Paradoxes of Media and Information Literacy: The Crisis of Information. Jutta Haider und Olof Sundin. – London; New York: Taylor & Francis Routledge, 2022. 174 S. – ISBN 9780367756215 (hardback) 130,– GBP | ISBN 9780367756192 (paperback) 35,99 GBP | ISBN 9781003163237 (ebook) OA. DOI: 10.4324/9781003163237
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Ulrike Spree
Reviewed Publication:
Haider Jutta Sundin Olof Paradoxes of Media and Information Literacy: The Crisis of Information. Paradoxes of Media and Information Literacy: The Crisis of Information. London; New York Taylor & Francis Routledge 2022 130,– GBP 9780367756215 (hardback) 35,99 GBP 9780367756192 (paperback) OA 9781003163237 DOI: 10.4324/9781003163237 1 174

„In die Ecke, Besen! Besen! Seid’s gewesen.
Denn als Geister ruft euch nur, zu seinem Zwecke
erst hervor der alte Meister.“
(Goethe, Der Zauberlehrling)
Wie sehr Infrastrukturen unseren Alltag prägen, bemerken wir in der Regel erst, wenn – wie beispielsweise letzte Woche bei einem Streik im ÖPNV in Hamburg – diese nicht funktionieren. Olof Sundin und Jutta Haider, deren Arbeiten ich seit vielen Jahren verfolge, haben mich sensibilisiert dafür in welchem Ausmaß unterschiedliche Informationsinfrastrukturen (kommerzielle, algorithmische, technische und administrative) unseren Umgang mit Informationen und Medien bestimmen. Wahrnehmen tun wir diese Strukturen aber häufig erst, wenn Google mal nicht funktioniert.
Schon das Cover des 2022 erschienenen Buches von Jutta Haider und Olof Sundin „Paradoxes of Media and Information Literacy“ macht neugierig. Warum sind auf dem Cover einer Publikation zur Medien- und Informationskompetenz zwar verführerisch golden leuchtende, aber doch verschrumpelte Äpfel abgebildet? Haider und Sundin spielen mit diesem Bild auf eine Aporie an, mit der Angewandte Wissenschaften stets konfrontiert sind: die Anforderung Praxis zu verändern – in diesem Falle Förderung und Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz – und diese gleichzeitig aus der gebotenen kritischen Distanz zu erforschen. Die ehemals frischen Früchte (Äpfel) der Erkenntnis, beispielsweise Interventionen zur Förderung der Medien- und Informationskompetenz, sind zwangsläufig nicht mehr ganz frisch zu dem Zeitpunkt, zu dem sie umgesetzt werden können und verändern zudem ihrerseits die erforschte Wirklichkeit. Aber gerade das ist es, was Haider und Sundin reizt, Wirklichkeit kritisch zu reflektieren und zu verändern oder andersherum Wirklichkeit zu verändern und kritisch zu reflektieren. Was genau Individuen und Gesellschaften unter Information verstehen, wie diese erzeugt, nach ihr recherchiert wird, organisiert und bewahrt wird, ist nicht statisch, sondern verändert sich. Haider und Sundin erforschen diesen Prozess seit vielen Jahren – und sehen derzeit einen grundlegenden, durch die Digitalisierung fast aller Lebensbereiche katalysierten, Wandel, den sie als Krise der Information bezeichnen. Haider und Sundin verzichten darauf, diese Krise genau zu definieren, identifizieren aber eine Reihe von – in Form von Kollektivsingularen formulierten – Kennzeichen dieser Krise. Wesentliche Facetten dieses Wandlungsprozesses seien eine zunehmende Unbeständigkeit und Flüchtigkeit (volatility) von Information und die zunehmende Fragmentierung von Wissensbeständen, die über immer weniger vernetzte Plattformen bereitgestellt werden. Dies bringe eine Individualisierung und Emotionalisierung des Umgangs mit Informationen mit sich. Durch diese Entwicklungen werden – so Haider und Sundin – die Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung von Vertrauen und eines gemeinsamen Verständnisses der Bedeutung und Relevanz von Information in einer Gesellschaft grundlegend verändert.
In sieben Kapiteln beleuchten Haider und Sundin in einer Momentaufnahme, welche Herausforderungen sich durch diese Krise der Information für den Erwerb und die Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz ergeben.
