Digitalisierung und Zivilgesellschaft
-
Serge Embacher
Digitalisierung wird die Praxis zivilgesellschaftlicher Akteure stark verändern. Während der Corona-Pandemie gab es starke Entwicklungsschübe in der Praxis der Organisationen. Seitdem ist die Debatte um Chancen und Risiken der Digitalisierung noch mehr in den Vordergrund getreten und hat deutlich an Kontur gewonnen.
In einem bundesweiten Forumsprozess hat das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) in der Zivilgesellschaft erhoben, welche Probleme und Herausforderungen die Vielfalt der von Engagement getragenen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Digitalisierungsprozess der eigenen Praxis und Organisationsarbeit verbinden. Serge Embacher wirft zunächst einen kritischen Blick auf die „Gesellschaft des Digitalen“ und entfaltet dann die Ergebnisse des Erfahrungsaustauschs und die sich daraus ergebenden Gestaltungsbedarfe und reformpolitischen Erwartungen.
Bei den kundigen Teilnehmenden des Digitalisierungsdiskurses ist „Open Government Partnership“ (OGP) bekannt, aber kaum in der breiteren Öffentlichkeit. Dabei hat sich hier, initiiert durch den damaligen US-Präsidenten Barack Obama, ein Bund von über 70 Staaten zusammengetan, um ein offenes Verwaltungshandeln, Transparenz und Partizipation und einen engen Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Staat zu befördern. Oliver Rack, selber in Deutschland im Lenkungskreis der OGP tätig, stellt Geschichte, Anliegen und Praxis der OGP vor.
Welche Chancen und Risiken bietet die Digitalisierung für die Bürgerbeteiligung? Jörg Sommer, Direktor des Berlin Institut für Partizipation und Koordinator der Allianz Vielfältige Demokratie, gibt einen Überblick über die sich stellenden Herausforderungen.
Friederike Hildebrandt und Maximilian Jung, beide beim BUND tätig, gehen der Frage nach, wie sich der Ausbau und die verstärkte Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf Treibhausgasemissionen und Stromverbrauch auswirken. Im Anschluss diskutieren sie die Bedingungen und die Auswirkungen der Digitalisierung unter Gesichtspunkten globaler Gerechtigkeit.
Markus Schüttler berichtet über Ziele und Aufgaben der „Task Force gegen Hass und Hetze“ des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, stellt die Aufgaben einer Behörde vor, deren Bedeutung deutlich im Aufwind ist.
Ansgar Klein und Serge Embacher
Die Rubriken
In der Aktuelle Analyse geht es um das Engagement von Frauen in ländlichen Räumen. Freiwilliges Engagement, so Britta Bertermann und Verena Reuter, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität und Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Organisationsgerahmtes Engagement steht jedoch vor vielfältigen Herausforderungen, bei denen auch geschlechterbezogene Aspekte eine Rolle spielen. Der Beitrag befasst sich auf der Grundlage eines aktuellen Forschungsprojektes explizit mit dem weiblichen Engagement in ländlichen Regionen und stellt (engagementpolitische) Handlungserfordernisse mit Blick auf die spezifischen Bedarfe von Frauen dar.
In der Rubrik Pulsschlag berichtet Jan Bönkost über die Jahrestagung der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der DGPuK „Gegenöffentlichkeiten und ihre Bewertung im Wandel“ (29.–31. März 2023). Ende März kamen rund 40 Forschende zu einer kommunikationswissenschaftlichen Tagung in Leipzig zusammen, um historische und aktuelle Entwicklungen alternativer Medien und Gegenöffentlichkeit(en) zu diskutieren.
In unserer Rubrik „ipb beobachtet“ reflektiert Jesica Lütgens forschungsethische Herausforderungen der Bewegungsforschung.
Die Literatur-Rubrik widmet sich sowohl empirisch als auch theoretisch orientierten Arbeiten in der Bewegungsforschung. Aktuelle theoretische Debatten in den Sozialwissenschaften spiegeln sich im Symposium zu Dieter Ruchts jüngst erschienenen Buch „Social Movements. A Theoretical Approach“ wider. Der Autor entwickelt darin eine interaktionistische, konstruktivistische und prozessorientierte Perspektive auf soziale Bewegungen. Gleichzeitig bettet er diese Perspektive unter Rückgriff auf Habermas, Bourdieu und Giddens gesellschaftstheoretisch ein und betont dabei die Rolle der Öffentlichkeit für soziale Bewegungen. Das Buch wird von drei Autor*innen unterschiedlich besprochen.
