetzentwurf für eine Reichswertzuwachssteuer vor. Diese schnelle Arbeitsweise lässt sich dadurch erklären, dass bereits nach der Ankündigung des Gesetzes der Grundstücksverkehr in Bewegung geraten war und weitere, möglicherweise steuerfreie Eigentumsübergänge vermieden werden sollten. Nach der ersten Beratung im Reichstag wurde der Entwurf an eine 28-köpfige Kommission übersendet. [65] Die Kommission baute eine Einkommensfreigrenze ein und fügte weitere Zurechnungen zum Erwerbspreis hinzu, welche den Wertzuwachs minderten. Diese bereits abgemilderte Version beriet der Reichstag in der zweiten Lesung. [66]

Alle Parteien, die sich im Reichstag zu Wort meldeten, gaben an, grundsätzlich für eine Besteuerung des Wertzuwachses zu sein. Dennoch äußerten etliche Abgeordnete aller Parteien zahlreiche Bedenken und schränkten ihre Zustimmung ein. Abgeordnete der SPD, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen waren der Meinung, das Reichsgesetz greife in die Selbstbestimmung der Gemeinden, die zum großen Teil für die Wertsteigerungen verantwortlich seien, ein. Zudem ließe es keine Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten zu. Besonderes Augenmerk legten die Abgeordneten auf die Gemeinden, die bereits eine Wertzuwachssteuer erhoben, die sollte ihnen in gleicher Höhe – auch mit dem Reichsgesetz – zustehen. [67]

Abgeordnete der Nationalliberalen, der Fortschrittlichen Volkspartei [68] und Otto Arendt von der Deutschen Reichspartei, der eine andere Meinung vertrat als die Mehrheit seiner Partei, sahen eine Flut von Prozessen auf die Gerichte zukommen, da die Ausgestaltung des Gesetzes derart kompliziert sei. [69] Grundsätzliche Zweifel an der positiven Wirkung der Wertzuwachsteuer, wie sie die Bodenreformer versprachen, äußerten etwa August Weber und Willi Cuno. Die Steuer sei kein wirksames Mittel, um Spekulation zu bekämpfen und Boden günstiger zu machen. [70] Dass die Wertzuwachssteuer nur auf Immobilien und nicht auch auf mobiles Kapital angewendet werden sollte, beanstandeten Wladislaus Seyda (Polen) und Arendt. [71]

Wiederholt wurde bei der Diskussion im Reichstag thematisiert, ob die Steuer nun eine reine Einnahmequelle oder ein sozialpolitisches Instrument der Bodenreform sei. Arendt von der Deutschen Reichspartei führte an, dass es sich bei der Wertzuwachssteuer nicht nur um ein Finanzgesetz handle, bei dem es auf das Ergebnis ankomme, sondern um ein Gesetz, welches sozialpolitisch sein soll, welches unverdienten Wertzuwachs treffen solle. [72] Das Gesetz sei sozial berechtigt und nehme Rücksicht auf soziale Wirkungen, äußerte sich Raab (Deutschsozial). Ludwig Werner bezeichnete es als „ein Stück Bodenreform.“ [73] Dem entgegengesetzt betonte der konservative Graf von Westarp, dass eine Steuer den Zweck habe, den Finanzbedarf zu decken und wirtschaftspolitische Ziele höchstens am Rande betrachtet werden könnten. [74] Mehrfach schienen auch die Interessen der Parteien durch, etwa als Wilhelm Marx (Zentrum) angab, es müsse bei jedem Änderungsantrag auf die Interessen, die die Partei vertrete, geachtet werden oder als Werner (Deutsche Reformpartei) forderte, der langjährige Hausbesitz müsse geschont werden. Laut Franz Doerksen (Deutsche Reichspartei) sollte die Landwirtschaft gänzlich von der Besteuerung ausgenommen werden. [75] Nationalliberale äußerten zudem Bedenken über die Folgen für das Baugewerbe. [76]

