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Im Treibhaus der Polarisierung Amerikanische Zivilgesellschaft und Demokratie in der Präsidentschaft Donald J. Trumps

  • Sabine Ruß-Sattar

    Sabine Ruß-Sattar ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kassel sowie associate fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und lebt in Washington, D.C.

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Published/Copyright: March 12, 2021
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Zusammenfassung

Die Präsidentschaft Trumps war zweifellos ein Stresstest für das Verfassungsgefüge der amerikanischen Demokratie. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich die nicht formal organisierte Seite der Demokratie, nämlich die Zivilgesellschaft, unter der Rahmenbedingung der starken politischen Polarisierung entwickelt hat und nimmt dabei die wichtigsten sozialen Bewegungen dieses Zeitraums in den Fokus.

Abstract

Without a doubt, Trump’s presidency has been a stress test for the American system of checks and balances. This article examines how civil society has responded to the strong political polarization and takes a closer look at the most important social movements in this moment in time.

1 Die amerikanische Demokratie unter Druck

Schon kurz nach der Jahrtausendwende verzeichneten einschlägige internationale Indizes zur Entwicklung der Demokratie in der Welt wie etwa der Index zur politischen Freiheit von Freedom House (freedomhouse.org) für die USA Qualitätseinbußen, verursacht zunächst durch die Einschränkung der Grundrechte im Rahmen des Kampf gegen den Terror. Politikwissenschaftler*innen verwiesen zudem besorgt auf die wachsenden sozialen Spaltungen, auf eine durch den Gini-Koeffizienten belegte Zunahme der Ungleichverteilung des Vermögens in der Bevölkerung und auf eine Krise der Repräsentation (Fiorina/Abrams 2009).

Die Wahl des Populisten Donald Trump im Jahr 2016 ist zurecht als Konsequenz unbearbeiteter Konflikte und versäumter institutioneller Reformen beschrieben worden (Lammert et al. 2020: 4 ff). Aufgrund seines disruptiven und bisweilen schlichtweg autokratischen Amtsstils geriet zudem das für die amerikanische Verfassung charakteristische, zur Sicherung der politischen Freiheit ausgeklügelte System der checks and balances unter Druck, besonders die Unabhängigkeit der Justiz und der rule of law. Am Ende seiner Amtszeit erfolgte schließlich sogar der offene Bruch mit der zentralen Spielregel der Demokratie: die Verweigerung der Anerkennung der Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom November 2020 und die Verbreitung der Mär einer von seinem siegreichen demokratischen Konkurrenten Joe Biden manipulierten, „gestohlenen“ Wahl.

Die gewalttätige Besetzung des Kapitols durch von Trump aufgestachelte Anhänger am 6. Januar 2021 – dem Tag der offiziellen Zertifizierung der Wahlergebnisse aus den Bundesstaaten – setzte das desaströse letzte Ausrufezeichen hinter eine lange Reihe von Normverstößen. Alle Welt blickte entsetzt auf ein Land, dessen politische Polarisierung allem Anschein nach das fiebrige Niveau eines Bürgerkriegs zu erreichen drohte. Die Entwicklung entspricht beunruhigend genau dem pessimistischen Szenario, das Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch „How Democracies Die“ (2018) beschrieben haben.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage der demokratischen Qualität der anderen, nicht formal institutionalisierten Seite der amerikanischen Demokratie von hoher Relevanz. Neben dem erwähnten gewaltenteiligen Verfassungsgefüge gilt schließlich eine besonders starke Zivilgesellschaft als zentrales Merkmal des politischen Systems. Gern bemühen Politiker*innen den Tocqueville’schen Topos[1], demzufolge die politische Freiheit eines lebendigen Wurzelgrundes aus verschiedensten Formen der Assoziation bedarf: vom Chor über die Feuerwehr zur Bürgerinitiative und sozialen Bewegung.

Auch die politikwissenschaftliche Forschung zur Systemtransformation zwischen autoritären und demokratischen Regimen hat herausgearbeitet, dass zentrale demokratische Institutionen wie Wahlen und Parlamente die Entwicklung zu einem autoritären Regime nicht allein verhindern können, sondern der Einbettung in eine aktive Zivilgesellschaft und civic culture bedürfen (Croissant/Merkel 2000; Gabriel 2002). Angesichts des Erfolgs illiberaler Kräfte in so genannten etablierten Demokratien erhält das Thema derzeit wieder erhöhte Aufmerksamkeit (Klein 2007; Zimmermann (2020)).

Der vorliegende Beitrag verfolgt jedoch keine politikpraktisch-strategische Fragestellung, sondern versteht sich als erste Bestandsaufnahme zur Entwicklung der amerikanischen Zivilgesellschaft im Kontext einer durch die Präsidentschaft eines illiberalen Populisten erschütterten Verfassungsordnung und extremer politischer Polarisierung.

