Luther vom Dach
Karlsson vom Dach, Astrid Lindgrens seltsame Tricksterfigur aus dem Jahr 1955, hat eine besondere Art, mit dem eigenen Fehlverhalten umzugehen. Bereits im ersten Kapitel fackelt er ein Regal in Lillebrors Zimmer ab und lässt dann dessen Dampfmaschine explodieren. Als sich Lillebror Gedanken macht, was wohl seine Eltern zu dieser Zerstörung sagen werden, antwortet Karlsson mit überlegenem Selbstbewusstsein mit dem Satz, den er immer dann parat hat, wenn er sich der Verantwortung entziehen will: „Das stört keinen großen Geist.“ (Lindgren 1990, erstmals S. 15). Wenn man sich ansieht, welche Formulierung Karlsson im schwedischen Original verwendet, dann landet man unmittelbar in dem Thema, das die folgenden zwei Aufsätze der Rubrik Nordischer Klang umspielen. Im schwedischen Original nämlich wischt Karlsson alle Versuche, ihn für seine Taten verantwortlich zu machen, damit vom Tisch, dass es sich bei der von ihm zerstörten Sache doch nur um ein weltlich Ding handele – „Det är en världslig sak!“ (Lindgren 1955, erstmals S. 18) – und weil es weltlich ist, wird es ohnehin vergehen. Warum sich also über ein verkohltes Regal oder eine in Stücke zerknallte Dampfmaschine Gedanken machen?
Die Differenz von Original und Übersetzung sagt einiges über das kulturelle Imaginäre der jeweiligen Zielgruppen aus. Wo man in der Formulierung „Das stört doch keinen großen Geist“ wohl am ehesten die deutsche Klassik der Dichter und Denker assoziieren soll, da wird mit „Det är en världslig sak!“ ein religiöser Zusammenhang aufgerufen: Luther etwa nennt 1530 in seiner Schrift Von Ehesachen die Ehe „ein weltlich Ding“, womit er mit dem katholischen Verständnis von der Ehe als Sakrament und dem Zölibat genauso wenig zimperlich umgeht, wie Karlsson mit der Dampfmaschine. Die Übersetzerin Thyra Dohrenburg hat offensichtlich die satirische Strategie der Autorin erkannt: Karlsson zitiert eine Logik, die derart tief im kulturellen Selbstverständnis der zeitgenössischen Lesenden verwurzelt ist, dass ein Zweifel an ihr die eigene Existenz gefährdet. Nur dass im einen Fall diese Logik an die lorbeerbekränzten Weimarer Weltliteraten erinnert, im anderen Fall an den staatskirchentragenden Wittenberger Wüterich.
Nachleben
Lindgrens Kinderbuch Lillebror och Karlsson på taket ist damit ein schönes Beispiel für das, was Sigrid Weigel zusammen mit Martin Treml und Daniel Weidner in den 2000er Jahren „Das Nachleben der Religion in der Moderne“ (Weigel 2004a; Weidner/Treml 2007) genannt hat. Weigel konstatierte, dass die Literaturwissenschaft durch „Religionsvergessenheit“ (Weigel 2004b, 13) geprägt sei und erinnerte mit Aby Warburgs Begriff des Nachlebens daran, dass einer der Ursprünge von Kultur der Kult ist und dass der Abdruck dieser Vorgeschichte auch in der Moderne wahrnehmbar ist, ja, dass man ihn wahrnehmen muss, will man die Moderne angemessen verstehen. In diesem Ansatz liegt eine nicht geringe Provokation, hatte sich die Moderne doch selbst als Antithese zur sakral legitimierten Vormoderne inszeniert. Wie sieht also die Moderne aus, wenn man den Kern ihres Selbstverständnisses aufweicht und man nach den Spuren sucht, die das vermeintlich Ausgeschlossene hinterlassen hat, oder mit anderen Worten: wenn das Ausgeschlossene als Verdrängtes zurückkehrt? Der unheimliche Zug der Moderne wird wohl gerade in den Momenten besonders deutlich hervortreten, in dem sie besonders laut ihre Differenz zur religiösen Vormoderne betont.