Im ersten Kapitel skizzieren Haider und Sundin ihre Fragestellung und führen in zentrale Begrifflichkeiten ein. Vor allem aber legen sie ihren Untersuchungsansatz dar: das Aufspüren und Aufdecken von Inkommensurabilitäten, inneren Widersprüchen, die sich beispielsweise aus Interessenkonflikten unterschiedlicher Akteure oder Rollen, aber auch durch Unvereinbarkeiten von Zielsetzungen pädagogischer Interventionen ergeben. Zudem machen sie den eigenen politischen Standpunkt deutlich und beschreiben ihren Ansatz als Versuch, eine konsensuale mit einer pluralistischen Position auszubalancieren („balance“, S. 15). Sie gehen davon aus, dass der Zugang zu verlässlichen und vertrauenswürdigen Informationen in der Gesellschaft auf einem Konsens über bestimmte Verfahren und Mechanismen in Bezug auf die an der Wissensproduktion beteiligten Institutionen beruhen (muss) und dass dieser Konsens eine wesentliche Grundlage einer freiheitlichen Demokratie bildet. Gleichzeitig wollen sie aber auch Kritik am Ideal der deliberativen, auf die Erzielung von Konsens ausgerichteten, Demokratie mit einbeziehen. Sie halten einen pluralistischen Ansatz besser dafür geeignet, die unterschiedlichen unvereinbaren Wertvorstellungen hinter politischen Positionen zu verdeutlichen. Was genau ‚ausbalancieren‘ bedeutet, lassen sie an dieser Stelle offen. Erkenntnisleitende Fragen, die sich durch das gesamte Buch hindurchziehen, sind, die Frage danach, wer für die Bewertung welcher Informationen zuständig ist, und welche Normen hierbei gelten sollen. Wie entstehen Vertrauen und Glaubwürdigkeit und welche Rolle spielt Vertrauen beim Umgang mit Information? Welche impliziten Wertvorstellungen stecken dahinter?
Haider und Sundin bündeln die vielfältigen Widersprüche und Dissonanzen, die nach ihrer Einschätzung kennzeichnend sind für die derzeitige Krise der Information, in fünf Paradoxien, die jeweils im Mittelpunkt eines Kapitels stehen: Verantwortung, Normativität, Zeitlichkeit, Vertrauen und Neutralität.
Im zweiten Kapitel untersuchen Haider und Sundin, wie sich die Zuschreibung von Verantwortung für den angemessenen Umgang mit Information zunehmend von öffentlichen Institutionen auf Individuen in ihrer Rolle als verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger und vor allem als Konsumentinnen und Konsumenten verlagert hat. Grundlage der Analyse sind die Konzeptionalisierungen von Medien- und Informationskompetenz in so unterschiedlichen Handlungsfeldern wie Bibliotheken, EU-Richtlinien, Regulierung von Suchmaschinen und Plattformen sowie Gesundheitsinformationen, Journalismus und Mediensystemen. Haider und Sundin arbeiten als Paradoxon der Verantwortung heraus, wie individuelle Verpflichtungen im Umgang mit falschen oder mehrdeutigen Wahrheitsansprüchen (S. 30) mit Vorstellungen von individueller Wahlfreiheit kollidieren. Zudem geraten zugeschriebene Zuständigkeiten für die Gewährleistung demokratischer Entscheidungen zunehmend in Konflikt mit Ansprüchen auf Wahlfreiheit als Verbraucherinnen und Verbraucher, die ermöglicht und eingehegt werden durch die allgegenwärtigen plattformbasierten Informationsinfrastrukturen.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die Diskussion der Spannungen, die sich aus den unterschiedlichen, nicht selten impliziten normativen Annahmen über die Ziele der Medien- und Informationskompetenz und ihre konzeptionelle Ausgestaltung ergeben. Hierbei setzen Haider und Sundin an bei der Analyse der Medien- und Informationspraxis verschiedener gesellschaftlicher Akteure wie der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Bildungs- und Kulturinstitutionen wie UNESCO oder Schulbehörden. Gerade in diesem Kapitel lässt sich gut der analytische Ausgangspunkt von Haider und Sundin in Bezug auf die jeweiligen gesellschaftlichen Praktiken festmachen. Es geht ihnen darum, ein theoretisches Verständnis von Medien- und Informationskompetenz zu vermitteln, indem sie darüber nachdenken, wie verschiedene Akteure in der Gesellschaft auf unterschiedliche Weise mit dieser umgehen. Sie untersuchen, auf welchen unterschiedlichen Anforderungen und Normen die jeweiligen Konzepte von Medien- und Informationskompetenz beruhen und welche Konflikte – etwa zwischen dem Anspruch auf Neutralität und dem Ziel zu einer kritischen Bewertung von Informationsressourcen zu befähigen – daraus erwachsen können.
