Zusammenfassung
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819) grew up in Copenhagen when the circle of literati and scholars around Johann Hartwig Bernstorff was effective there. Klopstock was a family friend and later a mentor to the young count, and Stolberg was also well acquainted with other members of the Copenhagen Circle. He wrote his first poems as a teenager, in 1772 he became a member in the Göttinger Hainbund, and he also had close contact with representatives of the Sturm und Drang. The essay asks about the connection between the Copenhagen Circle and Stolberg’s early work (until about 1780). It focuses on the themes of freedom, fatherland and nature. Can Stolberg’s writing be understood as a result or further development of the cultural effectiveness of the Copenhagen Circle – or as a reaction to it?
Im 1919 erschienenen zweiten Band seiner Geschichte der Familie Bernstorff schreibt Aage Friis über die beiden Söhne des Grafen Christian Günther zu Stolberg-Stolberg, in dessen Haus sich um das Jahr 1760 jener „Dichterkreis [traf], den [Johann Hartwig Ernst von] Bernstorff […] um sich versammelt hatte“:
Christian und Friedrich Leopold waren erst 1748 bzw. 1750 geboren, aber sie beide wurden stark beeinflußt von der geistigen Bewegung, die diese Männer, unter denen sie und ihre Schwestern heranwuchsen, vertraten, und die sie etwa zehn Jahre später als neue Generation selbst fortführen und umformen sollten.
(Friis 1970, 288)
Friis lässt offen, inwiefern die beiden jungen Männer, die später selbst als Dichter hervortraten, die ‚geistige Bewegung‘ des Kopenhagener Kreises ‚fortführten‘ und in welche Richtung sie diese ‚umformten‘. Sein Augenmerk liegt auf dem politischen Wirken J. H. E. von Bernstorffs und seines Neffen Andreas Peter bis 1770, als beide aus ihren Ämtern im Dänischen Gesamtstaat verdrängt wurden. Erst mit Leopold Magons wenige Jahre später entstandenen großangelegten, aber leider Torso gebliebenen Geschichte der „geistigen, insbesondere literarischen Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien im Jahrhundert von 1750 bis 1850“ (Magon 1926, [ii]) gewinnt das, was Friis als ‚geistige Bewegung‘ bezeichnet, eine genauere Kontur. Magon interessiert sich allerdings weniger für das Nachleben des Kopenhagener Kreises in der deutschen Literatur als für dessen Rezeption innerhalb der damaligen dänischen Kultur, insbesondere für den Einfluss Klopstocks auf Johannes Ewald.
Wenn es innerhalb der deutschen Literaturgeschichte um die Wirkung des Kopenhagener Kreises auf nachfolgende Generationen geht, so ist zwar vom Sturm und Drang und von Herder die Rede[1] oder allgemein von einer „mit dem Naturkult sympathisierende[n] Generation“, für die allerdings die „religiösen Implikationen“ des Kopenhagener Kreises „überwindungsbedürftig“ gewesen sei (Bohnen 1992, 179). Die Stolbergs werden in diesem Zusammenhang aber nicht erwähnt; ihre Verbindung zu einigen Protagonisten des Sturm und Drang ist nicht zuletzt durch Goethes Dichtung und Wahrheit zwar verbürgt, aber in der literarhistorischen Makroperspektive scheint ihr Werk zu unbedeutend zu sein, um über den Status von Randfiguren dieser Bewegung hinauszugehen. In die Literaturgeschichte sind sie als Vertreter des Göttinger Hains eingegangen, dessen Mitglieder ihre Beziehung zu Klopstock so lautstark proklamiert haben, dass sie keines weiteren Nachweises bedarf – doch hier wurde Klopstock nicht als Vertreter des Kopenhagener Kreises verehrt, sondern als Solitär, als ein alle anderen überstrahlender „edler, großer, urdeutscher Mann“ (Johann Heinrich Voß, in Kelletat 1967, 361).
Von einem Generationswechsel zu sprechen, liegt schon deswegen nah, weil der Kopenhagener Kreis tatsächlich aus Männern und Frauen bestand, die einer Generation zugerechnet werden können. Mit Ausnahme von Johann Hartwig Ernst von Bernstorff (1712-1772), der durch seine Berufungspolitik den Kreis aus deutschsprachigen Intellektuellen begründet hat, und von Christian Günther Graf zu Stolberg-Stolberg (1714-1765), in dessen Haus Beteiligte der Gruppe häufig zusammenkamen, sind alle Mitglieder zwischen Mitte der 1720er und Mitte der 1730er Jahre geboren, wobei Johann Andreas Cramer (1723-1788) sowie Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) die Ältesten und Helferich Peter Sturz (1736-1779) sowie Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737-1823) die Jüngsten waren. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (im Folgenden ohne Adelstitel und mit einfachem Nachnamen), um den es hier vor allem gehen soll, ist 1750 geboren worden – im selben Jahr, als Bernstorff die Berufung Klopstocks nach Dänemark eingeleitet hat, und ein Jahr, bevor er Chef der deutschen Kanzlei in Kopenhagen sowie dänischer Außenminister wurde und Klopstock in Kopenhagen eintraf. Friedrich Leopold Stolberg wurde also in den sich gerade formierenden Kopenhagener Kreis hineingeboren.
Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern Friedrich Leopold Stolberg im Kopenhagener Kreis literarisch sozialisiert wurde und wie dies sein eigenes Schreiben geprägt hat – als ‚Fortführung‘ oder ‚Umformung‘, durch Identifikation oder Abgrenzung. Nur wenn überhaupt ein mehr als nur biographischer Bezug zum Kopenhagener Kreis erkennbar ist, kann sinnvoll von einer zweiten Generation dieses Kreises gesprochen werden. Andererseits verspricht der Bezug auf die möglicherweise prägende ältere Generation von Literaten eine neue Perspektive insbesondere auf das frühe Werk Friedrich Leopold Stolbergs. Dazu soll zunächst danach gefragt werden, was den Kopenhagener Kreis überhaupt ausmacht, d. h. wie sein „Kulturprofil“ (Bohnen 1992, 165) bestimmt werden kann, und inwiefern man von ‚literarischer Sozialisation‘ sprechen kann. Anschließend sollen Friedrich Leopold Stolbergs literarische Aktivitäten, die dominierenden Themen und Motive seiner Gedichte sowie die Ästhetik und Poetik seiner literarischen Werke bis ca. 1780 anhand von ausgewählten Texten in den Blick genommen und auf den Kopenhagener Kreis rückbezogen werden.
Das ‚Kulturprofil‘ des Kopenhagener Kreises
Die Bezeichnung ‚Kopenhagener Kreis‘, die sich in der Forschung für diejenige Gruppe von deutschsprachigen Literaten und Gebildeten durchgesetzt hat, die von Johann Hartwig Ernst von Bernstorff nach Dänemark berufen worden war oder sich dieser anschloss, ist in zweierlei Hinsicht kennzeichnend: Zum einen ist die Gruppe bezogen auf die Stadt Kopenhagen räumlich bestimmt, weniger durch Inhalte, Gattungen, Kunstarten oder ein gemeinsames ausformuliertes Programm. Die Zusammensetzung der Gruppe war aufgrund der Bernstorffschen Berufungspolitik zwar nicht zufällig, aber die Auswahl derjenigen, die nach Kopenhagen geholt wurden, erfolgte nicht in Hinblick auf die Zusammenstellung dieser Gruppe, sondern auf die Ämter, die zu besetzen waren. Wer als deutschsprachiger Intellektueller in Kopenhagen lebte und Kontakt zu Bernstorff hatte, kann als Teil des Kreises betrachtet werden, wer nicht vor Ort war, gehörte nicht dazu. Zum anderen charakterisiert die Bezeichnung ‚Kreis‘ die Gruppe hinsichtlich der sozialen Bindungskraft. Kreise haben einen Mittelpunkt; im Falle des Kopenhagener Kreises kommt Bernstorff als demjenigen, der die Gruppe durch seine Berufungen formierte, diese Funktion zu. Es handelt sich weder um einen Zusammenschluss noch um einen Bund, denen man durch einen formalen Akt oder ein Bekenntnis beitreten konnte. Es gab keine Regeln für diesen Kreis, die über die gesellschaftlichen Regeln für gebildete Bürger und Adelige hinausgingen. Es gab keine geregelten Aktivitäten all derjenigen, die dem Kreis zugerechnet werden können, keine formellen Gruppentreffen, sondern lediglich Zusammenkünfte einzelner Beteiligter im üblichen sozialen Rahmen, meist im Hause der adeligen ‚Mitglieder‘. Die Vertreter dieser losen Gruppierung führten unterschiedliche Ämter und Tätigkeiten aus und hatten auch hinsichtlich ihrer Ausbildung unterschiedliche Professionen. Im Kern handelte es sich um Literaten, also um Gelehrte, die in diversen Wissensbereichen an schriftlich fixierten Diskursen teilnahmen. Von einem „Dichterkreis“ (Friis 1970, 280) zu sprechen, ist eher irreführend, da ‚Dichtung‘ nur einen kleinen Teil der literarischen Produktion dieses Kreises ausmachte.
Eine grobe gemeinsame Ausrichtung des Kopenhagener Kreises lässt sich in der Aufklärung ausmachen, was um die Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings keinerlei Alleinstellungsmerkmal war. Vielmehr war Kopenhagen nur eines von vielen „Zentren der Aufklärung“, um den Titel einer Reihe zu zitieren, in deren Rahmen auch „Der dänische Gesamtstaat“ als ein solches firmiert (Bohnen/Jørgensen 1992). Gerade durch diese Ähnlichkeit mit anderen Orten, an denen sich die Aufklärung personell konzentrierte, entwickelten die Kopenhagener das „Bewußtsein, einen einen literarischen ‚Kreis‘ etabliert zu haben, der sich den Königsberger, Halleschen, Leipziger oder Berliner ‚Zentren‘ an die Seite stellen konnte“, was „spätestens seit den sechziger Jahren auch von der Außenwelt anerkannt“ wurde (Bohnen 1992, 161 f.). Eine Besonderheit der ‚Kopenhagener Aufklärer‘ ist die Selbstwahrnehmung einer gewissen räumlichen Randständigkeit bezogen auf den deutschen Kulturraum und „die kulturelle Enklave-Situation dieser Gruppe in einer fremden und weitgehend fremdbleibenden Gesellschaft, die den sozialen Umgang wie den kulturellen Austausch von vornherein begrenzte und das Zugehörigkeitsbewußtsein noch verstärkte“ (Bohnen 1992, 178). Die sozialen und literarisch-kulturellen Aktivitäten des Kopenhagener Kreises können auch als Reaktion auf diese periphere Lage und die nationalsprachlich und kulturell hybride Umgebung interpretiert werden, da sie einer drohenden Isolation von der deutschen Kultur entgegenwirkten.