Unheimliche Moderne
Eine Spur dieses Unheimlichen kann man vielleicht in Janne Tellers im Jahr 2000 erschienenen Jugendbuchbestseller Intet erkennen. Der Ausgangspunkt dieses kurzen Romans ist die Herausforderung, die Pierre Anton an seine Mitschüler*innen richtet. Er verkündet das Glaubensbekenntnis der Moderne, dass nichts etwas bedeutet, weshalb er auf einen Pflaumenbaum klettert und sich in nihilistischer Meditation übt: „Om få år er I alle døde og glemt og ingenting, så I kan lige så godt begynde at øve jer med det samme“ (Teller 2010, 10). Seine Mitschüler*innen sehen sich aufgerufen, dem Nihilisten zu beweisen, „at der er noget der betyder noget“ (Teller 2010, 21). Jeder soll etwas, das ihm oder ihr wichtig ist, abliefern, so dass nach und nach (versteckt in einem stillgelegten Sägewerk vor der Stadt) ein Berg der Bedeutung aufgeschüttet wird, wobei jeweils derjenige, der als letzter sein Liebstes geopfert hat, bestimmen darf, was der nächste abzugeben hat. Die Logik des Rituals führt zu einer gruppendynamisch getriggerten Spirale der Gewalt. Beginnen die Opfer mit den Lieblingsschuhen, allen Bänden einer geliebten Romanserie oder einer dänischen Flagge, wird der geforderte Einsatz immer höher. Schließlich wird die Leiche eines Babys exhumiert, ein Hund wird geköpft, ein Mädchen verliert seine Unschuld und einem angehenden Gitarristen wird der Zeigefinger abgeschnitten. Als sich der Provokateur der Moderne auch von diesen drastischen Opfern nicht überzeugt zeigt, wird er vom Mob derer, die an einen Sinn glauben wollen, zu Tode getreten. Auch wenn sich nur zwei der Schüler*innen als gläubig bezeichnen, der Muslim Hussain und der fromme Kai („fromme Kaj“), viele sogar als dezidiert atheistisch, imitieren doch alle die Geschichte der Gewaltübertragung auf einen unschuldigen Sündenbock.
Opferrituale und Sündenbock. Allein die kurze Synopse macht schon deutlich, dass das Nachleben der Religion der Leitfaden ist, nach dem Teller ihren plot gestrickt hat. Nicht ganz so offensichtlich ist, dass sich – quasi hinter ihrem Rücken – noch eine andere Version der Religion eingeschlichen hat und die Logik der gewaltsamen Opfer auf ganz andere Weise als der Nihilist Pierre Anton konterkariert. Relativ gegen Ende soll der fromme Kai, Mitglied der inneren Mission, sein Opfer bringen. Er wird dazu verurteilt, den Holzchristus aus seiner Kirche zu stehlen und auf den Berg der Bedeutung zu werfen, der mittlerweile zu einem großen Müllhaufen geworden ist. Teller lädt genau dieses Kapitel besonders auf, weil es ihr ja darum geht, die Rückstände des Glaubens auch im Aberglauben der bekennenden Atheisten freizulegen. So heißt der fromme Kai natürlich so, weil die Lautung seines Namens an die des biblischen Kains erinnert, an den ersten Mörder, der seinen Bruder erschlägt, weil dieser Gott näher ist. Die Entweihung des Heiligsten durch Kai/n ist aber in der Konsequenz nur eine Geschichte unter vielen. Der Wert, für den die dänische Flagge, der muslimische Gebetsteppich, die sexuelle Unschuld, der Finger eines Gitarristen und eben auch das Kruzifix stehen, wird geopfert, entwertet und nichtig gemacht. Der Berg der Bedeutung ist zum Friedhof, zum Müllplatz geworden. Was allerdings der fromme Kai und mit ihm wohl auch Hanne Teller nicht bemerkt haben, ist, dass das Kruzifix auf einem Müllhaufen vor der Stadt durchaus nicht deplatziert ist. Denn das Original, auf das das Holzkreuz hinweist, stand ebenfalls auf einem ‚Müllplatz‘ vor der Stadt, auf Golgatha, der Schädelstätte. Somit bekommt die Geschichte vom frommen Kai eine paradoxe Stellung. Die Entwertung des Menschensohns durch seine Opferung versetzt das Kruzifix des Romans zurück in seinen ursprünglichen Kontext. Religion wird jenseits der herrschenden gewaltsamen Opferlogik auch als Mahnmal der Gemarterten inszeniert. Unheimlicherweise endet Intet bei der Exposition des Christentums.
Ästhetik des Protestantismus
Das literaturwissenschaftliche Kolloquium im Festival Nordische Klang 2021 hat drei Wissenschaftler eingeladen, die Teil eines Forschungskontextes sind, der die Ästhetik des Protestantismus in der skandinavischen Literatur rekonstruieren will. Ein erster Forschungsoutput dieser Gruppe sind die Tagungen Aesthetics of Protestantism in Northern Europe[1] (2018) und Forgotten Roots of the Nordic Welfare State in Protestant Cultures (2021), die beide in Straßburg stattfanden. Die Forschungsgruppe geht von der These aus, dass die Reformation nicht nur ein wichtiger Faktor in der politischen, sozialen und kirchlichen Geschichte Skandinaviens war, sondern dass protestantische Plausibilitäten und Vorstellungswelten bis heute einen weitreichenden Einfluss auf das kulturelle Leben in allen seinen Formen von der Literatur bis zum Design besitzen: Die besondere Neigung zu Einfachheit und Purismus, zu Logozentrismus und Pflichtethik, die Spannung zwischen Individualismus und Kollektivität können als Elemente einer spezifisch protestantischen Ästhetik benannt werden. Die Vorträge des Kolloquiums exemplifizierten diese These an berühmten Texten der dänischen und schwedischen Literatur: Joachim Grage (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) sprach über „Nulla dies sine linea – Kierkegaards Journale und die Frage nach dem protestantischen Arbeitsethos“, Søren Black Hjortshøj (Syddansk Universitet) über „The Pietistic Priest and the Nordic Welfare State Politician: Henrik Pontoppidan’s Det Forjættede Land and the Building of Modern Denmark“ und Thomas Mohnike (Université de Strasbourg) über „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch die protestantische Ästhetik des schwedischen Wohlfahrtsstaats“. Im Folgenden finden Sie die schriftlichen Versionen von zwei dieser Vorträge.