Manès Weisskircher lobt Ruchts nuancierte Herangehensweise und reflektiert davon ausgehend über den Zusammenhang von Bewegungen, Demokratie und gesellschaftlichem Wandel. Bettina Engels schlägt einen sehr kritischen Ton an. Sie unterstützt zwar die Verknüpfung von Gesellschafts- und Bewegungstheorie, bemängelt jedoch deren Ausgestaltung in Ruchts Buch in Bezug auf feministische und postkoloniale Perspektiven. Ilse Lenz ordnet das Buch als innovativ und hochdifferenziert ein, regt aber eine Diskussion zu Ruchts Verständnis eines offenen Zugangs zu Öffentlichkeit an. Eine Replik des Autors auf die drei Kommentare rundet das Symposium ab.
Auch die beiden Einzelrezensionen beschäftigen sich mit Büchern, die konkrete Fallstudien mit grundlegenden (gesellschafts)theoretischen Überlegungen verknüpfen. Carolina Vestenas Buch „Das Recht in Bewegung“ zeigt, wie portugiesische Aktivist*innen auf die Rechtsprechung während der 2010er Jahre einwirkten. Die Verbindung juristischer und politikwissenschaftlicher Ansätze stuft Rezensentin Marie Hoffmann als „sehr gewinnbringend“ ein. Auch Sarah Uhlmanns Buch „Reproduktionskämpfe in der Stadt“ ordnet Analysen konkreter Fallstudien – hier urbane Bewegungen – in größere theoretische Zusammenhänge ein, wie Rezensentin Anna Steenblock darstellt.
In der Rubrik FJSB Online Plus werden Texte ergänzend zum Print angeboten, jedoch immer für eine Printausgabe des Heftes als ergänzendes Angebot gebündelt.
Peter Stolle analysiert die Rechtslage des § 129 STGB und die erfolgten Hausdurchsuchungen bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“ als Versuch der Kriminalisierung von legitimen Formen des Zivilen Ungehorsams.
Marco Bitschnau untersucht Praxis und Selbstverständnis der Letzten Generation. Einerseits changiert die Letzte Generation unbeständig zwischen utopischen Reformideen und trivial anmutenden Tagespolitikanleihen, andererseits sieht sie sich sowohl gezwungen, an Bestandsforderungen festzuhalten, als auch im Sinne der Aufmerksamkeitslogik immer wieder Neues anzubieten. Der Hauptgrund für den raschen Aufstieg der Gruppe, ihre Dynamik und Unberechenbarkeit, stellt damit zugleich eine nicht zu übersehende strategische Achillesferse dar.
Achim Brunnengräber, Albert Denk, Lucas Schwarz und Dörte Themann (FU Berlin) berichten in Ihrem Beitrag über einen Workshop zur transdisziplinäre Forschung im Umgang mit hochradioaktiven Abfällen in Deutschland. Er fand im Oktober 2022 im Museum für Naturkunde in Berlin unter dem Titel „(Nicht) Mein Endlager“ statt. In die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung wurde eine transdisziplinäre Begleitgruppe eingebunden. Darüber hinaus beinhaltete der Workshop einen partizipativen Forschungsansatz mit Verfahrensbeteiligten als auch Vertreter*innen von staatlichen Behörden und wissenschaftlichen Einrichtungen sowie unbeteiligten Bürger*innen.
Marleen Hascher beschreibt die Einflüsse von ostdeutschem Identitätsbewusstsein auf die politischen Forderungen von linken Ostdeutschen der Nachwendegeneration. Die ostdeutsche Identität wirkt auf das politische Bewusstsein ein, da die Akteur:innen die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an das Niveau in Westdeutschland fordern. Ebenso kommt der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland eine zentrale Rolle in der politischen Bewusstseins- und Identitätsbildung zu.