Die entschiedensten Gegner der Kommissionsvorlage waren die Sozialdemokraten. Sie gaben an, prinzipiell für eine Besteuerung des Wertzuwachses zu sein, und forderten eine Wiederherstellung der strikteren Regierungsvorlage. Agrarier von Rechten und Zentrum hätten das Gesetz in der Kommission und im Reichstag durch Abänderungsanträge immer weiter abgeschwächt. Die Steuer belaste überwiegend die Städte, wohingegen die Landwirtschaft zu sehr geschont werde. Das Gesetz habe einen „agrarischen Pferdefuß.“ Außerdem gab die SPD an, nicht für die Steuer zu stimmen, wenn die Einnahmen für das Militär verwendet werden sollten. [77] Ebenso wie die Sozialdemokraten machte auch die Fortschrittliche Volkspartei dem Zentrum und den Konservativen Vorwürfe, sie würden die Steuer zunehmend abmildern, obwohl die beiden Parteien durch ihre Ablehnung der Erbschaftssteuer für die Notwendigkeit einer Wertzuwachssteuer verantwortlich seien. Die Hoffnungen der Bodenreformer seien durch die Kommissionsvorlage nicht mehr zu erfüllen. [78] Der Unterstaatssekretär im Reichsschatzsamt Hermann Kühn mahnte, von weiteren Änderungen Abstand zu nehmen, die die Einnahmen weiter reduzieren könnten, da „der finanzielle Effekt […] bereits jetzt so herabgedrückt [erscheint], daß er eine fernere Herabminderung nicht gut ertragen kann.“ [79]

Zusammenfassend ergibt sich ein eher gemischtes Bild. Grundsätzlich sprachen sich alle Parteien für das Prinzip der Wertzuwachsbesteuerung aus. Die Sozialdemokraten und die Fortschrittliche Volkspartei richteten sich gegen den von Zentrum und Konservativen abgeschwächten Kommissionsentwurf. Die Sozialdemokraten wollten lieber gar kein Wertzuwachssteuergesetz als das vorliegende. Die Parteien, die sich für den Kommissionsentwurf einsetzten, hatten das Gesetz möglichst ihren politischen Vorstellungen entsprechend angepasst, um die Interessen ihrer Wähler zu schützen. Eine Einigung zu erreichen war das angestrebte Ziel, denn die Einnahmen wurden dringend benötigt, auch aufgrund der Ablehnung der Erbschaftssteuer 1909. Zudem versprach die Wertzuwachssteuer eine Ablösung der Umsatzsteuer, die von vielen als ungerechter betrachtet wurde.

Nicht nur im Reichstag fand die Reichswertzuwachssteuer zahlreiche Kritiker. Wie von den Bodenreformern erwartet, wandten sich auch einige Organisationen, wie etwa der Zentralverband der Haus- und Grundbesitzervereine, der Verband der Terraininteressenten, Bergbauvereine, Maklervereine, verschiedene Gemeinden und der Verein der Standesherren an den Reichstag, den Bundesrat oder die Kommission und riefen dazu auf, das Gesetz auf Reichsebene nicht einzuführen oder Änderungen daran vorzunehmen. [80]

Zur letztendlichen Abstimmung stand ein Gesetz mit zahlreichen Abmilderungen. Landesfürsten waren von der Steuer befreit, es gab hohe Freigrenzen für Personen mit niedrigem Einkommen und Verkäufen mit geringen Wertzuwächsen. Das Reich sollte 50 Prozent der Einnahmen bekommen, die Gemeinden 40 Prozent und die Länder 10 Prozent. [81] Die Gemeinden, die schon eine Wertzuwachssteuer erhoben, sollten Einnahmen in gleicher Höhe bekommen. Die Steuer konnte maximal 30 Prozent des Wertzuwachses bei einem Verkauf besteuern. Sie war regressiv nach der Besitzzeit angelegt: Personen, die eine Immobilie nur für kurze Zeit besaßen, wurden stärker besteuert als diejenigen, die eine Immobilie beispielsweise 20 Jahre lang besessen hatten. Diese Regelung war zur Spekulationsbekämpfung angelegt worden. Sie hatte allerdings die Konsequenz, dass der oben genannte Millionenbauer, der sein Land schon viele Jahre vorher gekauft hatte, trotz enormer Wertzuwächse relativ wenig Steuern hätte zahlen müssen. Besteuert wurde der Wertzuwachs von Boden und Gebäuden zusammen. So musste zwar keine Schätzung der Bodenwerte stattfinden, aber die laufenden Verbesserungen an Gebäuden konnten vom Zuwachs abgezogen werden, was den Ertrag erheblich minderte und nicht den Forderungen der Bodenreformer entsprach. [82] Das Reichswertzuwachssteuergesetz stellte zum ersten Mal eine Finanzbeziehung zwischen dem Reich und den Gemeinden her. Die Länder, die die Steuer erheben sollten, leiteten den entsprechenden Betrag an die Kommunen weiter. Hier deutete sich bereits das für die Weimarer Republik typische Überweisungssystem an. [83] Das war in diesem Fall jedoch weniger ein geplanter konzeptioneller Meilenstein, als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die Gemeinden auch weiterhin Einnahmen aus der Steuer erhalten sollten, wofür sich viele Abgeordnete eingesetzt hatten.

