Personalien
Harald H. Zimmermann †

Harald H. Zimmermann, geboren am 18. Juni 1941, ist am 28. Dezember 2019 verstorben. Er war ein Visionär und Macher, der zahlreiche Spuren hinterlassen hat und entscheidende informationswissenschaftliche Impulse gesetzt hat. Begriffe wie Medienkompetenz, Informationsgesellschaft, Computer im Unterricht u. a., die gerade heute als Themenfelder akut sind, haben ihn schon in den frühen 1990er Jahren beschäftigt und fanden ihren Niederschlag in dem von ihm gegründeten akademischen Studiengang Informationswissenschaft an der Universität des Saarlandes.
Sein erstes Interesse galt der nichtnumerischen Datenverarbeitung oder Sprachdatenverarbeitung, heute als Computerlinguistik bekannt. Seine frühen Jahre als Computerlinguist in der Germanistik und im Sonderforschungsbereich SFB 100 haben mit die Grundlagen für die Einrichtung des Schwerpunkts Computerlinguistik in Saarbrücken und an der Universität Regensburg gelegt, wo er 1977 den Lehrstuhl Nichtnumerische Datenverarbeitung gründete. Auf diesem Gebiet hat er nicht nur geforscht, sondern im Auftrage verschiedener Bundesministerien und der EU viele anwendungsbezogene Projekte, u. a. an dem von ihm gegründeten IAI (Institut für angewandte Informationsforschung), durchgeführt. Parallel dazu hat er als erfolgreicher Unternehmer die Softex GmbH geleitet, die Software für Rechtschreibhilfen und Silbentrennung entwickelt und vermarktet hat.
Sein Interesse an der Rolle der Sprache im Informationsprozess hat er mit hineingenommen in seinen Lehrstuhl für Informationswissenschaft an der Universität des Saarlandes, den er 1980 begründete und bis 2006 innehatte. Die Informationslinguistik hat aber nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit beansprucht. Ihn beschäftigten dort alle Prozesse, die den Menschen als Nutzer von Informationssystemen betrafen. Er entwickelte die Informationswissenschaft als Brückenwissenschaft, die alle Aspekte von Informationsprozessen beleuchtet. Information als Prozess oder Ergebnis des Transfers von Wissen. Sein Schriftenverzeichnis seit den 1980er Jahren (https://zimmermann.infowiss.net/schriften.php?kat=5) führt eine Vielzahl an Themen auf, die gerade heute brennend aktuell sind:
Computer am Arbeitsplatz, Bürokommunikation
Fachinformation (mehrsprachige Fachinformation, FI in den Geisteswissenschaften)
Medieninformation (Bildschirmtext und Videotext, Kabel- und Satellitenfernsehen, elektronische Zeitungen, ...)
Computer im Unterricht, computergestützter Unterricht, Medienkompetenz
Datenschutz, Schutz der Privatsphäre im „elektronischen Zeitalter“
Mensch-Maschine-Schnittstelle, -Kommunikation
Harald Zimmermanns Visionen blieben nie Hirngespinste, sondern fanden ihren Niederschlag immer auch in konkreten Projekten und Anwendungen. So erkannte er schon früh die Potentiale des World Wide Web und initiierte z. B. 1995 einen Online-Führer durch das Weltkulturerbe „Alte Völklinger Hütte“, der noch immer zugänglich ist (https://huette.infowiss.net/); 1999 das virtuelle LehreInformationssystem ViLI, das heute noch von der Sportwissenschaft an der Universität des Saarlandes genutzt wird (https://vili.de/); ab 2000 verschiedene literarische Informationssysteme (https://elsa.infowiss.net/, https://gulden.infowiss.net/, https://nietzsche.infowiss.net/).
Visionär auch seine Projekte „Informationspraktikanten I+II“ zum Informationstransfer in Betriebe und Schulen in den 1990er Jahren, in denen Betrieben und Lehrkräften/Schülerschaft der Einsatz und die Nutzung von Computern und Software nahegebracht wurden, eine Notwendigkeit, die heute aktueller denn je ist.