In Kapitel vier reflektieren Haider und Sundin die temporale Perspektive der Medien- und Informationskompetenz, das Verhältnis zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Sie stellen sich der Frage, welche Auswirkungen auf die Konzepte zur Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz in einer dynamischen Gesellschaft dadurch entstehen, dass nur aufgrund der Analyse von Erfahrungen aus der Vergangenheit zukünftige Anforderungen abgeleitet werden können. Medien- und Informationskompetenz wird in dieser Sichtweise zu einem beweglichen Ziel („moving target“, S. 83), in dessen Betrachtung unterschiedliche Zeitvorstellungen (Linearität, Beschleunigung) und Zeitregime (Zeit sparen versus Zeit verschwenden) einfließen. Haider und Sundin arbeiten in diesem Zusammenhang unter anderem die negative Dynamik heraus, die sich daraus ergibt, dass sich Medien- und Informationskompetenzvermittlung und -politik oft auf das Einüben solcher digitalen Fähigkeiten konzentrieren, die in Bezug auf die jeweils verfügbare Technologie bereits veraltet sind. Diese Dynamik spiegelt sich auch darin wider, dass verschiedene Generationen (am Beispiel der Diskussion um die „digital natives“ S. 103) gegeneinander ausgespielt werden, beispielsweise in Hinblick auf (vermeintliche) Defizite oder Bedürfnisse. Aus einem Verständnis von Medien- und Informationskompetenz als antizipatorische Praxis – so die Argumentation von Haider und Sundin – ließe sich ableiten, dass medien- und informationskompetentes Handeln immer auch bedeutet, künftige Informationsflüsse zu antizipieren und zu verstehen und die (möglichen Folgen) gegenwärtiger und vergangener Interaktionen auf die Zukunft zu berücksichtigen.
Im Zentrum von Kapitel fünf steht der exemplarische Vergleich, wie Medien- und Informationskompetenz und damit verbundene Vermittlungskonzepte in die Lehrpläne und die Bildungspraxis und Erfolgsmessung (Beispiel PISA) in verschiedenen Ländern integriert sind und welche Schwierigkeiten sich in der Umsetzung dieser Konzepte ergeben. In diesem Zusammenhang diskutieren Haider und Sundin die Wechselwirkungen zwischen Vertrauen und Zweifel. Die Kompetenz, unterschiedliche Wahrheitsansprüche gegeneinander abwägen zu können, kann nur auf der Basis eines grundsätzlichen Vertrauens – beispielsweise in das Funktionieren des Wissenschaftssystems und seiner Strukturen – entstehen. Aus diesem Grund sei es gleichermaßen wichtig zu lehren, in wen und warum man Vertrauen haben (könne) und Methoden zu vermitteln zur Zurückweisung, Korrektur und Neubewertung von (unberechtigten) Wissensansprüchen.