Am 1. Februar 1911 entschied der Reichstag über den Gesetzentwurf. Bei der Abstimmung stimmten 199 Abgeordnete mit Ja, 93 mit Nein und 20 enthielten sich. [84] Die Parteien waren teilweise gespalten, so etwa die Konservativen, das Zentrum und die Fortschrittliche Volkspartei. Die Ausgestaltung des Gesetzes zeigt, dass Härten in jedem Fall vermieden werden sollten und das Reich im Zweifel lieber auf Einnahmen verzichtete. Die zahlreichen Abschwächungen können zum einen an der relativen Neuartigkeit der Steuer gelegen haben – schließlich wurden Wertzuwachssteuern im Deutschen Reich erst seit 1904 erhoben – zum anderen an der Klientelpolitik der Parteien. [85]

Die Reaktion der Bodenreformer auf das Gesetz fiel gedämpft aus. In der Vereinszeitschrift Bodenreform befürwortete Damaschke zwar die Reichswertzuwachssteuer, für dessen Vorbereitung seine Organisation maßgeblich verantwortlich sei, aber zufrieden zeigte er sich nicht. Die Steuer sei „schlecht“, zu stark abgeschwächt und entspreche nicht mehr dem Gedanken der Bodenreformer. Trotz dieses vernichtenden Urteils gab sich Damaschke optimistisch, die erste Grundlage sei geschaffen, der Bund müsse von nun an Vorschläge zur stetigen Verbesserung des Gesetzes ausarbeiten. [86]

5 Das Reich verzichtet auf seinen Anteil an der Wertzuwachssteuer

Kritik an der Wertzuwachssteuer von 1911 wurde im Reichstag bereits im April 1913 bei der Diskussion über Änderungen im Finanzwesen laut. So äußerte sich beispielsweise der Abgeordnete der Nationalliberalen Hermann Paasche kritisch: Er habe derzeit mit Behörden bezüglich der Zuwachssteuer für ein Vorwerk zu tun. Die Art der Erhebung der Steuer sei mangelhaft, so solle der Eigentümer 16 Fragen beantworten, „die kein Mensch beantworten kann.“ [87] Es sollten etwa die Preise von lebendem und totem Kapital, Grundstück und Gebäude einzeln aufgelistet werden. Er forderte die Abschaffung der Reichssteuer und eine Überweisung an die Gemeinden. [88] Weitere Abgeordnete verschiedener Parteien berichteten ebenfalls über Schwierigkeiten mit der Steuer. Ein Kritikpunkt war, dass die Wertzuwachssteuer sich negativ auf den Immobilienmarkt auswirke, da sie im Vorfeld nicht kalkulierbar sei. Die Umsatzsteuer sei besser geeignet, da klar ersichtlich sei, wie viel Steuern gezahlt werden müssten. Es sei außerdem wesentlich schwieriger geworden, Hypotheken zu bekommen. Das liege neben der Inflation auch an der Wertzuwachssteuer. [89] Tatsächlich kam es zwischen 1911 und 1913 durch Engpässe auf dem Kapitalmarkt zu einer sogenannten Hypothekennot. Vilma Carthaus führte diesen Engpass auf die Aufrüstung, den Abzug ausländischen Kapitals und die erhöhte Kreditnachfrage von Industrie und Staat zurück. Kreditinstitute wandten sich nun verstärkt der Industrie und Staatsanleihen zu und vergaben weniger erste Hypotheken, die somit teurer wurden. Im Zuge dessen verlagerten auch die kleineren Privatanleger, die ihr Geld häufig in zweiten Hypotheken angelegt hatten, ihre Investitionen hin zu Industriewerten. Die Haus- und Grundbesitzer hatten ab 1911 zunehmend Probleme erste, geschweige denn zweite Hypotheken zu erhalten. [90] Die Sätze der Wertzuwachssteuer waren jedoch so gering, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie derartig negative Auswirkungen auf den Immobiliensektor gehabt haben kann. Die Krise fiel jedoch mit der Reichswertzuwachssteuer zeitlich zusammen, daher stellten die Kritiker einen Zusammenhang her.