Zu diesem Zweck wird nach einführenden Bemerkungen zu Zivilgesellschaft und Demokratie die Polarisierung der amerikanischen Politik innerhalb und außerhalb der parteipolitischen Arena in den Blick genommen und es werden dabei die zentralen sozialen Bewegungen der Trump-Ära fokussiert. In normativen Theorien zu Demokratie und Zivilgesellschaft – im Besonderen bei Jürgen Habermas – stellen sie deren zentrale Träger dar und gelten per se als demokratiefördernde Akteure. Da im Folgenden jedoch keine normative, sondern eine historische Perspektive eingenommen wird, wurde dieses normative Theorem übersetzt in eine forschungspragmatische Relevanz-Annahme zur Begründung des Untersuchungsfokus: Die Entwicklungstendenzen bei sozialen Bewegungen versprechen Aufschluss zum Zustand der amerikanischen Zivilgesellschaft zu geben und damit zugleich zur Demokratie-Qualität in dem Land, das sich im eigenen Idealbild als „Leuchtfeuer der Demokratie“ sieht und nun mit dem Trauma des vom Präsidenten selbst ausgelösten Sturms auf das Sinnbild seiner repräsentativen Demokratie fertig werden muss.

2 Putnams pessimistische Prognose

Das Konzept der „Zivilgesellschaft“ hat in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Ausdeutungen erfahren. Im Kern gemeint ist jedoch stets der Bereich freiwilliger und nicht auf die Erzielung von Profit ausgerichteter Aktivitäten. Diese müssen zivilen, also gewaltlosen Charakter haben und „ihre artikulierten Zielsetzungen“ müssen immer auch die res publica betreffen (Lauth/Merkel 1997: 17; Lauth 2017). Soziale Bewegungen – sofern sie Wandel mit friedlichen Mitteln gestalten wollen – gehören zur Zivilgesellschaft und stellen einen kollektiven, durch eine gemeinsame Weltsicht und Problemdiagnose zusammengehaltenen Super-Akteur dar, der von einzelnen Individuen bis zu professionalisierten Organisationen verschiedenste Handlungsträger vernetzt und mobilisiert.

Vor gut zwei Jahrzehnten hat das Thema Zivilgesellschaft in den USA eine regelrechte Konjunktur erlebt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der – vermeintlich – überwundenen Systemkonkurrenz richtete sich damals die Aufmerksamkeit in den USA wieder mehr auf das eigene System. Der damalige demokratische Präsident Bill Clinton holte sogar den Soziologen Robert Putman als Berater ins Weiße Haus. Der hatte in seinem im Jahr 2000 erschienen Buch „Bowling Alone“ Alarm geschlagen: Die amerikanische Gesellschaft laufe – zugespitzt ausgedrückt – Gefahr, in Fernsehen-konsumierende Monaden zu zerfallen. Die früher überall selbstverständlich anzutreffenden Formen des geselligen, schichtenübergreifenden Freizeitvergnügens wie Bowling seien im Rückzug begriffen und der Umfang freiwilligen Engagements schrumpfe, seitdem die Frauen, die traditionell das Rückgrat des Vereinswesen dargestellt hätten, vermehrt in das Erwerbsleben eingestiegen seien. Infolgedessen erodiere das durch diese Art von Beziehungen generierte soziale Kapital, das für den Zusammenhalt der Gesellschaft entscheidend sei.

Ein knappes Vierteljahrhundert später sind einige Argumente aus Putnams kritischer Gesellschaftsdiagnose im zeitgemäßen Remix wiederzuhören. Inzwischen sind es die digitalen Medien bzw. die Art und der Umfang ihrer Nutzung, die hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Qualität des sozialen und politischen Lebens problematisiert werden. Dass es zudem kaum noch Räume und Gelegenheiten gibt für die Begegnung zwischen Amerikaner*innen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund und dass in wirtschaftlich darbenden Gegenden wie etwa der deindustrialisierten Region des amerikanischen rustbelt die sozio-kulturelle Infrastruktur zusammenbricht, wurde in jüngster Zeit in mehreren Publikationen (Carney 2019; Vance 2016) beschrieben. Sie fanden ihre Leserschaft vor allem unter denjenigen, die verstehen wollten, wie der Populist Trump im Jahr 2016 die Präsidentschaftswahlen gewinnen konnte. Ein Befund war eindeutig: „Trump was actually the anti-civic-activism candidate, who performed worst among veteran activists and best in areas without a strong civil society“ (Fowler 2018).

3 Die Polarisierung der amerikanischen Politik

Anders als in europäischen Ländern werden soziale Bewegungen in den USA im Prinzip nicht als antagonistische Herausforderer des politischen Establishments wahrgenommen, sondern vielmehr als selbstverständlicher Bestandteil der pluralistischen Interessenlandschaft vor dem Hintergrund eines föderalen, fragmentierten und offenen politischen Systems (Mayer 2020). Gemeinhin dominieren single-issue-Bewegungen, die in der Regel nicht auf strukturelle Umwälzungen abzielen, sondern ihre Forderungen innerhalb des liberalen Paradigmas begründen (ebenda). Was aber passiert, wenn das politische System durch politische Polarisierung nahezu blockiert wird?

3.1 Radikalisierung der politischen Eliten und drohende Politik-Blockade

Das Schlagwort der „Polarisierung“ oder Lagerbildung fehlt gegenwärtig in keiner Diagnose zum Zustand der amerikanischen Demokratie und ihren komplexen Ursachen wurde in diversen Studien nachgegangen. Dabei besteht weitgehend Konsens, dass die im System der USA aufgrund von bestimmten System-Merkmalen wie der Institution des Mehrheitswahlrechts geförderte „normale“ Polarisierung inzwischen aufgrund verschiedener Faktoren ein für das Funktionieren der demokratischen Institutionen dysfunktionales Niveau erreicht hat.