Nordischer Klang im EJSS
2021 fand das Festival Nordischer Klang zum 30. Mal statt. Seit 1991 bringen die Veranstalter*innen in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Fennistik und Skandinavistik der Universität Greifswald ein variiertes Vielspartenprogramm auf die Bühnen der ‚ältesten schwedischen Universitätsstadt‘: Musik aller Genres, Bühnenkunst, Ausstellungen, Filme und Literatur.[2]
Ein wichtiger Bestandteil des Festivals ist seit vielen Jahren das Informationsforum. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Vortragsreihe, die von den Sprachlektor*innen des Instituts für Fennistik und Skandinavistik organisiert wird. Gastredner*innen aus Dänemark, Estland, Island, Finnland, Norwegen und Schweden werden zu einem Thema eingeladen, das über das enge Curriculum eines philologischen Studiengangs hinausgeht und den Studierenden und Lehrenden Landeskunde aus erster Hand bietet. Im Jahr 2011 wurde erstmals ein literaturwissenschaftliches Kolloquium in die bestehende Struktur des Informationsforums integriert. Nachdem in den letzten Jahren Kolloquien zu Themen wie ‚Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichenwelten/Welten zeichnen: Comics im Norden‘, ‚Nordic Schwarz/Weiß. Krimiserien aus Skandinavien‘ oder ‚Wohlfahrtsstaat im (narrativen) Umbruch / (Fortellinger om) velferd - kriser, kollaps, brudd‘ angeboten wurden, stand 2021 die „Ästhetik des nordischen Protestantismus“ auf dem Programm. Das Kolloquium wurde vom Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald finanziert und konnte als digital durchgeführte Veranstaltung in die Lehrveranstaltungen des Münchner Instituts für Nordische Philologie implementiert werden. Seit 2011 werden die Vorträge des literaturwissenschaftlichen Kolloquiums in der EJSS als Rubrik Nordischer Klang veröffentlicht.
Literatur
Grage, Joachim/Thomas Mohnike/Lena Rohrbach (Hg.) vorauss. 2021/22: Aesthetics of Protestantism in Northern Europe – Exploring the Field. Turnhout. Im Druck.10.1484/M.APNE-EB.5.130805Search in Google Scholar
Lindgren, Astrid 1955: Lillebror och Karlson på taket. Stockholm.Search in Google Scholar
Lindgren, Astrid 1990: Karlsson vom Dach. Hamburg.Search in Google Scholar
Teller, Janne 22010: Intet. Frederiksberg.Search in Google Scholar
Weidner, Daniel/Martin Treml (Hg.) 2007: Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung. Paderborn.10.30965/9783846743690Search in Google Scholar
Weigel, Sigrid 2004a: „Vom Nachleben der Religion in der Moderne.“ In: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München. 109-145.Search in Google Scholar
Weigel, Sigrid 2004b: „Vorwort.“ In: Dies.: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München. 7-14.Search in Google Scholar
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
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- Nordischer Klang 2021: Zur Ästhetik des nordischen Protestantismus
- Nature, Work, and Transcendence
- „Nulla dies sine linea“
- Articles
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- Cancel Culture in the Middle Ages
- Shining a Light on Eyvind Johnson’s Sidelined Novel, Nittonhundrasjutton
- Between the Map and the Terrain
- Reviews
- Philip Lavender: Long Lives of Short Sagas. The Irrepressibility of Narrative and the Case of Illuga saga Gríðarfóstra
- Klaus Düwel: Von Göttern, Helden und Gelehrten. Ausgewählte Scandinavica minora
- Giacomo Bernobi: Extemporierte Schriftlichkeit. Runische Graffiti
- Paloma Ortiz-de-Urbina (ed.): Germanic Myths in the Audiovisual Culture
- Stephan Michael Schröder: Literatur als Bellographie. Der Krieg von 1864 in der dänischen Literatur
- Guiliano D’Amico: Tilbake til fremtiden. Håkan Sandell og den nordiske retrogardismen
- Frederike Felcht: Die Regierung des Mangels. Hunger in den skandinavischen Literaturen 1830-1960
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