Abgeordnete klagten auch eine missbräuchliche Anwendung des Gesetzes an. Mancherorts würde es zu Ungunsten der Steuerzahler ausgelegt, um mit „Gewalt Steuern heraus[zu]pressen.“ [91] Bei einer ordnungsgemäßen Anwendung, das heißt bei der Anrechnung aller Erleichterungen, bringe die Wertzuwachssteuer vielerorts keine Erträge. In Württemberg verzeichneten 55 Prozent der Kommunen 1911 und 1912 keine Erträge aus der Steuer, die Erhebung verursachte dennoch Kosten. [92]

Obwohl diese Schwierigkeiten bei der Steuererhebung nicht zu vernachlässigen sind, liegen die tatsächlichen Gründe für die Abschaffung des Reichsanteils in der Neuausrichtung der Steuerpolitik seit 1912. Diese war zum einen dem weiter stark steigenden Finanzbedarf des Reiches geschuldet; zum anderen den veränderten Kräfteverhältnissen im Reichstag: Der schwarz-blaue Block hatte seine Steuermehrheit verloren, die Sozialdemokraten bekamen mit 110 die meisten Mandate. In diesem Wahlergebnis spiegelte sich laut Rudolf Kroboth die Kritik der Wähler an den Konsumsteuern der Finanzreform wider, für dessen Abschaffung die SPD geworben hatte. Die Sozialdemokraten verbuchten die Wahl als „eine große Demonstration des Volkes gegen die Ausdehnung der indirekten Steuern.“ [93]

Zur Finanzierung der sehr hohen militärischen Ausgaben beschlossen die verbündeten Regierungen 1913 einen einmaligen Wehrbeitrag, der durch eine Steuer auf den Vermögenszuwachs erhoben werden sollte. Die Vermögensbesteuerung blieb weiterhin den Bundesstaaten vorbehalten. Die laufenden Kosten sollten im Wesentlichen durch eine Erhöhung der Matrikularbeiträge [94] finanziert werden. Mit dem einmaligen Wehrbeitrag waren im Reichstag alle Parteien weitestgehend einverstanden. Anders verhielt es sich mit den Matrikularbeiträgen. Denn 1912 hatten Zentrum und Nationalliberale bei der Neuregelung der Zuckersteuer einen Kompromiss beschlossen – die sogenannte Lex Bassermann-Erzberger – die festlegte, dass die verbündeten Regierungen bis zum 30. April 1913 eine allgemeine Besitzsteuer vorlegen sollten, die spätestens zum Zeitpunkt der Senkung der Zuckersteuer im Oktober 1916 in Kraft treten sollte. Welcher Besitz wie besteuert werden sollte, war noch nicht festgelegt. [95] In den Matrikularbeiträgen sahen Zentrum, Nationalliberale, Fortschrittliche Volkspartei und SPD keine solche Besitzsteuer, wie sie das Gesetz forderte. Daher würden die vorgeschlagenen Beiträge keine Mehrheit im Reichstag erhalten. [96]