In Kapitel sechs greifen Haider und Sundin das Wechselverhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen erneut auf. Sie unterscheiden zwischen konstruktivem Misstrauen („constructive distrust“) und destruktivem Misstrauen („cynical distrust“) (S. 116), das den Nährboden für ‚alternative Wahrheiten‘ oder Verschwörungstheorien bilde. Sie zeigen anhand eines schwedischen Beispiels, wie die Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz eingesetzt werden kann, um grundsätzlichen Zweifel in gesellschaftliche Institutionen zu säen. In Schweden wird der kritischen Bewertung von Informationen und Informationsquellen („källkritik“, S. 120), als einem Eckpfeiler der Medien- und Informationskompetenz, eine herausragende Rolle im Kampf gegen Fehlinformation und Desinformation zugewiesen. Es gibt in Schweden sogar einen Tag der Quellenkritik (der 13. März). Haider und Sundin zeigen, wie das Konzept der Quellenkritik sehr unterschiedliche Akteure zusammenbringt, von politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern über Pädagoginnen und Pädagogen und Bibliothekarinnen und Bibliothekaren bis hin zu Politikerinnen und Politikern, und wie es zunehmend als rhetorisches Mittel eingesetzt wird, um Andersdenkende zu kritisieren. Anhand einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Analysen von Twitter-Feeds, Medienmaterial und Google-Suchergebnissen oder Hashtag-Netzwerken zeigen Haider und Sundin, wie rechtsextreme Gruppierungen und Netzwerke die Anforderung der Quellenkritik aufgreifen und für ihre Ziele umfunktionieren. Dies kann etwa geschehen, indem Aussagen verkürzt oder dekontextualisiert werden. So wird beispielsweise der Auftrag von Bibliotheken durch Berücksichtigung vielfältiger Positionen zur Förderung der freien Meinungsbildung beizutragen als Neutralitätsgebot uminterpretiert. Gemeinsam ist solchen Verfahren das Ziel, eine allgemeine Atmosphäre des Misstrauens zu schaffen. Medien- und Informationskompetenz, wozu auch die Informationskontrolle gehört, sind immer politisch. Das Neutralitätsparadoxon ergibt sich nach Ansicht von Haider und Sundin daraus, dass bestimmte Konzepte wie Neutralität aus ihrem Entstehungszusammenhang – in diesem Falle des eines liberalen Politikverständnisses („discursive decoupling of neutrality from liberalism“, S. 151) – und den zugrundeliegenden Wertvorstellungen herausgelöst und gegen diese verwendet werden. Neutralität muss die Reflexion über Voreingenommenheit einschließen und offenlegen, wer wie profitiert und wer geschädigt wird. Solange die Medien- und Informationskompetenz nicht normativ und ausdrücklich auf das Wohl des Menschen ausgerichtet werde und das Wohl des Menschen nicht klar artikuliert werde, werde sie unweigerlich in die Richtung der stärksten politischen Strömungen gezogen. Wenn Neutralität also eine Option sein soll, um eine Pluralität von Quellen, Medien und Literaturen zu ermöglichen, müsse sie begrenzt werden und die Grenzen müssen explizit artikuliert werden und erkennbar sein. Neutralität brauche einen Raum, in dem sie verwirklicht werden könne. Nach Einschätzung von Haider und Sundin könnten Bibliotheken ein solcher Raum sein.
In Kapitel sieben arbeiten Haider und Sundin abschließend heraus, wie prägend die fünf in den vorhergehenden Kapiteln hergeleiteten Paradoxien sind für die derzeitige durch die Monopolstellung weniger Informationsplattformen und deren algorithmischer Steuerung des Zugangs zu Informationen charakterisierte Informationsinfrastruktur. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass es nicht darum geht, diese Parodoxien aufzulösen, sondern vielmehr sie nutzbar zu machen zur Stärkung der Medien- und Informationskompetenz im Sinne der kritischen Auseinandersetzung mit Informationen und der Reflektion der eigenen Widersprüche und normativen Annahmen. Diese Auseinandersetzung könne Handlungsmöglichkeiten innerhalb der plattformbasierten Informationsinfrastruktur sowie Möglichkeiten zu Veränderungen bewirken.
Geben Haider und Sundin eine Antwort auf die Frage, wie – angesichts der konstatierten Paradoxien – eine konsensuale mit einer pluralistischen Position bezogen auf die Medien- und Informationskompetenz ausbalanciert werden kann und wie konkret Veränderungen bewirkt werden können? Die Antwort ist ebenso klar wie unbequem. Wir müssen diese inneren Widersprüche als unauflösbar anerkennen, sie als Aufforderung verstehen, den dahinterliegenden widerstreitenden Interessen nachzuspüren und diese auszuhandeln. Es geht auch darum, die Konzeptionalisierungen von Medien- und Informationskompetenz gleichermaßen als Teil der Krise und als ihre Lösung zu akzeptieren. Eine besondere Rolle schreiben Haider und Sundin hierbei den Bibliotheken zu. Als Institution sei die Bibliothek durch eine für das Berufsbild konstituierende interne Diskussion gekennzeichnet, die, wenn sie erfolgreich ist, die Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren, Interessen und Agenden stabilisiert.