In der bewussten Auseinandersetzung mit dieser Umgebung, insbesondere mit der dänischen Kultur und ihren Wissensbeständen, liegt eine weitere Besonderheit des Kopenhagener Kreises, ersichtlich vor allem an der von Johann Andreas Cramer herausgegebenen und unter Beteiligung anderer Vertreter des Kreises entstandenen moralischen Wochenschrift Der nordische Aufseher (1758-1761). Der Aufseher wollte „eine Brücke zum nationalen Umfeld seines ‚zweyten Vaterlandes‘ [...] schlagen“ (Bohnen 1992, 175), wodurch er „den Kopenhagener Kreis in der deutschen Literaturszene erst als abgegrenzten Kreis zu Bewußtsein brachte und verfestigte“ (Bohnen 1992, 165). Die Begegnung mit der dänischen Kultur und deren Geschichte geschah einerseits aus der Haltung einer geistigen Überlegenheit heraus mit dem Ziel, die dänische Literatur und Kultur zu fördern, andererseits aber auch vor dem Hintergrund der Abkehr dieser präklassischen Generation von der Imitation französischer Literatur und der Suche nach anderen Modellen (Casanova 2004, 119), was sich im Nordischen Aufseher beispielsweise auch in der Rezeption englischer Literatur, vor allem Edward Youngs, niederschlägt. Für den Kopenhagener Kreis war insbesondere die durch das Wirken Paul Henri Mallets initiierte Renaissance der nordischen Mythologie und die Beschäftigung mit Quellen zur mittelalterlichen Geschichte Dänemarks von Interesse, weil sich hier neue Stoffe und Motive für eine Literatur erschließen ließen, die eine neue Ästhetik propagierte, was sich insbesondere in den Dichtungen Klopstocks und Gerstenbergs zeigt.
Friedrich Leopold Stolbergs literarische Sozialisation
Auch wenn der Kopenhagener Kreis keine homogene soziale Gruppierung war, so hatte er doch eine soziale Dimension. Die soziale Formation, die die Beteiligten bildeten, lässt sich zwischen Peer Group und Clique verorten: Alle hatten eine grundlegende universitäre Bildung, man teilte weitgehend die gleichen Interessen und Ideale; man traf sich in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung in privatem Rahmen in den Häusern von Beteiligten zu Geselligkeit und Gedankenaustausch. Das literarische Leben innerhalb des Kopenhagener Kreises ist durch die älteren Arbeiten von Friis und Magon auf der Grundlage zahlreicher historischer Dokumente und Korrespondenzen eingehend beschrieben. Nachdem Christian Günther zu Stolberg 1756 zum Oberhofmeister der Königinwitwe Sophia Magdalena von Dänemark berufen worden war und seitdem mit seiner Familie in Kopenhagen und Hirschholm wohnte,[2] trafen sich die Beteiligten des Kopenhagener Kreises auch in seinem Haus, das wie kein anderes in der Zeit Frederiks V. ein entschieden pietistisches Gepräge aufwies (Magon 1926, 99). Das führte dazu, dass Standesunterschiede zwischen den bürgerlichen Gelehrten und den adeligen Amtsträgern kaum eine Rolle spielten, das gesellschaftliche Leben „fern von den zerstreuenden Festlichkeiten des Hofes in stiller Zurückgezogenheit“ (Janssen [1877], I, 5) im Kreise der Familie stattfand und insbesondere Klopstock als Dichter des Messias hier ein sehr gern gesehener Gast war. Seine Legitimation, als bürgerlicher Schriftsteller gleichberechtigt in adeligen Kreisen zu verkehren, zog dieser nicht zuletzt aus „dem hohen Bewußtsein seiner Würde als begnadeter Dichter des Erlösers“ (Behrens 1964).
Das gesellige Leben im Hause Stolbergs bildet den Hintergrund für die literarische Sozialisation der Brüder Christian und Leopold Stolberg, die acht bzw. sechs Jahre alt waren, als die Familie aus Holstein in die dänische Hauptstadt zog. Der Begriff ‚literarische Sozialisation‘, der im Kontext der Literaturpädagogik in erster Linie im Zusammenhang mit der Frage, „[w]ie […] jemand zu einem Leser bzw. zu einer Leserin [wird]“ (Eggert und Garbe 1995, 1), verwendet wird, soll hier in einem umfassenderen Sinne für das Hineinwachsen in das „Sozialsystem Literatur“ (Schmidt 1989) verstanden werden. Es geht also nicht nur um das Erlernen von Lesekompetenz, literarischer Rezeptionskompetenz, Lesekultur und literarischem Verstehen, sondern allgemeiner um den Umgang mit Literatur auf der Ebene der Rezeption, der Produktion und des Performativen. Die literarische Sozialisation umfasst daher auch die Vermittlung und das Erlernen von literarischen Praktiken (vgl. Schröder/Grage 2012), die zwischen der Rezeption und der Produktion von Texten angesiedelt sind wie etwa das Deklamieren von Gedichten oder das Vorlesen von Texten in kleiner oder größerer Runde, sowie das Verfertigen literarischer Texte, das im 18. Jahrhundert noch immer eine weit verbreitete Praxis der gebildeten Stände war – und sei es nur, um Gelegenheitspoesie zu schreiben.