Die Suche nach einer neuen Finanzierungsform war nicht einfach: Die Konservativen stemmten sich gegen eine Erbschaftssteuer und die Regierung wollte aus Rücksichtnahme auf die Interessen der Bundesstaaten keine Vermögenssteuer. Schließlich machte Ernst Bassermann den Vorschlag, die Reichsvermögenszuwachssteuer für den einmaligen Wehrbeitrag auch zu einer Reichssteuer zu machen. Die SPD, die Fortschrittliche Volkspartei, die Nationalliberalen und große Teile des Zentrums stimmten dafür. Dieser Vorgang ist insofern bemerkenswert, da die Sozialdemokraten für eine Steuer stimmten, deren Einnahmen größtenteils der Aufrüstung dienten, die Konservativen und Polen hingegen gegen die Steuer stimmten und sich somit isolierten. [97] Die für manche überraschende Zustimmung der Zentrumspartei ist darin begründet, dass sie nach 1909 damit zu kämpfen hatte, als besitzsteuerfeindlich zu gelten. Bei den Wahlen 1912 hatte das Zentrum einige Sitze verloren. [98] Die Vermögenszuwachssteuer besteuerte den Wertzuwachs jeglicher Vermögensgegenstände unabhängig von seiner Realisierung. Es gab keine Unterscheidung zwischen verdientem und unverdientem Zuwachs. Die Steuer sollte alle drei Jahre eingezogen werden, die Freigrenzen waren recht hoch und die Steuersätze waren mit maximal 2,5 Prozent geringer als die der Wertzuwachssteuer. [99]

Die neue Vermögenszuwachssteuer machte die Reichswertzuwachssteuer in den Augen mancher Abgeordneter überflüssig und so reichten im Juni 1913 einige Vertreter der Konservativen, Nationalliberalen, der Fortschrittlichen Volkspartei, des Zentrums und der Deutschen Reichspartei einen Änderungsantrag ein. Der sah vor, auf den Anteil des Reichs bei der Wertzuwachssteuer zu verzichten. Die Befugnisse sollten auf die Staatsebene übergehen, die sie wiederum an die Gemeinden weiterverweisen konnte. [100] Die im April und bei der Debatte über den Antrag genannte Kritik am Gesetz, welche überwiegend von der Fortschrittlichen Volkspartei, den Nationalliberalen, und den Konservativen (Deutschkonservativ und Deutsche Reichspartei) vorgebracht wurde, war größtenteils dieselbe wie bei der Einführung. Der Zuwachs stehe den Gemeinden und nicht dem Reich zu, die Steuer sei zu schematisch, bringe teilweise kaum Erträge, verursache aber dennoch hohe Erhebungskosten und Prozesse. [101] Auch wenn eine Doppelbesteuerung von Immobilien beim gleichzeitigen Bestehen der Vermögenszuwachssteuer und der Reichswertzuwachssteuer per Gesetzestext ausgeschlossen war, wurde sie als Kritikpunkt angeführt. [102]

Der Bund der Bodenreformer reagierte am 17. Juni mit einer Eingabe gegen die drohende Aufhebung des Gesetzes. Seiner Meinung nach hatte die Zuwachssteuer wirksam die Bodenspekulation vermindert. Ein Beweis dafür sei, dass die Aktienkurse der Terraingesellschaften bereits sprunghaft angestiegen seien, als Gerüchte über die Abschaffung aufkamen. Die angebliche Minderung der Umsatzsteuer sei neuen Untersuchungen zufolge falsch, lediglich einige einfache Änderungen des Gesetzes seien notwendig, um es zu verbessern. [103]