Wie bereits in früheren Arbeiten (Haider, Sundin 2019) stützen sich Haider und Sundin auch in diesem Buch auf die Ansätze der „infrastructure studies“ in der Tradition von Geoffrey Bowker, Karen Ruhleder und Susan Leigh Star. Erst durch die Berücksichtigung und kritische Erforschung der materiellen Grundlagen und Technologien, die wir alltäglich nutzen, ohne weiter darüber nachdenken, wird sichtbar, in welchem Umfang diese unseren Alltag und unser Handeln prägen. „Agency“ im Sinne von Handlungsfähigkeit oder -mächtigkeit wird nicht nur Menschen zugesprochen, sondern erstreckt sich auch auf Informationssysteme, ihre Daten, Algorithmen und Gestaltungsprinzipien und wie Menschen diese in ihre (Informations-)Praxis einbinden.
In ihrem äußerst belesenen Buch greifen Haider und Sundin zurück auf eine Vielzahl in unterschiedlichen Kontexten entwickelte Theorien und Forschungsansätze. Sie stützen ihre Argumentation auf verschiedene Materialien wie Ausschnitten aus im Rahmen ihrer Studien zu Suchmaschinen und Algorithmen entstandenen Interviews vor allem mit Jugendlichen und Lehrerinnen und Lehrern[1], aber auch auf die quantitative Auswertung von Social Media Posts. Was zunächst wie ein bunter Teppich ineinander verwobener Fäden und Muster wirkt, weist durchaus eine wiederkehrende Struktur auf. Zu Beginn eines jeden Kapitels steht ein konkretes Beispiel, ein Fall – beispielsweise im letzten Kapitel eine Dokumentation zum Einsatz von Informationskompetenzen zur Verbreitung impfkritischer Propaganda. Anschließend folgt die Diskussion des Falls aus unterschiedlichen Perspektiven, die verschiedene Deutungen zulassen. Auf dieser Grundlage wird dann das Paradoxon herausgearbeitet.
Die einzelnen Kapitel sind durch vielfältige Querverweise miteinander verwoben, was der Gesamtargumentation guttut, aber auch die Systematik und die Trennschärfe der fünf Paradoxien (Verantwortung, Normativität, Temporalität, Vertrauen, Neutralität) einschränkt. Es bleibt unklar, welche Aspekte wie auf die Krise der Information ‚einzahlen‘. Angesichts des Umfangs und Vielfalt der Aspekte können notwendigerweise einzelne Aspekte wie etwa Verbindung zwischen Informationskompetenz und Verantwortung (S. 26) in Bezug auf den zugrundeliegenden Verantwortungsbegriff nur angerissen werden. Eine Prämisse des Buches ist es, selbstverständliche Annahmen über Informationskompetenz zu hinterfragen und zu erforschen, wie Informationskompetenz in der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation geformt oder ermöglicht wird. Das Bild, das Haider und Sundin von Informationskompetenz zeichnen, ist dabei eher statisch: etwas, das besser oder anders gelehrt werden sollte. Wie sich dieses Konzept selbst durch neu entstehende Infrastrukturen immer wieder grundlegend verändert oder modifiziert, wird nur angedeutet.
Die gewählte Darstellungsform von Haider und Sundin lässt sich als ‚dichte Beschreibung‘ (Geertz) unterschiedlichster Themenfelder (Fake News, Konsumentenschutz, Schule) sowie Genres und Textsorten (soziologische Analysen, Policies, programmatische Texte, Mission Statements, Transkripte von Stakeholder Interviews, Ergebnisse ethnographischer Studien) mit dem Ziel der Sichtbarmachung von Zielkonflikten und inneren Widersprüche charakterisieren. Dies sorgt einerseits für ein facettenreiches Bild, birgt aber auch die Gefahr der unreflektierten Übertragung von domainspezifischen Besonderheiten. Manchmal hätte ich mir mehr Kontextualisierungen und Erläuterungen bei den Verweisen der wörtlichen Zitate der eigenen empirische Untersuchungen so wie konkrete Belege gewünscht. So wie die Beispiele eingesetzt werden, haben sie – wie Haider und Sundin selbst schreiben, eben doch häufig nur eine illustrierende Funktion (S. 34). Dies ist besonders deswegen schade, weil gerade die Interviews mit Jugendlichen zeigen, wie Nutzende von Informationssystemen nicht nur durch Algorithmen beeinflusst werden, sondern ihrerseits diese bewusst einsetzen und verändern (S. 75). Haider und Sundin vertreten einen weiten Begriff von Informationskompetenz, wollen aber auch Bezüge zu verwandten Konzepten wie Medienkompetenz und Datenkompetenz herstellen (S. 10). Während dies für die Medienkompetenz eingelöst wird, fehlt eine explizite Diskussion von Konzepten zur Datenkompetenz (data literacy). Gerade angesichts des Fokus auf den Zusammenhang zwischen Algorithmen und Literacies erstaunt dieser Verzicht auf eine explizite Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten der Datenkompetenz und der vielfältigen Prozesse der Datafizierung sämtlicher Lebensbereiche.