In der älteren Stolberg-Forschung wird insbesondere die Bedeutung Klopstocks für die literarische Sozialisation Christians und Friedrich Leopolds hervorgehoben. So heißt es, dass Klopstock gelegentlich, wenn der Vater der Brüder verhindert war, „bei den Hausandachten in Hörsholm aus seinem ‚Messias‘ oder aus Youngs Nachtgedanken vorlas“ (Friis 1970, 289). Friis und später auch Magon betonen die familiäre Ungezwungenheit, mit der Klopstock in die Erziehung der Geschwister Stolberg involviert war. Bei Klopstocks Aufenthalt im Hause Stolberg „wechselten […] tiefsinnige Gespräche mit ausgelassenem Scherz und übermütig jugendlichem Treiben“ (Magon 1926, 101). So habe Klopstock beispielsweise mit den Kindern im sommerlichen Schlosspark in der Rolle des Hannibal spaßhaft die Schlacht der Karthager gegen die Römer nachgespielt. „Im Winter folgte die Jugend Klopstock auf Schlittschuhen über die Seen bei Lyngby und Frederiksdal und abends kehrte man heim zu gemütlichem Geplauder und Vorlesen in den warmen Räumen des Prinzenpalais.“ (Friis 1970, 289) Die Brüder lernten also früh, wie Literatur auch über das stille Lesen hinaus in das Leben eingebunden war. Die gemeinsame Lektüre des Messias mit Freunden oder das Vorlesen für Verwandte hat Friedrich Leopold auch später häufig praktiziert.[3]
Klopstock wird auch als derjenige geschildert, der die ersten dichterischen Versuche der Heranwachsenden begleitete: „Ein andermal mußte er Schreibversuche der Kinder kritisieren und korrigieren, denn die Stolbergschen Kinder gaben, sobald sie die Feder halten konnten, ihren schwellenden Gefühlen nicht nur in zahlreichen Briefen Ausdruck, sondern dichteten auch.“ (Friis 1970, 289) Magon fügt hinzu, dass Klopstock „[d]ie poetischen Versuche der Kinder, die alle frühzeitig die Feder rührten, um ihrem drängenden Gefühlsleben Luft zu schaffen, […] nachsichtig und herablassend“ beurteilt habe (Magon 1926, 101). Außerdem habe er mit ihnen geübt, wie man Gedichte „in gutem Stil aus dem Deutschen ins Englische oder umgekehrt übersetzen könne“ (Friis 1970, 289). Klopstock wird hier als literarischer Lehrer Christians und Friedrich Leopolds inszeniert, was letzterer auch in einem Brief aus dem Jahr 1803[4] selbst so darstellt:
Wie glühte ich in der Jugend wenn Klopstocks Auge auf meinen poetischen Erstlingsversuchen ruhte, wenn er Worte des Lobes oder Tadels an mich richtete und unablässig mein Gemüth auf hohe Ziele hinwies und es zu dem Göttlichen und Ewigen erhob!
(Janssen [1877], II, 80)
Klopstock selbst wiederum machte die Brüder mit eigenen, noch unveröffentlichten Gedichten bekannt, gab sie ihnen im Manuskript zur Lektüre oder las sie ihnen vor – in Bezug auf die Hermann-Dramatisierung erinnert sich Friedrich Leopold später „[l]ebhaft […] des Eindrucks den so manche Stelle auf uns machte als uns Klopstock das Manuskript im Walde laß!“ (zit. n. Hempel 1997, 27). Dass Friedrich Leopold Stolberg sich als Schüler Klopstocks ausgibt, hat sicher auch damit zu tun, dass nur wenige das Privileg genossen haben dürften, unter den Fittichen eines der berühmtesten Dichter ihrer Zeit aufzuwachsen. Die Bedeutung des pietistischen Hauslehrers Niels Hansen Möller, Student der Kopenhagener Brüdergemeine, des Hofmeisters Carl Christian Clauswitz, der die Brüder in lateinischer Sprache und Literatur unterrichtete und sie „mit allen römischen Dichtern genauer vertraut“ machte, so dass sie „einen großen Theil der classischen Werke in dieser Sprache gelesen hatten“ (Janssen [1877], I, 12), sowie des französischen Hauslehrers George Frederic Dubois verblasst gegen die Strahlkraft Klopstocks.[5]
Dass neben Klopstock und gelegentlich Johann Andreas Cramer[6] keine weiteren Beteiligten des Kopenhagener Kreises im Zusammenhang mit der literarischen Sozialisation Christians und Friedrich Leopolds namentlich erwähnt werden, mag auch damit zusammenhängen, dass deren Vater Christian Günther Graf zu Stolberg-Stolberg im Jahr 1765 verstarb, woraufhin die Mutter mit den Kindern nach Rungsted zog, wo Klopstock und Bernstorff weiterhin oft zu Gast waren und ersterer immer öfter auch in der Erziehung eine väterliche Rolle einnahm, wohingegen weitere Beteiligte des Kreises offenbar kaum noch dort verkehrten. Für Friedrich Leopold, der beim Tod seines Vaters knapp 15 Jahre alt war, hat daher die formelhafte Wendung vom ‚Vater Klopstock‘, den die Vertreter der jüngeren Generation (vor allem auch aus dem schleswig-holsteinischen Adel) häufig metaphorisch im Munde führten (vgl. Schulz 1980, 171), eine durchaus handfeste Bedeutung.