Rovshana Orujova analysiert den repressiven Umgang im autoritär regierten Aserbaidschan mit Zivilgesellschaft und Kritik. Es gibt die Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit und eine Unterdrückung politischer Opposition sowie eine lange Geschichte von Menschenrechtsverletzungen, Einschüchterungen, Festnahmen, Entführungen, Inhaftierungen sowie Ermordungen politischer Aktivist*innen und Demonstrant*innen wie auch Fälle von Folter und Verfolgung. Trotz dieser politischen Einschränkungen lassen sich Disident*innen nicht einschüchtern. Dabei kommt sozialen Netzwerken eine enorm wirkmächtige Rolle zu. Allerdings entwickelt die Regierung zugleich ambitionierte Kontrollmechanismen zur besseren Überwachung der digitalen Räume.
Johannes Gleitz und Sabine Reimann berichten über politische Selbstermächtigung und Erinnerungsarbeit von Familien und Freundeskreisen, deren Angehörige während der sozialen Proteste 2021 in Kolumbien von Polizist*innen und rechten Paramilitärs ermordet wurden. Beispiel ist Initiative „Tribunal Popular en Siloé“, die sich in Cali mit zivilgesellschaftlicher Unterstützung organisiert. Während des „Paro nacional“, des großen Streiks, war das marginalisierte Armutsviertel Siloé in Cali ein Schwerpunkt der wochenlangen Proteste. Allein dort wurden während der Demonstrationen 16 Menschen getötet, 159 verletzt, dazu kommen Folter, Misshandlungen oder „verschwinden lassen“. Ziel der Initiative sind „Wahrheit und Gerechtigkeit“ und damit die juristische und politischen Aufklärung und die Verfolgung der Täter.
Eva-Lotte Schwarz untersucht die Strategien, mit denen die namibische Anti-Fracking-Bewegung auf die aktuelle Öl- und Gasexploration des kanadischen Unternehmens ReconAfrica im ökologisch sensiblen Okavango-Delta reagiert. Basierend auf Charles Tillys „Repertoires of Contention“-Konzept der Political Opportunity Theory werden drei Schlüsselstrategien herausgearbeitet: Erstens engagieren sich die Aktivist*innen innerhalb nationaler Strukturen wie Parlamenten, Verwaltungen und indigenen Netzwerken. Zweitens nehmen sie aktiven Einfluss auf die Medienberichterstattung. Drittens etablieren sie transnationale Allianzen.
Ansgar Klein
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Editorial
- Digitalisierung und Zivilgesellschaft
- Aktuelle Analyse
- Engagement von Frauen in ländlichen Räumen
- Themenschwerpunkt
- Prometheus und wir – die Gesellschaft des Digitalen
- Open Government und die Teilnahme Deutschlands an der Open Government Partnership
- Digitalisierung und Bürgerbeteiligung: Heilsversprechen und Hinterhalte
- Digital, grün, global gerecht
- Task Force gegen Hass und Hetze
- Netze für die Menschen
- IPB beobachtet
- Vom Involviertsein und Parteinehmen
- Pulsschlag
- Von Emanzipation zu Desinformation?
- Literatur
- Was Sie schon immer über Bewegungstheorie wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
- Theorie ist nicht neutral
- Die Öffentlichkeit sozialer Bewegungen und ihre Grenzen
- Replik des Autors
- Interdisziplinäre Brücken zwischen Rechtssoziologie und Bewegungsforschung
- „Das Stadtviertel ist die neue Fabrik“ – Kämpfe um soziale Reproduktion in der Stadt
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Editorial
- Digitalisierung und Zivilgesellschaft
- Aktuelle Analyse
- Engagement von Frauen in ländlichen Räumen
- Themenschwerpunkt
- Prometheus und wir – die Gesellschaft des Digitalen
- Open Government und die Teilnahme Deutschlands an der Open Government Partnership
- Digitalisierung und Bürgerbeteiligung: Heilsversprechen und Hinterhalte
- Digital, grün, global gerecht
- Task Force gegen Hass und Hetze
- Netze für die Menschen
- IPB beobachtet
- Vom Involviertsein und Parteinehmen
- Pulsschlag
- Von Emanzipation zu Desinformation?
- Literatur
- Was Sie schon immer über Bewegungstheorie wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
- Theorie ist nicht neutral
- Die Öffentlichkeit sozialer Bewegungen und ihre Grenzen
- Replik des Autors
- Interdisziplinäre Brücken zwischen Rechtssoziologie und Bewegungsforschung
- „Das Stadtviertel ist die neue Fabrik“ – Kämpfe um soziale Reproduktion in der Stadt