All diese seine Ideen und Interessen haben für die informationswissenschaftliche Lehre viele Studierende angezogen. Anfang der 1990er Jahre haben in Saarbrücken zeitweise über 500 Studierende gleichzeitig im Hauptfach oder Nebenfach Informationswissenschaft studiert (bei nur einer Professur), die heute in den unterschiedlichsten Berufen tätig sind und sich gerne an ihr Studium erinnern. Abgesehen von den eigentlichen informationswissenschaftlichen Bereichen der Informationsvermittlung (Fachinformation, Bibliothekswesen, Dokumentation) sind dies v. a. die „Medien“ im weitesten Sinne (Rundfunk, Fernsehen, Videotext, Presseverlage, World Wide Web), Softwareunternehmen und Unternehmensberatungen.
Harald Zimmermann war seit 1976 Mitglied der DGD und regelmäßiger Teilnehmer ihrer Tagungen, letztmalig 2011 beim Oberhofer Kolloquium in Magdeburg. Er arbeitete Ende der 1970er Jahre engagiert und vorausschauend bei der Planung des Fachinformationssystems Geisteswissenschaften mit, zu dessen Realisierung es aufgrund der strukturellen und politischen Gegebenheiten seinerzeit nicht kam. In seinen anwendungsorientierten Projekten bewies er jedoch später stets auf neue die Machbarkeit und Relevanz seiner frühen hellsichtigen Konzeptionen.
Heinz-Dirk Luckhardt
Harald Zimmermann – Professor der Informationswissenschaft
Harald Zimmermann gehörte zu der Gruppe der Personen, die die Informationswissenschaft im deutschsprachigen Bereich an den Hochschulen institutionalisiert hatten. Die meisten aus dieser Gruppe sind inzwischen verstorben. Ich nenne nur – in Klammern das Jahr, in dem diese eine Professur übernommen hatten – Hans-Werner Schober (1969), Norbert Henrichs (1974), Gerhard Lustig (1975), Gernot Wersig (1977), Jürgen Krause (1982), Walther Umstätter (1982), ... Auch Harald Zimmermann ist nun am 28. Dezember 2019 im Alter von 78 Jahren verstorben.
Harald Zimmermann war allerdings, fast zeitgleich mit mir in Konstanz, der erste, der – im Vokabular der damaligen Zeit – einen Lehrstuhl, also damals eine C4-Professur, speziell für das Fach Informationswissenschaft übernommen hatte. Die Einrichtung dieser beiden Lehrstühle war eine etwas verspätete und dann nur noch sehr eingeschränkte Umsetzung eines der Ziele des IuD-Programms (1974-77). Vorgesehen waren ursprünglich – entsprechend den hochfliegenden Plänen und Empfehlungen von Werner Kunz und Horst Rittel (Die Informationswissenschaften: Ihre Ansätze, Probleme, Methoden und ihr Ausbau in der Bundesrepublik Deutschland, 1972) – mehrere informationswissenschaftliche Zentren an den Universitäten in Deutschland mit jeweils vier bis sechs Professuren. Informationswissenschaft rang damals noch mit der ebenfalls im Entstehen begriffenen Informatik um die Deutungshoheit von Information. Die gesellschaftliche Relevanz von Information wurde als gleichgewichtig mit deren technischer Realisierung angesehen. Diese Auseinandersetzung war spätestens 1980 entschieden – eindeutig zu Ungunsten der Informationswissenschaft.