Unstrittig ist die hohe politische Polarisierung der politischen Elite. Sie wird oft gemessen am Abstimmungsverhalten im Kongress, wo seit Mitte der 1960er Jahre immer klarer nach Parteilinien abgestimmt wird (Andris 2015). Ursache ist nicht etwa eine gewachsene „Parteidisziplin“ – die amerikanischen Parteien sind viel losere Gebilde als ihre deutschen Gegenparts und die Politiker*innen stehen im Vordergrund –, sondern eine durch gerrymandering[2] verschärfte innerparteiliche Wettbewerbssituation, in der immer radikalere Kandidat*innen gewählt werden.

In der Situation eines divided government, in der der Präsident keine loyale Mehrheit in Senat und/oder Repräsentantenhaus hat, kann dies zur Blockade und zur Stilllegung der Bundesverwaltung führen. So kam es 2018/2019 aufgrund des Streits um die Pläne von Präsident Trump zum Ausbau der Grenzbefestigung nach Mexiko zum bislang längsten shutdown überhaupt (35 Tage). Ein weiteres Indiz für die zunehmende Polarisierung sind die zunehmenden Konflikte um die Besetzung von Richterposten, besonders augenfällig im Fall des Obersten Verfassungsgerichtshofs.

Zugleich lässt sich eine ideologische Polarisierung der beiden Parteien beobachten: Nachdem die so genannten Dixie-Demokraten aus dem konservativ geprägten Süden in Reaktion auf die Verabschiedung der beiden Bürgerrechtsgesetze Mitte der 1960er Jahre die Demokratische Partei verließen, wandelte sich diese zu einer sozialliberalen Koalition verschiedener (Minderheiten-)Gruppen (Klein 2020: 19 ff; Grossmann/Hopkins 2016), inzwischen mit einem wachsenden progressiven Flügel.

Ideologisch homogener sind die Republikaner, die in Reaktion auf den Wertewandel der 1970er Jahre unter dem Einfluss der evangelikalen Bewegung in den 1980er Jahren zu Konservativen und unter dem Einfluss der – durch spendable Geldgeber im Hintergrund gepushten – Tea-Party-Bewegung zu einer steuerfeindlich-libertären Partei wurden (Grossmann/Hopkins 2016; MacDoug/Kloos 2014).[3] Unter der Präsidentschaft Trumps erschien die Partei noch stärker homogenisiert und ausgerichtet auf die Person des Präsidenten, der sein Amt nutzte, um weiter zu polarisieren. Seine Linie folgte keinen klaren ideologischen Prinzipien, blieb aber in einer Hinsicht konstant: in der Nutzung des populistischen binären Codes „wir (das Volk) gegen sie“.

„Sie“ waren ein Konglomerat aus dem politischen Establishment/Washington D.C./den Demokraten, den Mainstream-Medien, Immigranten, Muslime, Wissenschaftler*innen, political correctness, Black Lives Matter und Antifa. Trumps Reden und Tweets ergeben trotz seiner irrlichternden einzelnen Positionen als Ganzes ein kohärentes Narrativ. Keeanga-Yamahtta Taylor, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Princeton, spricht von der White Supremacy Presidency, die aggressive Töne als zynisch kalkulierte Strategie nutzt: „(R)acism in America is never just about racism for racism’s sake. It is always in the service of a larger agenda. (…) It is no coincidence that the racism animating much of Trump’s political commentary, accompany a harsh and draconian economic agenda intended to cut the living standards of the entire working class.“ (Taylor 2018).

Wie gefährlich Trumps Strategie und binärer Politik-Code für die amerikanische Demokratie war bzw. ist, zeigte sich am Ende seiner Amtszeit, als er Wahlverfahren bzw. Wahlergebnisse für illegitim bzw. verfälscht erklärte. Mangels bei den Gerichten vorlegbarer Beweise für die behaupteten Irregularitäten brachte er immer wieder das Argument vor, er habe bei seinen Wahlkampfveranstaltungen viel mehr Menschen mobilisiert als sein Rivale Joe Biden – der wegen der Corona-Epidemie bewusst auf solche Versammlungen verzichtet hatte. Damit trieb Präsident Trump die politische Polarisierung auf die populistische Spitze: Er missachtete die Regeln der repräsentativen Demokratie und verkehrte sie in Richtung einer identitären Demokratie mit Führer-Legitimation qua Akklamation. Diese Rechtfertigungsstrategie erlaubte es dem radikalsten Teil seiner Anhängerschaft, sich als Patrioten und Retter der Demokratie zu fühlen, als sie das Kapitol stürmten, um die Zertifizierung des Wahlsiegs von Joe Biden zu verhindern.