Bezüge von Stolbergs Frühwerk zum Kopenhagener Kreis
Friedrich Leopold Stolbergs „frühe, Freiheit, Vaterland u[nd] Natur huldigende Odendichtung […] steht ganz in der Nachfolge Klopstocks“ (Mix 2011) – ein Urteil, dem vor allem mit Blick auf Form und Stil der Gedichte zuzustimmen ist. Die ersten Gedichte, die zunächst verstreut publiziert worden waren oder im Familien- und Freundeskreis kursiert hatten, bevor sie 1779 von Heinrich Christian Boie gemeinsam mit denen seines Bruders Christian herausgegeben wurden und später in erweiterter Auswahl im ersten Band der Gesammelten Werke der Brüder Stolberg unter dem Sammeltitel Oden, Lieder und Balladen erschienen, stammen von 1772, dem Jahr, in dem sich die Brüder nach ihrem ersten Studienaufenthalt in Halle an der Universität Göttingen eingeschrieben haben. Die Imitation oder Nachbildung antikisierender Strophen- und Versmaße ohne Endreim, die gelegentliche Verwendung freier Rhythmen sowie das Anschlagen eines hohen, feierlichen Tones lassen das Vorbild Klopstock deutlich erkennen. Ein Unterschied besteht jedoch im ungestümen Habitus, mit denen vor allem die Themen Freiheit und Vaterland verhandelt werden. Zusammengeführt werden diese Themen beispielsweise in der Ode „Die Freiheit“ von 1773, einem Gedicht, in dem jeder Satz mit einem Ausrufezeichen endet:
Freiheit! Der Höfling kennt den Gedanken nicht,
Der Sklave! Ketten rasseln ihm Silberton,
Gebeugt das Knie, gebeugt die Seele,
Reicht er dem Joch den erschlaffenden Nacken! (18)[7]
Schon im ersten Vers wird mit dem „Höfling“ ein Feindbild angesprochen, das Stolberg in seinen frühen Texten immer wieder aufruft, wobei die Vehemenz, mit der dieser Typus zum Sklaven deklariert wird, erstaunen mag, wenn man bedenkt, dass der Vater des Autors in königlichen Diensten gestanden hatte und Friedrich Leopold selbst später für verschiedene Fürsten tätig war.[8] Gegen ein solches Dienstverhältnis, das zum Inbegriff der Unfreiheit wird, bringt sich das Ich des Gedichtes, vereint mit anderen zu einem unbestimmten Wir, in Stellung: „Uns, uns ein hoher, seelenverklärender / Gedanke! Freiheit! Freiheit! […]“ (ebd.). Nationale Töne werden angeschlagen, wenn es heißt: „Denn sieh, in deutscher Sklaven Händen / Rostet der Stahl, ist entnervt die Harfe!“ (19) Die Zeitdiagnose, die das Gedicht stellt, lautet also, dass der Gedanke des Vaterlandes sowohl in der gegenwärtigen Dichtung als auch in der praktischen Politik (für die verstörender Weise ausschließlich Kriegsmetaphern gewählt werden) keine Rolle spielt, weil die politischen Akteure und die Dichter unfreie Höflinge sind. Nur im Namen der Freiheit kann daher das Vaterland besungen bzw. für das Vaterland gestritten werden: „Nur Freiheits-Harf’ ist Harfe des Vaterlands!“ und „Nur Freiheits-Schwert ist Schwert für das Vaterland!“ (19) Während der wahre Feind unbestimmt bleibt – die Rede ist vom „Tyrann[en], dem Verderber Gottes“ (19) –, werden die Namen der Freiheitshelden feierlich als Vorbilder ausgerufen, wobei hier das Dichteridol umrahmt ist von politischen Akteuren: „Tell! Herrmann! Klopstock! Brutus! Timoleon!“ (19)
Hempel hat nicht unrecht, wenn er konstatiert, dass es deutliche Parallelen gebe zwischen den Themen des Kopenhagener Kreises, die im Nordischen Aufseher verhandelt wurden, und dem, was Friedrich Leopold Stolberg beschäftigte: „das Verhältnis von Politik, Moral und Religion, die Bedeutung von Erziehung und Bildung, die Absolutismuskritik, die Leibeigenschaftsproblematik, die soziale Verantwortung und die ‚literarische‘ Orientierung“ (Hempel 1997, 30). Wo im Nordischen Aufseher jedoch der Dialog zwischen Deutschland und Dänemark als ‚zweitem Vaterland‘ (so Cramers häufig benutzte Formulierung, als „Ausdruck für die Bereitschaft, sich in der Gastgesellschaft einzuordnen und deren Entwicklung zu befördern“, Bohnen 1992, 163)[9] im Vordergrund stand und bei aller kritischen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus die Loyalität gegenüber dem dänischen König nicht in Frage gestellt wurde, kennt Stolberg offenbar nur ein Vaterland, und der Fürst firmiert als Tyrann. Seine Freiheits-Ode ist geprägt von einer diskursiven Radikalisierung, indem Positionen zugespitzt und Konflikte nur als durch Gewalt lösbar dargestellt werden. Während Vaterland im Kopenhagener Kreis noch im patriotischen Sinne als das Land, dem man dient, verstanden wurde, trägt es bei Stolberg bereits Züge eines identitären Begriffs. So heißt es in dem Klopstock gewidmeten Gedicht „Mein Vaterland“ (1774): „Ich bin ein Deutscher! (Stürzet herab / Der Freude Thränen, daß ich es bin!)“ (55) ‚Deutsch‘ und ‚frei‘ werden zu Synonymen, beides ist man, oder man ist es nicht.