Haider und Sundin heben ab auf die Wirkmächtigkeit der technologischen Informationsinfrastrukturen und wie diese unser (Informations)verhalten prägen, ohne dass wir dies bemerken. Haider und Sundin betonen auch, dass es ihnen darum geht, Informationsstrukturen als gemacht und damit auch veränderbar darzustellen. Im Index wird auf 21 Stellen mit dem Eintrag „power“ (S. 158) verwiesen. Es fehlen jedoch konkrete Beispiele dafür, wie strukturell ungleiche Machtverhältnisse beispielsweise den Zugang zu Informationen beeinflussen und wie diese aufgebrochen werden können. Dies leisten Catherine D’Ignazio und Lauren Klein in ihrem 2020 erschienen Buch Data Feminism, indem sie zeigen, wie ganz konkrete Interventionen zur Stärkung der Datenkompetenz benachteiligter Gruppen beitragen können.
Bewerte ich mein Lektüreerlebnis rückblickend, so zieht sich die anfangs konstatierte Ambivalenz zwischen Veränderung der Praxis, Beobachtung und kritischer Reflexion durch alle sieben Kapitel des Buches. Konkrete Empfehlungen, wie Medien- und Informationskompetenz in Zeiten einer (Dauer-)krise der Information vermittelt werden kann (oder sollte) liefert das Buch – wie ja auch nicht anders zu erwarten war – nicht.
Gut gefällt mir, wie Haider und Sundin durch ihre dichte Beschreibung die Leserinnen und Leser an ihrem Erkenntnisprozess teilnehmen lassen, wie sie aus der Präsentation von Argument und Gegenargument schrittweise die Paradoxien herausarbeiten und auf diese Weise zahlreiche Denkanstöße und Verweise geben. Diese Vorgehensweise regt dazu an, bestehende Ansätze zur Förderung der Medien- und Informationskompetenz immer wieder kritisch auf ihre jeweiligen theoretischen Prämissen und auf ihre Folgen zu hinterfragen. Tun wir das nicht, könnte es uns wie Goethes Zauberlehrling gehen und jene „Geister, die wir riefen“ wenden sich gegen uns, etwa dann, wenn berechtigtes Misstrauen zu grundsätzlicher Skepsis gegenüber allem und jedem führt und in Glauben an Verschwörungstheorien umschlägt.
Gut gemeinte, theorieagnostische Empfehlungen etwa zur Nutzung von einfachen Checklisten für die Evaluation von Informationsressourcen (wie CRAAP und CARS) sind keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen, die durch die ‚Krise der Information‘ entstehen. Solche Heuristiken in Form von Checklisten können immer nur Anlässe, Ausgangspunkte für weitere Reflektionen sein. Der ‚materialistische‘ Ansatz von Haider und Sundin schärft den Blick dafür, wie die materielle Infrastruktur in Form von Suchmaschinen, Plattformen, Dateninfrastrukturen, Algorithmen, die Umsetzung von Informationskompetenz ermöglicht und gleichzeitig auch einschränkt. Er gibt uns aber auch Handlungsfähigkeit zurück, denn sobald wir uns diese Strukturen bewusst machen, wird auch sichtbar, dass diese eben nicht natürlich, sondern veränderbar sind.
Haider und Sundin haben sich viel vorgenommen für einen 175-seitigen Text. Der weite Bogen ist einerseits inspirierend und kurzweilig, andererseits können viele Themen in diesem Rahmen nur angerissen werden. So ist der Text trotz der vielfältigen Einsprengsel theoretischer Ansätze und empirischer Befunde ein eher essayistisches „thought piece“. Das muss jedoch kein Nachteil sein, sondern kann ja gerade eine Inspiration für weitere empirische Forschung sein.
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Paradoxes of Media and Information Literacy: The Crisis of Information. Jutta Haider und Olof Sundin. – London; New York: Taylor & Francis Routledge, 2022. 174 S. – ISBN 9780367756215 (hardback) 130,– GBP | ISBN 9780367756192 (paperback) 35,99 GBP | ISBN 9781003163237 (ebook) OA. DOI: 10.4324/9781003163237
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