Bei der Debatte über den Antrag zur Abschaffung des Reichsanteils gab der Staatssekretär des Reichsschatzsamtes zu bedenken, es sei nicht sinnvoll, ein Gesetz „von so großer grundsätzlicher und wirtschaftlicher Bedeutung“ nach so kurzer Zeit abzuschaffen, anstatt Änderungen daran vorzunehmen. [104] Die Sozialdemokraten, die bei der Einführung gegen das Gesetz gestimmt hatten, sprachen sich nun für seine Beibehaltung aus, was für Spott sorgte. Im Gegenzug kritisierten die Sozialdemokraten die Parteien, die für das Gesetz gestimmt hatten und jetzt für seine schnelle Abschaffung eintraten. [105] Der Zentrums-Abgeordnete Jaeger, ein Anhänger der Bodenreformbewegung, war nicht mit dem Antrag seiner Parteigenossen einverstanden und schlug einige Änderungen vor, die das Gesetz jedoch weiter abgeschwächt hätten. Er plädierte für die Beibehaltung und fürchtete, einige Bundesstaaten und Gemeinden könnten die Steuer gänzlich abschaffen, sobald sie die Befugnis dazu hätten. Er spielte hier besonders auf das Hausbesitzerprivileg in Preußen an. In Gemeinden mit vielen Hausbesitzern unter den Entscheidungsträgern würde die Wertzuwachssteuer womöglich abgeschafft werden. Für den Rückgang der Umsatzsteuer machte er nicht die Wertzuwachssteuer verantwortlich, sondern „die ungesunde Bodenspekulation“, die vor dem Gesetz geherrscht habe und die, neben dem hohen Zinsfuß, für die Krise der Bau- und Immobilienbranche verantwortlich sei. [106] Während der Beratungen über die Einführung des Gesetzes waren viele Käufe getätigt worden, um die künftige Steuer zu vermeiden. Als die Wertzuwachssteuer eingeführt war, sanken dementsprechend die Umsätze und somit auch die Einnahmen der Umsatzsteuer. [107] Für die bodenreformerische Wirksamkeit und gegen die Abwälzbarkeit der Steuer sprächen laut Jaeger die zahlreichen Beschwerden der Terraingesellschaften. Bei einer Abschaffung der Wertzuwachssteuer sah er dramatische Folgen auf die Bevölkerung zukommen: Hohe Mieten, enge Wohnungen mit schlechter Lüftung, die Männer würden ins Wirtshaus getrieben, die Frauen auf den Tanzboden, insgesamt wachse ein „wehrunfähiges Geschlecht“ heran. [108] Zuspruch bekam Jaeger von einem Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei. [109] Franz Behrens von der Wirtschaftlichen Vereinigung, der ebenfalls für die Beibehaltung mit den vorgeschlagenen Änderungen Jaegers eintrat, kam auf den sozialen Gedanken des Gesetzes zurück:

„Als wir das Gesetz hier schufen, wollten wir nicht in erster Linie ein Finanzgesetz schaffen, sondern alle Herren des Hauses, mit denen ich damals gesprochen habe, und auch draußen im Lande, haben das Gesetz in erster Linie als soziales Gesetz aufgefaßt (hört! hört!) und hervorgehoben, daß es das erste große, wirklich soziale Steuergesetz ist, das der Reichstag verabschiedete.“ [110]

Auf dieses Argument gingen die Abgeordneten in der Sitzung nicht weiter ein. Der Antrag über den Verzicht des Reichsanteils wurde – mit einer Änderung – mit „große[r] Mehrheit“ angenommen, das genaue Abstimmungsergebnis ist leider nicht überliefert. Damit stand fest, dass ab dem 30. Juni 1913 der Reichsanteil der Steuer nicht mehr erhoben werden sollte. [111] Mit der Gesetzesänderung ging die Bestimmungsgewalt über die Wertzuwachssteuer an die Länder über. Die konnten sie an die Gemeinden weiterverweisen. Die meisten Länder verzichteten auf ihren Anteil der Steuer und wiesen die Zuständigkeit den Gemeinden zu. Baden hob die Steuer ganz auf. [112] Das Reich hatte durch das Gesetz 10,9 Mio. Mark im Jahr 1911 eingenommen, 1912 waren es 20,8 Mio. und 1913, nur ein halbes Jahr erhoben, 5 Mio. Mark. Gemessen am gesamten Aufkommen von Steuern, Zöllen und Gebühren des Reiches handelte es sich damit 1911 lediglich um 0,7 Prozent der Einnahmen. [113]