Stolbergs klares Bekenntnis zum ‚deutschen Vaterland‘ ist sicher auch vor dem Hintergrund des Sturzes Bernstorffs und des Endes des Kopenhagener Kreises sowie der zunehmend gegen die Deutschen gerichteten Politik der dänischen Regierung in der Zeit nach Struensee zu sehen. Es stellt sich die Frage, gegen wen der Vorwurf, Höfling und damit ein Verräter der Freiheit zu sein, eigentlich gerichtet ist. Theoretisch könnte er auch die Beteiligten des Kopenhagener Kreises treffen, die ja größtenteils in den Diensten des dänischen Königs standen, die sich andererseits aber auch dafür einsetzten, den Absolutismus zu reformieren,[10] und die häufig auch distanziert zum Hofleben standen, insbesondere die Familie Stolberg. Friedrich Leopold Stolbergs eigenes Ideal von Staats- und Regierungsform sei durchaus aufklärerisch, so Behrens; es entspreche dem, was „Kant die republikanische Regierungsart nannte […]: Gewähr der Rechtlichkeit durch Trennung und gegenseitige Kontrolle der staatlichen Gewalten, wobei es gleich ist, ob die äußere Staatsform Monarchie oder Republik heißt, solange dem Monarchen oder wem immer keine absolutistischen Rechte zukommen.“ (Behrens 1980, 162) Wenn Stolberg am Ende des Gedichtes Klopstock zum Kämpfer für Freiheit und Vaterland ausruft, nimmt er zumindest ihn als Vertreter des Kopenhagener Kreises vom möglichen Vorwurf, ein Sklave des Tyrannen zu sein, explizit aus. Sein flammendes Plädoyer für die Freiheit und gegen die absolutistische Tyrannei scheint daher eher davon auszugehen, dass die Bestrebungen des Kopenhagener Kreises um die Reform der dänischen Monarchie gescheitert sind und dass nun „Höflinge“ am Werk seien, die diese Bestrebungen zunichtemachen. Gegen einen solchen konkreten Bezug des Gedichtes auf Dänemark spricht allerdings Stolbergs habituelle Ubiquität des Tyrannenhasses, nicht nur in seinen Dichtungen, sondern auch in seinem alltäglichen Verhalten, über das sich Goethe in Dichtung und Wahrheit lustig macht: Als die Brüder Stolberg 1775 auf ihrer Reise in die Schweiz in Frankfurt Station machten und in Goethes Elternhaus zu Gast waren, hätten sie derart vehement gefordert, es solle Tyrannenblut fließen, dass Goethes Mutter eine Flasche alten Rotwein aus dem Keller holen ließ, um den Blutdurst der jungen Männer zumindest symbolisch zu stillen (vgl. Goethe 1998, X, 125 f.).
Deutlichere Bezüge zur literarischen Sozialisation innerhalb des Kopenhagener Kreises als in den Gedichten über Freiheit und Vaterland lassen sich in Stolbergs Naturdichtungen erkennen, mit denen er insofern einen prominenten Platz in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt, als er einer der ersten ist, der das Meer in die sich etablierende empfindsame Naturpoesie eingeführt hat, die wiederum in der dänisch-norwegischen Literatur damals bereits durch Christian Braunmann Tullins Gedicht Majdagen (1758) ein beliebtes Sujet war. Cramer hatte diesen Text noch im Entstehungsjahr ausführlich im Nordischen Aufseher rezensiert und sehr gelobt, ein Urteil, dem sich auch Lessing anschloss, der das Gedicht auf der Grundlage von Cramers Rezension in den Briefen, die neueste Literatur betreffend erwähnte.[11] Im Umkreis des Kopenhagener Kreises formierte sich in den frühen 1760er Jahren die Selskab til de skiønne og nyttige Videnskabers Forfremmelse, die 1772 einen Wettbewerb für das beste dänischsprachige Landschaftsgedicht ausschrieb.[12] Man darf also davon ausgehen, dass die Beteiligten des Kopenhagener Kreises die Entwicklung der empfindsamen Naturpoesie in der dänischen Literatur kannten und verfolgten.
Ebenso bedeutsam für Stolbergs Naturdichtung ist die deutsche Ossian-Rezeption, die ebenfalls maßgeblich vom Kopenhagener Kreis ausging. Die Begeisterung für die vermeintlich altkeltischen Gesänge wurde noch geschürt von den Bardendichtungen Gerstenbergs (Gedicht eines Skalden, 1766) und Klopstocks (Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne, 1769), die Stil und Gestus der ossianischen Gesänge in die neuere Literatur integrierten.[13] Beides, empfindsame Naturdichtung und Ossian-Rezeption, wird zusammengeführt in Stolbergs Gedicht „Hellebek, eine Seeländische Gegend“, das 1776 im neunten Stück des Deutschen Museums veröffentlicht und 1779 mit wenigen Abweichungen in die von Boie herausgegebene Sammlung Gedichte übernommen wurde.
Das in 149 Hexameterversen verfasste Gedicht schildert in einer Schichtung verschiedener Zeitebenen, wie das lyrische Ich in Begleitung von Ernst Graf von Schimmelmann, dessen Frau Emilie (denen der Text gewidmet ist) und seinem Bruder einen Sonnenuntergang an der Küste von Hellebæk am nördlichen Øresund erlebt: Emilie sinkt „Stillerröthend vom Schimmer des Abends und sanften Gefühlen“ (137) an einem Stein nieder, die Begleiter lagern sich zu ihren Füßen. Man ist ”Von Seligkeit trunken”(137) und bricht in Tränen aus: Emilie weint wohl vor Rührung über den Anblick der Natur, ihr Mann kann sich nicht entscheiden, ob sich die untergehende Sonne in Emilies Tränen schöner spiegelt als im Meer, der Bruder des lyrischen Ichs schließlich weint vor Rührung über den „Anblick der Liebenden“ (137). Als die Sonne schließlich untergegangen ist, entsteigen der Natur „[…] manche Gesichte der grauenden Vorzeit./ Sie entschwebten dem Wogengeräusch des heiligen Meeres, / Dem Gesäusel der Buchen, dem rothen und thauenden Himmel.“ (140) Die Freunde sehen sich in eine ossianische Szenerie hineinversetzt (138) und erleben die tragische Liebesgeschichte von Fingal und Agandecka; eine Fußnote Stolbergs verweist „im Ossian [auf] das dritte Buch von Fingal“ (138), dem die Handlung entlehnt ist. Auf dem Heimweg sehen die Freunde drei Hütten, die Anlass zu einer weiteren Binnenerzählung geben: Das Fischerpaar Sveno und Gotilde, das einst an dieser Stätte gewohnt hat, ist eines Tages mitsamt seinen Kindern im Meer ertrunken – Gott wollte den Liebenden einen gemeinsamen Tod geben. Diese Geschichte bringt die Freunde auf „Heitre Gedanken des Tod’s und der Auferstehung“ (143), die wiederum mit dem Sonnenuntergang in Verbindung gebracht werden. Gerahmt wird diese geschachtelte Erzählung von einer Anrufung der „Begeist’rung“ (136), die das lyrische Ich „in mitternächtlicher Stunde […] / Einsam wallend am Ufer des wogenrauschenden Meeres“ (136) sucht und die es am Ende wieder verabschiedet.