Ich erinnere mich an einen Anruf Mitte 1980 von Heinz Lechmann – seit 1963 Referatsleiter für Dokumentation im damaligen BMFT und mit seinen 1967 formulierten 20 Leitsätzen für nationale IuD-Politik im Bereich Wissenschaft und Technik gleichsam der „Vater“ des IuD-Programms –, in dem er mich fragte, ob ich oder Harald Zimmermann den Ruf auf den Lehrstuhl in Konstanz bzw. Saarbrücken schon erhalten hätten. Als ich dies bejahte, sagte er nur „Gott sei Dank“, und fügte sogleich hinzu, dass unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt die Ziele des IuD-Programms zurückgeschnitten und vor allem der Ausbau der Informationswissenschaft an den Hochschulen gestoppt werde. Priorität habe jetzt in der Politik die Förderung der auf praktische Verwertung zielende und sich nicht zuletzt für die Wirtschaft erfolgreich abzeichnende technische Forschung und Entwicklung in der Informatik.
Ich telefonierte dann umgehend mit Harald Zimmermann, der in einer ähnlichen Situation wie ich war. Wir tauschten unsere Erfahrungen mit den Berufungsverhandlungen aus und sahen, dass die personelle Ausstattung kaum dem entsprach, was durch Kunz/Rittel angedacht war. Aber es gab natürlich keine Alternative zu der Annahme der Rufe auf die beiden Lehrstühle. Dass durch diese politische Umorientierung auch die Realisierung des Fachinformationszentrums (Geisteswissenschaften) nur ein Wunschtraum geblieben war, gehörte zu den wenigen großen Enttäuschungen von Harald Zimmermanns wissenschaftlicher und wissenschaftspolitischer Arbeit.
Durch die Schmidt´sche Entscheidung aber war das „Schicksal“ der universitären Informationswissenschaft – und das gilt mehr oder weniger bis heute – quasi besiegelt: Einrichten von Studiengängen der Informationswissenschaft mit extrem niedrigem Stammpersonal, entsprechend hohe, intensive und fachlich breit gestreute Lehrbelastung und Absicherung der Forschung durch Drittmittelprojekte. Es kann dem an die politischen Vorgaben gebundenen Referat des BMBF zugutegehalten werden, dass die beantragten Projekte i. d. R. wohlwollend begutachtet und entsprechend gefördert wurden. Harald Zimmermanns wissenschaftliche Arbeit wurde so bis in die 1990er Jahre weitgehend über BMBF-Gelder finanziert.
Harald Zimmermanns akademische Laufbahn hatte an der Universität Regensburg begonnen. 1972 wurde er mit der Arbeit „Das Lexikon in der maschinellen Sprachanalyse“ promoviert und zwei Jahre später, im Alter von 33 Jahren, hatte er an der gleichen Universität die Professur inne, von der er den Studiengang Linguistische Informationswissenschaft entwickelte. Die Projektarbeit, auch dort unabdingbar zur Kompensation fehlender Grundausstattung einer C3-Professur, funktionierte schon in Regensburg mit den JUDO- und COBIS-Projekten sehr gut. Durch das erstere Projekt wurde u. a. auch die Grundlage für die akademische Karriere von Jürgen Krause geschaffen, für das zweite die für die informationswissenschaftliche Karriere von Wolf Rauch, damals Mitarbeiter im COBIS- Büroinformationssystemprojekt.
Das hat Harald Zimmermann außerordentlich erfolgreich ab 1980 als berufener Lehrstuhlinhaber in Saarbrücken fortgesetzt. Dies wurde auch dadurch möglich, dass er ein äußerst geschickter, nie direkten Druck ausübender, aber konsequent seine Ziele verfolgender Verhandlungspartner war. Harald hatte großes Talent, nicht nur als Wissenschaftler und Professor anerkannt, sondern auch als Freund angesehen zu werden. Entscheidender für seinen Einwerbeerfolg aber war schließlich vor allem der außerordentliche Respekt in der auch politischen Fachwelt, den er ob seiner Kompetenz in Fragen der „Sprachdatenverarbeitung“ erworben hatte.
