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Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel. Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede “Trasjanka” in Weißrussland.

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Published/Copyright: February 18, 2020
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Bernhard Kittel, Diana Lindner, Mark Brüggemann, Jan Patrick Zeller, Gerd Hentschel ( 2018 ): Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel. Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede “Trasjanka” in Weißrussland. Berlin u. a.: Peter Lang. Online verfügbar unter https://www.peterlang.com/view/title/62692. 338 Seiten.


Die zu besprechende Gemeinschaftsmonographie besteht aus zehn Kapiteln und einem Anhang. In der Einleitung wird die soziolinguistische und sprachsozilogische Situation in der Republik Weißrussland thematisiert. Diese ist dadurch ausgezeichnet, dass das Weißrussische als Standardsprache sich hinsichtlich von Gebrauch und Funktion in einer geschwächten Position befindet und insbesondere das Russische als wichtigstes Kommunikationsmittel in Erscheinung tritt. Darüber hinaus nimmt die sogenannte „Trasjanka“, eine „weißrussisch-russisch gemischte Rede“ (in der Monographie und im Folgenden als WRGR abgekürzt, um negative Konnotationen von Trasjanka zu vermeiden) eine wichtige kommunikative Funktion ein, wie wichtig und umfangreich wird u. a. in der zu rezensierenden Monographie besprochen. Die in der Monographie präsentierten Ergebnisse gehen auf von B. Kittel und G. Hentschel geleitete Großprojekte der Volkswagenstiftung zurück. In der vorgelegten Arbeit lässt sich eine inhaltliche Dreiteilung erkennen. Die ersten drei Kapitel sind eine allgemein sprachsoziologische Einleitung zu der Problematik. Der zweite Teil gibt eine konzise soziolinguistische Darstellung der Situation in Weißrussland, inklusive historischer Rückblicke wieder. Der dritte Teil beinhaltet Ergebnisse von umfangreichen in vielen Orten Weißrusslands durchgeführten empirischen Erhebungen (quantitative Befragung in Form von Fragebögen bzw. Interviews) wieder, die einen umfassenden Einblick in die aktuelle soziolinguistische Situation in Weißrussland geben.

Die weißrussische Gesellschaft ist durch Mehrsprachigkeit gekennzeichnet, in denen nicht nur unterschiedliche Sprachen und Varietäten gesprochen werden, sondern darüber hinaus Sprachen gemischt werden (Sprachmischung), was wiederum Fragen nach den Gründen für die Sprachwahl bzw. einen Sprachwechsel zwischen unterschiedlichen Codes mit sich bringt. Die ersten drei Kapitel versuchen die wichtigsten Erklärungsansätze der Sprachsoziologie zu synthetisieren bzw. in geraffter Weise wiederzugeben, dabei wird auch versucht den Unterschied zur Soziolinguistik herauszuarbeiten. Traditionell wird z. B. auch in der Linguistik nicht immer streng zwischen diesen eng benachbarten Bereichen unterschieden. Leitend ist hierbei für die Autoren die Frage nach der Sprachwahl in einem sozialen Kontext, die u. a. mit unterschiedlichen Handlungstheorien („Homo sociologicus“, „Homo oeconomicus“) in Zusammenhang gebracht und in Form von soziologischen Erklärungsmodellen betrachtet werden. Als wesentliche Faktoren erweisen sich die Identifikation der Sprecher mit einer Sprechgemeinschaft (bzw. eng damit verbundener Begriffe, wie Sprachgesellschaft und Sprachgemeinschaft) bzw. die Abhängigkeit des sozialen Status einer Sprache von sprachpolitischen Vorgaben. Der möglicherweise allgemeinste Ansatz für die Erklärung einer bestimmten Sprachwahl sind Wertzuschreibungen einer Sprache bzw. eben das mitunter schwer definierbare Prestige einer bestimmten Sprache. Auch hier nimmt der ökonomische Wert einer Sprache eine prominente Rolle ein, wenngleich der symbolische Wert ebenfalls nicht unterbewertet werden sollte. Allerdings spielt Sprache bekanntermaßen nicht nur als ein kollektives Phänomen eine wichtige Rolle, sondern hat auch einen besonderen Stellenwert für die individuelle Identitätskonstruktion.