3.2 „Tribalismus“ und Zerfall der politischen Öffentlichkeit

Forscher*innen der so genannten Michigan-Schule vertreten die Ansicht, dass für das politische (Wahl-)verhalten konkrete Politik-Präferenzen letztlich weniger eine Rolle spielen als die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe. Zahlreiche Umfragen zeigen, wie stark die Frage der Parteipräferenz in den letzten Jahren zu einer Frage der Identität aufgeladen wurde und die Ablehnung der jeweils anderen Partei wächst. So antworteten bei einer am 22. Juni 2016 publizierten Umfrage des Pew Research Center 55 Prozent der befragten Anhänger der Demokraten bzw. sogar 70 Prozent der politisch aktiven Demokraten, die Republikanische Partei machte ihnen „Angst“, bei den Republikanern waren dies 49 bzw. 58 Prozent. Zudem hielten 47 der sich den Republikanern zurechnenden Befragten die Anhänger der Demokratischen Partei für „unmoralischer“ als andere Amerikaner, umgekehrt sagten dies von den Republikanern 35 Prozent der Demokraten.

In diesem Zusammenhang machte der Begriff des „Tribalismus“ in der politischen Publizistik Karriere. Laut einer Umfrage von Reuters/Ipsos aus dem Januar 2016 hatte einer von sechs Amerikanerinnen bzw. Amerikanern wegen der Wahl von Trump den Kontakt zu einem Familienmitglied und engerem Freund abgebrochen. Die Polarisierung der Gesellschaft konnte sich zudem weiter „identitär“ verfestigen, weil sich in den letzten Jahren die Partei-Identifikation zunehmend mit ethnischen Zugehörigkeiten verkoppelt findet. Infolgedessen gibt es weniger Überschneidungen von Zugehörigkeiten in der eigenen Person und Familie, die Menschen zu mehr Offenheit und Kompromissbereitschaft motivieren könnten (Mason 2015).

 Quelle: Trauergottesdienst für George Floyd in Houston, Texas am 9. Juni 2020 (Foto: privat)

Quelle: Trauergottesdienst für George Floyd in Houston, Texas am 9. Juni 2020 (Foto: privat)

Direkter Kontakt und Austausch mit politisch Andersdenkenden wird, wie einige Studien nahe legen, zunehmend seltener, weil sich die ideologischen Lager auch in ihrem Alltag immer klarer zu sortieren scheinen, etwa bei der Wahl der Universität, der Arbeitsstätte oder der Wohngegend. Zudem zeigen Studien zu den strukturellen Entwicklungstrends der Zivilgesellschaft, dass Gewerkschaften und andere traditionelle Mitgliedschaftsorganisationen, die relativ heterogen waren, wie etwa Eltern-Lehrer-Verbände, seit Jahrzehnten Mitglieder verlieren, und es stattdessen zunehmend professionalisierte Vereinigungen und advocay groups gibt. Theda Skocpol (1999, 2003) beschrieb zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine durch Aktivisten beherrschte Vereinslandschaft, in der radikalere, polarisierende Stimmen verstärkt werden. Dem entspricht, dass die soziologische Forschung zum sozialen Kapital eine im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt kritische Abnahme von Vereinigungen mit „brückenbildendem“ Potential konstatiert.[4]

Was Polarisierung konkret bedeutet, zeigt auf eindrückliche Weise die zwischen den politischen Lagern divergierende Einschätzung des öffentlichen Umgangs mit der Covid-19-Pandemie: 76 Prozent der den Republikanern nahestehenden Amerikaner*innen schätzten bei einer Umfrage im Sommer 2020 ihr Land diesbezüglich als erfolgreich ein, während das auf Seiten der Anhängerschaft der Demokratischen Partei nur bei 29 Prozent der Fall war (Dimok/Wike 2020). Eklatant sind auch die Unterschiede der ersten Einschätzungen des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021: Nach einer am Abend der Ereignisse – als die Details der Geschehnisse allerdings noch nicht wirklich bekannt waren – durchgeführten YouGov-Umfrage hielten 93 Prozent der befragten Anhänger der Demokraten diese Protestaktion für eine Gefahr für die Demokratie, aber lediglich 27 Prozent der Anhänger der Republikaner und 55 Prozent der Unabhängigen.

Als Bezeichnung für die Teilnehmenden dieser Aktion hielten auf Seiten der mit der Demokratischen Partei sympathisierenden Befragten 74 Prozent „Extremisten“ und 78 Prozent „domestic terrorists“ für angemessen, wogegen unter den der Republikanischen Partei zuneigenden Befragten nur zu 26 Prozent von Extremisten sprechen wollten, die meisten (50 Prozent) „Protestierer“ für richtig hielten und 30 Prozent „Patrioten“. Nachvollziehbar wird das beim Blick auf die vollkommen divergierende Einschätzung der Begründung für diese Protestaktion („Stop the Steal“): Bei einer POLITICO/The Morning-Umfrage am 3. November 2020 – also vor dem offiziellem Wahltermin – hatten 35 Prozent der Republikaner bereits Zweifel an der Fairness der Wahlen geäußert, was sich dann nach dem für Biden von vielen TV-Sendern ausgerufenen Sieg auf 70 Prozent steigerte.

Diese Divergenz hängt wiederum mit dem polarisierten Mediennutzungsverhalten der amerikanischen Bevölkerung zusammen. Je stärker konservativ oder sozialliberal die Einstellungen sind, desto stärker unterscheiden sich die Gruppen hinsichtlich der Medien, denen sie vertrauen und die sie nutzen. Während die Sympathisanten der Demokraten mehrere Medien als vertrauenswürdig einstufen – allen voran CNN –, sind es auf Seiten der Republikaner deutlich weniger Medien, hier vor allem der Fernsehsender Fox und die Radioprogramme von Rush Limbaugh und Sean Hannity (Pew Research Center 2020).