Das Gedicht lässt am ehesten erkennen, wie Stolberg die Impulse, die er durch seine literarische Sozialisation empfangen hat, ‚fortführt‘ und ‚umformt‘: Die empfindsame Naturdichtung wird überlagert von der Ossianrezeption, indem Naturerfahrung und das sich Hineinversetzen in eine ossianische Welt ineinanderfließen und dieselben Gefühlsregungen freisetzen: Rührung, Ergriffenheit, Gedanken an die Unsterblichkeit – Erfahrungen, die im pietistisch geprägten Hause Stolberg keineswegs unbekannt waren, dort aber im religiösen Kontext gemacht wurden. Religiös inspiriert und durch Klopstocks Literarisierung der christlichen Heilsgeschichte in antikem Gewand vorbereitet ist Stolbergs Poetik der ‚Begeisterung‘ (verstanden als Inspiration, als Erfahrung, vom Geist ‚behaucht‘ zu werden), die wiederum mit Naturerfahrung verbunden wird. So wie das lyrische Ich des Hellebek-Gedichtes seine Inspiration am Ufer des Meeres sucht und die Freunde durch die Natur in eine ossianische Welt entrückt werden, führt Stolberg in dem Gedicht An das Meer (1777) auch die homerische Epik auf das Meer zurück; an dessen Ufer hätten den „blinde[n] Sänger […] Riesenthaten gold’ner Zeit“ (174) umrauscht: „Es kam zu ihm auf Schwanenschwung / Melodisch die Begeisterung / und Ilias und Odüssee / Entstiegen mit Gesang der See.“ (175) Die poetische Begeisterung durch die Natur ist aber – anders als die religiöse Inspiration – eine momentane Erfahrung, die allein durch das niedergeschriebene Produkt des poetischen Augenblicks Nachhaltigkeit erlangt. Am Ende – so auch im Hellebek-Gedicht – lässt sie den Dichter allein und uninspiriert zurück, ihm bleibt lediglich die Hoffnung auf die Wiederkehr der Erfahrung: „Nun enteilest du mir im schwebenden Saitengelispel; / Kehre wieder, und bald, aus deiner tönenden Halle!“ (145)
Behrens sieht Stolbergs Begeisterungspoetik bei Klopstock vorgeprägt, macht aber auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam:
Zwar ist auch für Klopstock die Begeisterung das Urelement der Dichtung, aber niemals – vor allem in späteren Jahren nicht – hat er einem derartigen Absolutismus des Gefühls gehuldigt. Das einmal geschaffene Werk war ihm nicht unantastbar, immer wieder änderte, feilte, verbesserte er, und die zahlreichen Varianten des Messias und der Oden geben beredtes Zeugnis einer kaum je zum Abschluß kommenden Bemühung um immer größere Vollendung des sprachlichen Ausdrucks. Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied. Stolberg konnte sich, hatte er ein Werk vollendet, kaum je entschließen, etwas daran zu ändern.
(Behrens 1964, 65 f.)
Auch in Bezug auf seine Übersetzungen – Stolberg war der erste, der die Ilias in deutsche Hexameter übertrug, später übersetzte er auch Ossian – hat er sich gegen eine Nachbearbeitung der im Rausch des begeisterten Augenblicks entstandenen Texte entschieden, immer wieder äußert er sich gegen das ‚Feilen‘ am Geschriebenen (Beispiele bei Behrens 1980, 154), das in seiner Rohheit das Gepräge des inspirierten Moments behalten sollte.
Hinsichtlich der Themen und der Poetik von Stolbergs frühen Dichtungen lässt sich somit konstatieren, dass sich zwar Bezüge zu Texten und Diskursen des Kopenhagener Kreises feststellen lassen, diese aber nicht ‚fortgeführt‘, sondern eher ‚umgeformt‘ werden, ohne dass sie jeweils markiert werden. Stolbergs Vaterlands-Begriff hat seine Voraussetzung im Patriotismus-Diskurs des Kopenhagener Kreises und reagiert auf die politischen Entwicklungen nach der Entlassung Bernstorffs 1770 und dem Sturz Struensees 1772. Sein Freiheits-Enthusiasmus hat seine Wurzeln in den aufklärerischen Reformen des Absolutismus, wie sie durch den Kopenhagener Kreis angestrebt und durchgeführt wurden. In beiden Fällen sind diese Bezüge aber nicht spezifisch für den Kopenhagener Kreis: Stolberg bezieht sich vielmehr implizit auf Positionen, die typisch für die Aufklärung (auch an anderen Orten) sind. Stolbergs Naturdichtung hingegen weist deutliche Parallelen zur dänischsprachigen Literatur seiner Zeit auf, die vom Kopenhagener Kreis gefördert wurde, und zeigt hinsichtlich der Ossian-Bezüge und der Begeisterungspoetik klare Bezüge zu Gerstenberg und Klopstock. Eine Prägung durch das geistige Milieu, in dem Stolberg aufgewachsen ist, ist deutlich erkennbar und wird auch durch die Selbstzeugnisse bestätigt, aber es finden sich keine Anzeichen dafür, dass er sich thematisch oder poetologisch in eine Tradition des Kopenhagener Kreises gestellt hätte. Vielmehr konzentriert sich ein bewusstes und erklärtes Traditionsverhalten allein auf die Figur Klopstock, insbesondere hinsichtlich der Aktivität der Brüder Stolberg im Göttinger Hain.