Die Kapitel vier und fünf geben einen gerafften Überblick über die wichtigsten historischen und politischen Eckpunkte des sprachlichen Handels im heutigen Weißrussland. Hier bekommt der Leser wichtige Informationen zur politischen Geschichte Weißrusslands, inklusive ihrer engen Verwebung mit der Herausbildung einer eigenständigen weißrussischen Standardsprache. Thematisiert wird auch das Entstehen einer weißrussischen Nation und die Konstruktion einer weißrussischen Identität, die begleitet ist von einem informativen Abriss über die weißrussische Sprachenpolitik in einer chronologischen Reihenfolge. Deutlich hervorgehoben wir die markierte, funktional eindeutig eingeschränkte Funktion des Weißrussischen und die gleichzeitig offenbar weit verbreitete weißrussisch-russisch gemischte Rede (WRGR). Dieser Varietät ist das gesamte fünfte Kapitel gewidmet, wo einleitend die allgemein linguistische Problematik von Mischsprachen bzw. Interferenzen als übliche Kontakterscheinungen besprochen werden. Die Autoren gehen davon aus, dass nur stabile Formen von Mischungen von Russisch und Weißrussisch als gemischte Rede bezeichnet werden können und keinesfalls spontan erfolgende. Bereits an dieser Stelle kommt es zur Ausformulierung eines ganzen Sets von empirisch überprüfbaren Hypothesen zum Gebrauch des Russischen, Weißrussischen und der WRGR, die eine Fülle von Einflussfaktoren (Alter, Geschlecht, Familienstand, schulische Ausbildung, Nationalität, Wohnort, Konfession u. v. andere mehr) berücksichtigen.

Im dritten Teil der Monographie findet man zuerst wichtige Eckpunkte zum Design, der Operationalisierung und der eigentlichen Datenerhebung. Für die Prüfung der Hypothesen wurde eine Kombination von quantitativer und qualitativer Befragung entwickelt, wobei in Gebieten und Städten unterschiedlicher Größe immerhin 1400 Personen befragt wurden. Das Befragungsdesign und die angewandten Auswertungsmethoden setzen im slawistisch-soziolinguistischen Bereich sicherlich neue Standards, was sehr zu begrüßen ist. Die Präsentation der erzielten Ergebnisse dieser umfangreichen Studie zum Sprachgebrauch in Weißrussland nimmt fast die Hälfte der Monographie ein. Die statistischen Auswertungen der Fragenbögen sind ohne Zweifel auf der Höhe der Zeit und das methodologische Spektrum wird ausgeschöpft, ohne dass dies aber den statistisch nicht geschulten Leser überfordern würde. Geboten wird eine Fülle an Resultaten, die von der Verbreitung der WRGR, der Herausarbeitung unterschiedlicher Einflussfaktoren (sprachliche Sozialisation, soziale Faktoren, ökonomische oder symbolische Wertzuschreibungen usw.) bis hin zur Identifikation von bestimmten Spracheinstellungen bzw. Sprachidentitäten reicht. An dieser Stellen können und müssen nicht alle Resultate reproduziert werden, aber die Befragungen ergeben eine eindeutige Evidenz für eine Zunahme der Kommunikation auf Russisch in Weißrussland. Gleichzeitig gibt es zwar eine hohe Verbreitung der WRGR, aber generationenspezifisch kann ein Rückgang der WRGR bei der jüngeren Population festgestellt werden. Das Weißrussische selbst hat aber fast nur mehr symbolischen Wert. Interessant ist auch der Befund, dass der WRGR offenbar sogar ein „covert prestige“ zukommt und nicht – so eine bisher weitverbreitete Annahme – nur auf niedere Bildungsschichten beschränkt ist. Das Russische dominiert insbesondere im großstädtischen Bereich, aber breitet sich mittlerweile auch im kleinstädtischen Bereich aus und dringt bereits sukzessive bis zur Landbevölkerung vor. Wie die Erhebungen zeigen wird das Russische aber nicht nur in offiziellen oder formalen Kommunikationskontexten benutzt, sondern ist auch im privaten und informellen Kontexten im Vormarsch. Das Weißrussische nimmt eine marginale und periphere Position ein, wenngleich die Studien zu symbolischen Wertzuschreibungen, Sprachverwendung und kulturellen Identität durchaus eine erkennbare weißrussischen „Orientierung“ erkennen lassen, die u. a. mit einer kritischen bzw. distanzierten Einstellung gegenüber dem Russischen einhergehen kann. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen dass, wie die Autoren resümieren (S. 294), „Weißrussland im Begriff ist, sich in ein russischsprachiges Land zu verwandeln“, aber gleichzeitig das Weißrussische einen „außerordentlich hohen Stellenwert als identifikatorischer Bezugspunkt“ (S. 296) einnimmt.

Insgesamt gibt die Monographie einen überzeugenden Einblick in die gegenwärtige sprachliche Situation in Weißrussland, die ausgehend von durchaus komplexen sprachsoziologischen Ausgangsfragen im Grunde zum Teil erstaunliche, aber auch durchaus plausible Erkenntnisse liefert. Das vorgestellte Untersuchungsdesign und die angewandten statistischen Auswertungsmethoden haben durchaus Vorbildcharakter und könnten bei einer Vielzahl von ähnlich gelagerten Problemstellungen nicht nur in der Slavia durchaus zu vielversprechenden Ergebnissen führen.

Published Online: 2020-02-18
Published in Print: 2020-02-25

© 2020 Emmerich Kelih, published by De Gruyter, Berlin/Boston

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Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/glot-2019-0008/html
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