Besorgniserregend ist das in der Medienwirkungsforschung diskutierte Szenario, wonach die Sphäre gesellschaftlicher Kommunikation infolge personalisierender Algorithmen von sozialen Medien und Suchmaschinen in viele „Filterblasen“ und „Echokammern“ zerfällt. Neuere Befunde relativieren allerdings diese Blasenbildung (Flaxman et al. 2016; Garrett 2009) und belegen, dass gerade diejenigen, die auf sozialen Medien am aktivsten sind, Nachrichten aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen bekommen[5]. Träfe dies zu, wäre zudem die These von der durch die sozialen Medien katalysierten politischen Polarisierung der gesamten Bürgerschaft in Frage zu stellen (Boxell 2017).

Als erhärtet kann jedoch die These von der Polarisierung der politisch Aktiven gelten: „The main danger of this more partisan media environment is not the polarization of ordinary Americans but a growing disconnect between increasingly partisan activists and largely centrist and modestly involved masses“ (Prior 2013). Jenseits dieser Kontroversen um den Beitrag der sozialen Medien zur Polarisierung lässt sich festhalten, dass die Lagerbildung im heutigen Amerika heute so weit geht, dass sie auch die Zivilgesellschaft erfasst und von einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit nicht mehr die Rede sein kann. Lebenswelten und Weltwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger driften weit auseinander.

3.3 Trump’scher Treibhauseffekt: Die sozialen Bewegungen

Schon während der Präsidentschaft von Trumps Vorgänger Obama war es vor dem Hintergrund der sozio-ökonomischen Folgen der Finanzkrise zu einer massiven Protestmobilisierung gekommen. So forderte die Occupy Wall Street-Bewegung ein Umsteuern in der Finanz- und Wirtschaftspolitik und auf der Gegenseite machte die durch finanzstarke Lobbyorganisationen im Hintergrund gesponserte Tea Party gegen Staatsausgaben und Steuern mobil. Sie wurde schließlich für Trump zu einer Art Steigbügelhalter in der republikanischen Partei.

Diese Dynamik von Mobilisierung und Gegenmobilisierung zeigte sich auch in der Ära Trump, wobei allerdings die oben beschriebene, unter der Präsidentschaft Trump weiter polarisierte politische Konjunktur wie ein Treibhaus wirkte: Der Trump-Effekt steigerte nicht nur die Zahl der Protestteilnehmer*innen, sondern sorgte auch für die Zunahme von hate speech und gewalttätiger Vorfälle (siehe unten). Für die sozialen Bewegungen wurde die Trump’sche Politik zum Katalysator einer präzedenzlosen Mobilisierung und Allianzbildung.

Wie er es schon im Wahlkampf angekündigt hatte, trat Trump seit Beginn seiner Amtszeit als Angreifer auf progressive und liberale Ziele auf: Neben seinem Angriff auf die Klimapolitik und die Autorität der Wissenschaft (Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen)[6] gefährdete seine Politik die Menschen- und Bürgerrechte von Minderheiten wie Muslimen (Einreiseverbot), Immigranten (Grenze zu Mexiko, Beendigung des DACA-Programms), LGTBQ Menschen (Ausschluss von Transgender-Menschen vom Militärdienst) und nicht-weiße Amerikaner*innen (Verständnisbezeugungen gegenüber White Supremacy).

Angesichts der Betroffenheit mehrerer Gruppen wurde Trump zum einigenden Gegner: „(O)ne upside of this broad assault is that it’s created a powerful imperative for these groups to forge stronger alliances and for funders to move beyond silo-ized grantmaking. It’s taken a crisis, it turns out to transform intersectionality from a buzzword into an operating strategy“ (Callahan 2018). Zugleich ließ sich die Verletzung der Rechte dieser Gruppen, insbesondere aber die der Immigranten, verstehen als Angriff auf amerikanische Verfassungswerte. Es sei eindrucksvoll, wie zivilgesellschaftliche Gruppen angesichts der Politik der Trump-Administration die Durchsetzung der Verfassungswerte in ihre Hand genommen hätten – das meint der Direktor des ACLU-Büros von Massachussetts. Nur hätte dies eigentlich gar nicht nötig sein dürfen: „we will know that the crisis is over when more people regard these groups as vital but occasionally pesky bulwarks against government overreach, rather than the resistance to government by bigotry“ (Segal 2018: 1589). Damit stellt er die Präsidentschaft Trumps als eine Krise und einen Ausnahmezustand der Republik dar, in dem die zivilgesellschaftlichen Akteure zum zweiten Sicherungsnetz der Verfassung werden.

Gerade die repressive Einwanderungspolitik Trumps ließ sich ausdeuten als Angriff auf den American Dream und somit als Angriff auf ganz Amerika und sein Leitbild. Es ging in den Augen der Protestierenden also nicht mehr um einzelne Gruppeninteressen oder Streitfragen, sondern um die Werte der amerikanischen Republik.