Harald Zimmermann gilt als einer der Pioniere dieser Disziplin. Hohe Erwartungen wurden damals aus der Kombination von Linguistik und Computertechnik (Informatik) erhoben. Harald Zimmermann machte daraus in Regensburg den ersten Studiengang überhaupt mit dem Etikett „Linguistische Informationswissenschaft“. Mit der Übernahme der Professur in Saarbrücken war der Anspruch mit der allgemeinen Denotation „Informationswissenschaft“ vor allem in der Lehre natürlich breiter. Aber unverkennbar ist Harald immer der Mittler zwischen Informationswissenschaft und Computerlinguistik geblieben. Dabei konzentrierte er sich in erster Linie auf das automatische Indexieren und das automatische Übersetzen. Vor allem das automatische Indexieren war aber schlechthin sein Thema – immer mit dem Anspruch, nicht nur linguistische Grundlagenforschung zu betreiben, sondern die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, z. B. im Rahmen des automatischen Indexierungssystems CTX, in praktischen Anwendungen zu überprüfen und dadurch die Arbeit in Einrichtungen der Informationspraxis zu unterstützen. Auch hier war er außerordentlich erfolgreich, entsprechende Partner bei den Anwendungen zu finden.
Unsere beiden Wissenschaftskarrieren sind eine Weile parallel gelaufen. Wir waren, nicht zuletzt über das gemeinsame Thema der automatischen Indexierung, gewissermaßen wissenschaftliche Kontrahenten – damit aber nie wirkliche Konkurrenten oder gar Gegner. Ganz im Gegenteil. Harald Zimmermann hatte kein Problem damit – und ich bin ihm bis heute dankbar dafür –, meine Arbeit, die 1974 in der damaligen Zentralstelle für maschinelle Dokumentation unter der Betreuung von Gerhard Lustig in einem anderen wissenschaftlichen Kontext und in einem anderen Paradigma entstanden war, als Dissertation in Regensburg anzunehmen.
Es steht mir hier nicht an, die wissenschaftliche Qualität und die Nachhaltigkeit von Harald Zimmermanns Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie seine Erfolge in der Lehre zu bewerten. Seine Arbeiten, seine Projekte und seine Publikationen sowie seine hohe Reputation als akademischer Lehrer stehen für sich. Zweifellos sind aber seit gut 20 Jahren die Entwicklungen in der „Sprachdatenverarbeitung“ unter dem Einfluss der Informatik und Künstlichen Intelligenz anders als über die von Harald Zimmermann verwendeten Methoden verlaufen. Die Verfügbarkeit großer Datenmengen und die Entwicklung von Wissensrepräsentationssprachen auf der Grundlage von automatischen Lernverfahren und neuronalen Netzen, Analysetechniken des Text- und Data Mining sind heute die Grundlagen auch für Sprachverarbeitung, z. B. für Spracherkennung und automatisches Übersetzen. Diese Entwicklung hat Harald Zimmermann nicht mitgemacht. Seine Arbeiten richteten sich seit den 1990er Jahren stärker auf Wissenstransfer, bibliotheks- und archivbezogene Anwendungen, multimediagestütztes Lehren und Lernen etc. – aber immer mit einer informationswissenschaftlichen Perspektive. Das alles – und sicherlich darüber hinaus noch seine privaten, sozialen und politischen Aktivitäten – spricht für den weiten Horizont mit den vielfältigen Interessen und seinem umfassenden Wissen, aus dem er schöpfen konnte.
Ich hatte in den letzten zehn Jahren keinen Kontakt mit Harald mehr. Ich hoffe, dass die letzten Jahre nicht zu schwer für ihn waren. Ich werde ihn als unermüdlichen Kämpfer für seine wissenschaftlichen Ziele und Ergebnisse, als fairen Kollegen und guten verlässlichen Freund, in Erinnerung behalten. Er hat sich um die Informationswissenschaft verdient gemacht.
Rainer Kuhlen Prof. emeritus an der Universität Konstanz
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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