Auch nach der Abschaffung des Reichsgesetzes gaben die Bodenreformer ihre Idee einer reichsweiten Wertzuwachssteuer noch nicht auf. Die Gemeinden sollten nun die Steuer ausbauen, weiterentwickeln und die „Schäden und Schwächen“ des Reichsgesetzes entfernen. Auf diese Weise sollte für das Reich erneut der Weg geebnet werden, seinen „Anteil an der steigenden Grundrente zurückzugewinnen.“ [114] Die Überweisung an die Länder und Kommunen stellte für die Bodenreformbewegung allerdings eine herbe Niederlage dar. Die einzelnen Steuern hätten nur noch schwer intensiviert sowie dem Bodenreformgedanken entsprechend ausgebaut werden können und „große Sozialpolitik läßt sich nicht eben mit Kommunalabgaben machen.“ [115] Die neue Vermögenszuwachssteuer entsprach noch weniger den Vorstellungen der Bodenreformer als die Reichswertzuwachssteuer. Da der Wertzuwachs jeglichen Vermögens und nicht nur der des Bodens besteuert werden sollte, wurde der Monopolcharakter des Bodens, von dem die Bodenreformer überzeugt waren, negiert. Zudem waren die Steuersätze sehr gering und es gab keine Unterscheidung zwischen verdientem und unverdientem Wertzuwachs. [116] Da mobiles Kapital aufgrund der höheren Verzinsung zudem stärker belastet wurde als Immobilien konnten die Bodenreformer mit dieser Steuer nicht einverstanden sein, die Agrarier hingegen schon. [117] Sozialpolitische Wirkungen, wie sie das Reichswertzuwachssteuergesetz hatte verfolgen sollen, spielten beim Vermögenszuwachssteuergesetz keine Rolle mehr. Vielmehr wurden fiskalische Ziele verfolgt, es mussten Einnahmen für eine bevorstehende militärische Auseinandersetzung generiert werden. [118]

Die Gemeinden, die die Steuer weiterhin erhoben, orientierten sich im Wesentlichen an dem Reichsgesetz und nahmen auch seine Schwächen in Kauf. Ein grundsätzliches Problem bei einer Besteuerung des Wertzuwachses führte nach dem Ersten Weltkrieg zu ihrer Aussetzung oder gänzlichen Abschaffung in den Gemeinden: die Inflation. Sie machte es schwierig, einen Wertzuwachs sinnvoll zu berechnen. Auf dem Papier sehr hoch erscheinende Wertzuwächse lagen lediglich an der Geldentwertung, eine Besteuerung des auf diesen Werten ermittelten Wertzuwachses wäre ein Eingriff in die Substanz gewesen. [119] Auch wenn das Reich mit der Änderung von 1913 die Zuständigkeit abgegeben hatte, griff es noch mehrmals in die Bestimmungen der Länder und Gemeinden ein, indem es etwa 1923 im Zuge der Inflation die Gemeinden verpflichtete, die Kaufkraft der Mark bei der Bemessung des Wertzuwachses zu berücksichtigen. Diese Bestimmung machte die Wertzuwachssteuer jedoch unwirksam, da die Wohnungszwangswirtschaft eine Wertsteigerung, an der Goldmark gemessen nicht zuließ. [120] Zwei Jahre später wurde im Finanzausgleichgesetz festgelegt, die Gemeinden sollten eine Wertzuwachssteuer für die zwischen 1919 und 1924 erworbenen Immobilien erheben. Hier fand allerdings eine Besteuerung der Inflationsgewinne statt, nicht im eigentlichen Sinne eine Besteuerung des Wertzuwachses. [121] Allerspätestens 1936 verlor die Wertzuwachssteuer mit der Wiedereinführung der Mietpreiskontrolle und dem Preisstopp für Grundstücke an Bedeutung. 1944 wurden dann alle Wertzuwachssteuerverordnungen der Gemeinden außer Kraft gesetzt. [122]