Es bleibt die Frage, ob nicht gerade diese Gruppenbildung, die auch den Startpunkt der dichterischen Produktion Friedrich Leopold Stolbergs darstellt, in Bezug zu setzen ist mit der Gruppe des Kopenhagener Kreises, ob die literarische Sozialisation innerhalb dieses Kreises nicht die Voraussetzung dafür war, dass sich die Stolbergs dem Göttinger Hain anschlossen, und ob gar der Kopenhagener Kreis das Vorbild für den Hainbund darstellte. Letzteres ist klar zu verneinen. Der Hainbund war bereits einige Monate zuvor gegründet worden, als die Stolbergs ihm im Dezember 1772 beitraten. Zwar war Klopstock, zu dem die Stolbergs aufgrund ihrer persönlichen Bekanntschaft die Verbindung herstellten, das ideelle Zentrum des Göttinger Hains, doch ist dies eine Stellung, die ihm im Kopenhagener Kreis nicht zukam, wo er allenfalls – aufgrund seiner Prominenz – primus inter pares war. Auch wenn die Göttinger Klopstock die Mitgliedschaft in ihrem Bund antrugen, waren der Generations- und Popularitätsunterschied sowie die räumliche Distanz zwischen Hamburg und Göttingen so groß, dass diese Mitgliedschaft eher auf dem Papier als in der Praxis bestehen konnte – womit ein weiterer deutlicher Unterschied zwischen dem Göttinger Hain und dem Kopenhagener Kreis benannt ist: Der Hain war eine klar definierte Gruppe, der man bewusst beitreten oder in die man aufgenommen werden musste. Sie definierte sich viel mehr als der Kopenhagener Kreis durch Rituale, durch gemeinsame Publikationen wie den Musenalmanach und durch Formen kollektiven Schreibens in Form des Bundesbuches (vgl. Kahl 2006). Zwar gibt es daneben auch Gemeinsamkeiten wie die räumliche Bindung an eine Stadt oder die soziale Mischung von bürgerlichen und adeligen Mitgliedern, doch gerade auch in der literarischen Spezifizierung wird die Verschiedenartigkeit der Gruppen deutlich: Der Göttinger Hain war ein Dichterbund, wie es der Kopenhagener Kreis nie war.
Dass Friedrich Leopold Stolberg in seinem weiteren Leben Beteiligter von lose formierten Kreisen in Eutin (vgl. Schubert-Riese 1975) oder Emkendorf (vgl. Schulz 1980) war, hat eher mit den Bedingungen des literarischen Lebens im 18. Jahrhundert zu tun als mit einer Traditionsstiftung durch den Kopenhagener Kreis, selbst wenn sich gerade diese holsteinischen literarischen Zirkel stets in Bezug zu Klopstock setzen und ihre „Beziehungen zu ihm […] noch persönlicher [sind] als sie es im Kopenhagener Kreis waren“ (Schulz 1980, 171).
Von einer zweiten Generation des Kopenhagener Kreises im Sinne einer Fortführung dessen, was das ‚Kulturprofil‘ dieses Kreises ausmachte, lässt sich daher nur bedingt sprechen, auch wenn Stolbergs Werk zweifellos geprägt ist von seiner literarischen Sozialisation im Umfeld des Kopenhagener Kreises. Eine explizite Distanzierung von oder Auseinandersetzung mit den Ideen und Vorstellungen, die in diesem Kreis entwickelt wurden, – im Sinne einer Abrechnung mit der Generation der Väter – lässt sich nicht ausmachen, wenngleich implizite Bezugnahmen und Zuspitzungen deutlich erkennbar sind, etwa in Stolbergs Vaterland-Begriff, der weitaus nationaler und konfrontativer bestimmt ist als derjenige Cramers, Gerstenbergs und auch Klopstocks. Gerade Stolbergs Naturdichtung und sein produktiver Umgang mit Ossian zeigen seine Verwurzelung in der Poesie und der Poetologie, mit der er aufgewachsen ist. Statt ihn als Erben des Kopenhagener Kreises zu betrachten, ist es vielleicht sinnvoller, ihn gerade in den 1770er Jahren als eine Vermittlerfigur zu sehen, die eine Brücke schlägt zwischen der Aufklärung im dänischen Gesamtstaat einerseits und dem Göttinger Hain sowie dem Sturm und Drang andererseits. Ein Vergleich mit Altersgenossen, die eine ähnliche literarische Sozialisation in Dänemark erfahren haben und ebenfalls später literarisch tätig waren (wie sein Bruder Christian oder Johann Andreas Cramer – auch er zeitweise Mitglied des Göttinger Hainbundes[14]), wäre nötig, um zu beurteilen, ob eine solche Brückenfunktion das ‚Kulturprofil‘ dieser Generation ausmacht.
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