Dieses framing stieß auf große Resonanz. Unter der Präsidentschaft Trumps kam es zu den größten Massenprotesten der amerikanischen Geschichte. Im Zeitraum 2016 bis 2018 hat jede*r fünfte Amerikaner*in an Protesten teilgenommen, 19 Prozent davon zum ersten Mal in ihrem Leben (DiJulio/Bianca et al. 2018).

Am Anfang des dynamischen Protestgeschehens stand der Women’s March, der nach der Amtsübergabe an Trump über eine Facebook-Gruppe mobilisiert worden war und zwar zum einen aus Protest gegen diese von den Protestierenden als illegitim angesehenen Wahl[7] und zum anderen zur Demonstration für Frauenrechte. Nach einer Studie zu den Teilnehmer*innen der Demonstrationen im Rahmen der so genannten Resistance, also der gegen die Agenda der Trump-Administration gerichteten Protestaktionen, stellten Frauen bemerkenswerterweise jeweils die Mehrheit.[8] Die berufstätigen Frauen, deren fehlendes Engagement in den klassischen Mitgliedsorganisationen Putnam als Erosion der Zivilgesellschaft beklagt hatte, wählen offensichtlich andere Formen des Engagements und bilden nun das Rückgrat der Bewegung. Dana R. Fisher kommentierte unter Rückbezug auf die klassische Studie von Putnam: „People are no longer bowling alone, they are marching, yelling, and working together“ (Fisher 2019: 8).

Zudem fällt der Wandel der zivilgesellschaftlichen Organisationsweisen auf. Das Aktions- und Organisationsrepertoire hat sich dank der digitalen Kommunikationstechnologien erweitert. Infolgedessen scheinen die Großdemonstrationen innerhalb der Strategien sozialer Bewegungen eine etwas andere Funktion zu bekommen: Der Marsch nach Washington D.C., der früher Ziel der Mobilisierungsbemühungen gewesen war, kann jetzt dank der sozialen Medien im Sinne eines relativ schnell zu initiierenden, Netzwerk-begründenden Gemeinschaftserlebnisses relativ weit am Anfang stehen und Teil des Mobilisierungsprozesses sein. Anschließend kann die konkrete Arbeit an Sachfragen in Form eines über soziale Medien koordinierten distributed organizing fortgeführt werden und zwar an verschiedenen Orten und mit einer nach Interessen gruppierten fluktuierenden Mitgliedschaft. Dieser Typ des Aktivismus verzichtet auf die hierarchische Struktur der herkömmlichen Mitgliederorganisationen (Fisher 2019: 14 f.).

Auch das Netzwerk Black Lives Matter (BLM), dessen Name seit dem Sommer 2020 in den USA allgegenwärtig ist und für die Anti-Rassismus-Bewegung steht, bedient sich dieser Organisationsform und ist zudem ein Beispiel für die Intersektionalität progressiver Bewegungen. Die Gründerinnen kommen aus der feministischen und LGTBQ-Bewegung und verfechten einen basisdemokratischen Ansatz, der das Transformationspotenzial der etablierten Politik – gerade auch mit Blick auf die Erfahrung mit der Amtszeit des ersten schwarzen US-Präsidenten Barack Obama – skeptisch einschätzt.

Entstanden war BLM bereits im Jahr 2013 als Reaktion auf den Freispruch des Angeklagten im Todesfalls des jungen Afroamerikaners Trayvon Martin, ursprünglich als Twitter-Hashtag #BlackLivesMatter. Der Durchbruch zur nationalen Bekanntheit erfolgte 2014 bei den Protesten gegen Polizeigewalt in Ferguson. Als dann das Handy-Video der grausamen Tötung George Floyds am 25. Mai 2020 durch Polizeigewalt zum Fanal einer nie zuvor in vergleichbarer Breite und Vielfalt gesehenen anti-rassistischen Bewegung wurde, gelang es nicht zuletzt dank BLM und seinen über das Land verteilten Netzwerkknoten, die Mobilisierung wochenlang aufrecht zu erhalten: Im Zeitraum vom 26. Mai bis zum 22. August 2020 gab es mindestens 7750 Demonstrationen, die sechs Prozent bis zehn Prozent der Bevölkerung auf die Straße brachten, also zwischen 15 und 26 Millionen Menschen. Auffallend war dabei die Neumobilisierung junger Leute (Barroso/Minkin 2020).

Die Bewegung stieß – trotz und zum Teil auch gerade wegen der schwierigen Umstände der Corona-Pandemie[9] – auf große Resonanz in Gesellschaft und Wirtschaft: Anti-Rassismus-Bücher waren bei Amazon ausverkauft, Unternehmen versprachen Änderungen in der Personalpolitik und änderten ihre Produktlogos, die großen Sportligen solidarisierten sich, die Konföderierten-Flagge wurde aus offiziellen Gebäuden entfernt, Statuen von Sklavenhaltern geschleift.[10]

Kurzzeitig hatte es den Anschein, als böte das landesweite Entsetzen über die brutale Tötung George Floyds tatsächlich den Ansatzpunkt zu einem nationalen, die Polarisierung überschreitenden Erneuerungsprozess. Zwar stieg bei Anhänger*innen beider Parteien tatsächlich die positive Einschätzung von BLM, aber bei der Frage nach den Gründen des Protests und insbesondere nach dem Vorhandensein von strukturellem Rassismus in den USA gingen die Einschätzungen sehr weit auseinander (Tesler 2020) und zeigen, dass die race relations innerhalb der polarisierten Konjunktur nach wie vor einen ideologischen Marker für die beiden Lager darstellen.