6 Zusammenfassung

In der Reichswertzuwachssteuer verbanden sich bürgerliche Reformbewegung, die den Immobilienmarkt beeinflussen wollte, und Finanzpolitik. Gleichzeitig war die Zuwachssteuer das erste Steuergesetz, welches eine finanzielle Verbindung zwischen Reich und Kommunen herstellte. Daher ist ihre Untersuchung, trotz ihrer relativ kurzen Bestandsdauer, lohnenswert. Es konnte gezeigt werden, dass die Betrachtung der außerparlamentarischen Akteure, wie der Bodenreformbewegung, eine sinnvolle Ergänzung zur finanzpolitischen Forschung ist, da erst der Bund für Bodenreform die Wertzuwachssteuer in breiten Bevölkerungskreisen bekannt machte und sie so auch auf die politische Agenda setzte. Die sozialpolitische Komponente verlor das Gesetz im Laufe seiner Entstehung recht schnell. Die Bodenreformer hatten sich durch eine Wertzuwachssteuer positive Einflüsse auf den städtischen Immobilienmarkt erhofft. Spekulation sollte eingedämmt werden, die Mieten sinken. Über die tatsächlichen Auswirkungen kann keine zuverlässige Aussage getroffen werden, da die Zeitspanne, in der sie erhoben wurde, viel zu kurz war. Dennoch sollten die Wertzuwachssteuer und insbesondere die Agitation der Bodenreformer bei der Erforschung von städtischen Wohnungsmärkten beachtet werden, da der Bund eine Marktbeeinflussung durch Steuern forderte. Die Reichswertzuwachssteuer wurde eine Ersatzsteuer für die abgelehnte Erbschaftssteuer, die Konservative und Zentrum stark abschwächten, sodass die Bodenreformer kaum mit ihr einverstanden sein konnten und die Steuer nur relativ geringe Erträge erbrachte. Die Gegner der Steuer waren in der Lage, viele Gegenargumente darzubieten: die komplizierte und teure Berechnung, die Beschränkung der Selbstverwaltung der Kommunen und die Krise der Bau- und Immobilienbranche. Die neue Vermögenszuwachssteuer bot ihnen die Gelegenheit, die Steuer auf Reichsebene abzuschaffen. Die neue Besitzsteuer sei gerechter, da sie alle Vermögensarten besteuere und eine Doppelbesteuerung vermieden werden sollte. Doch für die Bodenreformer war Boden keine normale Vermögensart, sondern eine besondere und einzigartige, die einer ebenso besonderen Besteuerung bedurfte. Bei der neuen Vermögenszuwachssteuer spielten sozialpolitische Aspekte kaum noch eine Rolle. Der Fokus lag darauf, eine neue Einnahmequelle zur Finanzierung der Aufrüstung zu erschließen und zwar ohne in die Steuerhoheit der Bundesstaaten einzugreifen.

Die Mehrheit der bürgerlichen Parteien stimmte für den Verzicht des Reichsanteils der Wertzuwachssteuer, ebenjene Parteien, die noch zwei Jahre zuvor für sie gestimmt hatten. Das lässt sich meines Erachtens daraus erklären, dass die Mehrheit der Parteien 1911 die Steuer nicht aus Überzeugung bezüglich der bodenreformerischen Idee, sondern lediglich als Notlösung, als bessere Alternative zur Erbschaftssteuer, eingeführt hatte, die noch dazu versprach, die unbeliebte Umsatzsteuer senken zu können. Diese Notlösung war nun nicht mehr notwendig dank der Vermögenszuwachssteuer, die wiederum erst dadurch möglich geworden war, dass Zentrum und Konservative bei den Wahlen 1912 ihre Steuermehrheit verloren hatten und die SPD sich für eine Besitzsteuer einsetzte.

Der Verzicht auf den Reichsanteil und die Rückgabe der Bestimmungen an die Länder führte erneut zu einem Flickenteppich an Wertzuwachssteuergesetzen. Das Ziel der Bodenreformbewegung, eine reichsweite Bodenreform durch eine effektive Wertzuwachssteuer herbeizuführen, war gescheitert. Auch wenn die Idee einer Bodenwertsteuer etwa in den 1970er Jahren oder 2020 wieder aufkam, wurde der Wertzuwachssteuer von 1911 dabei wenig Beachtung geschenkt. Die Zukunft der Wertzuwachssteuer lag nach 1913 nun wieder in den Händen der Länder und Kommunen, was eine herbe Niederlage für die Arbeit der Bodenreformer darstellte, die sich daraufhin anderen Themen zuwandten. Mit ihrer Forderung nach Kriegerheimstätten erreichte die Bodenreformbewegung unter Damaschke im Ersten Weltkrieg den Höhepunkt ihrer Popularität.


Article note

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 "Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern" (Teilprojekt „Markt und Wert: Praktiken der Immobilienbewertung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert“).


About the author

Anna Grotegut

Anna Grotegut ist Doktorandin am Profilbereich Gesellschaft/Wissen/Umwelt der Abteilung Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Sie war von 2018-2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“. In ihrer Dissertation untersucht sie die Besteuerung von städtischen Immobilien in Deutschland und Großbritannien zwischen 1870 und 1950.

Published Online: 2022-05-12
Published in Print: 2022-05-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 10.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/jbwg-2022-0007/html
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