Zudem fällt auf, dass die anfängliche Unterstützung bald insbesondere auf der Seite der Anhängerschaft der Republikaner von der Sorge vor gewalttätigen Unruhen überschattet wurde und dabei das tatsächliche Ausmaß der Gewalttätigkeiten im Rahmen der Anti-Rassismus-Proteste, die nach den Daten des US Crisis Monitor 2020 zu 95 Prozent friedlich verliefen, überschätzt wurde.

Offenbar war dies nicht nur dem Nachrichten-Wert brennender Läden geschuldet. Die Bürgerrechtsvereinigung Anti-Defamation-League berichtet gar von einer gezielten Desinformationskampagne mit einer “deliberate mischaracterization of groups or movements [involved in the protests], such as portraying activists who support Black Lives Matter as violent extremists or claiming that Antifa is a terrorist organization coordinated or manipulated by nebulous external forces” (Anti-Defamation League 2020).

Präsident Trump und seine Administration trugen dazu wesentlich mit einer aggressiven „law and order“ Rhetorik bei, mit der sie demokratische Politiker*innen unter Druck zu setzen versuchten, die gerade zur Wiederwahl anstanden. Schon Anfang Juni 2020 hatte der Präsident Bundesstaaten und Städten angedroht, dass er auf Grundlage des Insurrection Act von 1807 die Armee bzw. die Militärpolizei im Inland einsetzen werde, falls die Unruhen andauerten – ein Vorschlag, der pensionierte Generäle Alarm schlagen ließ und die Pentagon-Führung bewog, sich zu distanzieren und Trump in seine Schranken zu weisen. Zur gleichen Zeit hatte Trump mit Blendgranaten und Tränengas Demonstranten aus der Nähe des Weißen Hauses vertreiben lassen.

Amnesty International dokumentierte in seinem am 4. August veröffentlichten Bericht „The World is Watching“, dass es während der Straßenproteste zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gekommen war und in diesem Kontext auch Journalist*innen schikaniert wurden. Während seiner gesamten Amtszeit hatte Präsident Trump vor allem in seinen Tweets Journalisten und mainstream media angegriffen und als „Feinde des Volkes“ diffamiert. Infolge dieser Entwicklung stufte der Civicus-Monitor (monitor.civicus.org), der international auf der Grundlage quantitativer und qualitativer Daten die Lage von Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit bewertet, die Qualität des zivilgesellschaftlichen Raums der USA im Jahr 2020 herunter zu „obstructed“, der dritten Stufe einer fünfstufigen Skala.[11]

3.4 Die dunkle Seite des Trump-Effekts: White Supremacy und Milizen

Bedroht wird der zivilgesellschaftliche Raum allerdings nicht nur von Seiten staatlicher Kräfte, sondern auch durch das Anwachsen nicht ziviler Bewegungen wie der Anti-Immigrationsbewegung und der White Supremacist-Bewegungen.[12] Beide wurden vom Präsidenten wiederholt durch Tweets oder öffentliche Äußerungen ermutigt. So geschehen schon im ersten Amtsjahr Trumps im August 2017, als Trump angesichts eines Aufmarsches von Rechtsextremisten in Charlottesville, bei dem eine Gegendemonstrantin absichtlich überfahren wurde, von „guten Leuten auf beiden Seiten“ sprach. Als weitere alarmierende, die demokratische Zivilgesellschaft bedrohende Krisenerscheinung ist das Auftreten von Milizen zu sehen, die auch in der späteren Phase der BLM-Proteste eine Rolle spielten, als es zu 360 Gegenprotesten kam, von denen 40 zu gewalttätigen Zwischenfällen führten (US Crisis Monitor 2020). Auch diese militante Gegen-Mobilisierung zu BLM wurde von Präsident Trump gefördert. Besonders aufschlussreich sind diesbezüglich die Vorkommnisse um den 17-jährigen Kyle Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin. Dieser hatte am 25. August 2020, nach eigener Aussage zur Verteidigung von Ladenbesitzern und sozusagen als Freiwilliger der „Bürgerwehr“, zwei BLM-Demonstranten erschossen und einen schwer verletzt. Nicht nur der rechte Rand der republikanischen Partei und Extremisten wie die Proud Boys hatten Rittenhouse nach seiner Festnahme zum Helden stilisiert. Wie der Presse zugespielte interne Dokumente zeigten, hatte das Department für Homeland Security die Anweisung erhalten, sympathisierende Stellungnahmen zum Fall Rittenhouse abzugeben (Ainsley 2020).

Nach der Analyse der Faschismus-Forscherin Shane Burley steckte dahinter eine bewusste Taktik in einem Wahlkampf, bei dem der Amtsinhaber Trump gegenüber dem Herausforderer Biden bei den Popularitätswerten ins Hintertreffen geraten war. Da der Amtsinhaber (auch) infolge der durch die Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise keine positive Bilanz seiner Politik vorweisen konnte, setzte er auf die massive Militarisierung der Rhetorik. Angesichts einer vorgeblichen Sicherheitsbedrohung durch Antifa und andere linke Kräfte mobilisierte er seine Basis quasi als Bürgerwehr, wie Shane Burley schreibt: „This new 2020 supporter is the vigilante, someone who breaks the rules to make things right. This person can police polling stations to stop any funny business. They are ready in case the election is stolen through fraud and meddling. And they are ready to attack leftist protesters who they believe are terrorists.“ (Burley 2020).

Diese „vigilante identity“ zeigte sich Wochen später, als Extremisten wie die Proud Boys am 6. Januar 2021 mit traditionelleren Unterstützern der „MAGA-Bewegung“ wie radikalen Abtreibungsgegnern zum Sturm auf die Zitadelle der amerikanischen Demokratie ansetzten. Insofern bildeten die Ereignisse das erwartbare Finale einer durch den Präsidenten selbst angeheizten illiberalen Gegenmobilisierung zu den progressiven Bewegungen der letzten Zeit, insbesondere aber zur BLM-Bewegung.

4 Fazit: Gespaltene Gesellschaft, beschädigte Demokratie

In der Gesamtschau zeigt die Betrachtung von Zivilgesellschaft und Demokratie in der Präsidentschaft Trumps ein Bild mit harten politischen Kontrasten. Auf der einen Seite steht mit den Anti-Rassismus-Protesten die wohl breiteste und vielfältigste Bewegung in der amerikanischen Geschichte. Sie hat es geschafft, insbesondere auch junger Bürger*innen für den Kampf um Gleichheit zu mobilisieren und – wie die Zusammensetzung des Teams um den neu gewählten Präsidenten Joe Biden und Vize-Präsidenten Kamala Harris und ihre im Wahlkampf genannten Ziele zeigen – die Bekämpfung des strukturellen Rassismus auf die politische Agenda zu setzen. Doch die Polarisierung der amerikanischen Politik gefährdet mittel- und langfristig die politische Reformfähigkeit und die Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft gerade hinsichtlich der historischen Erblast der race relations.

Wie in einem dunklen Spiegel steht den progressiven Entwicklungen der letzten Jahre eine illiberale Gegenbewegung entgegen, die nationalistische, natavistische und rassistische Strömungen zusammenführt – die „bitteren Früchte“ der Trump’schen Präsidentschaft (Taylor 2021). Dass nun nach dem Ausscheiden Trumps nicht mehr die nationale Bühne des Präsidentenamt dafür missbraucht werden kann, um Verfassungswerte und demokratische Verfahren zu delegitimieren, schneidet diese demokratiegefährdenden Kräften immerhin von politischen Legitimationsressourcen ab, die in den letzten Jahren zu ihrem Wachstum beigetragen haben.

Zweifellos steht die neue Administration nicht nur vor enormen wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen, sondern auch vor dem Wiederaufbau der in ihrer Basis erschütterten amerikanischen Demokratie. Abgesehen von der Notwendigkeit der Sanierung und Regulation des fragmentierten, von Falschnachrichten durchsetzten medialen Systems politischer Kommunikation stehen dabei Wahlen und Wahlsystem im Vordergrund. Es fällt auf, dass die Träger*innen der großen Bewegungen der Ära Trump wie dem Women’s March, der Anti-Waffen-Bewegung (March for our Lives) und vor allen Dingen BLM strategisch die wahlpolitische Arena in den Blick genommen haben.

BLM hat sich zu dem Schritt entschlossen, die im Sommer 2020 von vielen Stiftungen, Unternehmen und Privatpersonen gespendeten Mittel in einem politischen Aktionskomitee (PAC) anzulegen, um damit neue progressive Kandidat*innen unterstützen zu können, die das von BLM ausgearbeitete Reformpaket BREATHE durch den Kongress bringen wollen, das weit über eine Polizeireform hinausgeht. BLM verfolgt also eine kombinierte Strategie von „barricades and ballots“, die nicht zuletzt aus der Enttäuschung über die Demokratische Partei eingeschlagen werden soll (Fisher 2019: 14). Alle drei genannten Bewegungen haben zudem breite Kampagnen zur Wähler*innen-Registrierung durchgeführt.[13] Tatsächlich hat die amerikanische Zivilgesellschaft dafür gesorgt, dass der institutionelle Kern der Demokratie, nämlich das Wahlrecht und -verfahren, auf die Agenda kam und gegen Restriktionen – nicht erst bei der Anfechtung der Präsidentschaftswahlergebnisse durch den Wahlverlierer Trump – verteidigt wurde: Optimistisch gedeutet zeigt die Ära Trump das Potential sozialer Bewegungen als kollektive Selbst-Reparatur-Mechanismen in einer teilweise defekten Demokratie zu wirken. Viel Energie ist aus der Zivilgesellschaft 2019 und 2020 in die Bekämpfung von Wahlbarrieren und die Durchsetzung der Gleichheit vor Recht und Rechtsdurchsetzung geflossen – in gewisser Hinsicht steht das Land noch immer auf Feld 1 seiner Demokratisierung.

About the author

Prof. Dr. Sabine Ruß-Sattar

Sabine Ruß-Sattar ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kassel sowie associate fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und lebt in Washington, D.C.

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Published Online: 2021-03-12
Published in Print: 2021-03-26

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 9.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fjsb-2021-0007/html
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