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Chancen und Herausforderungen hybrider Editionen
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Veröffentlicht/Copyright: 27. September 2025
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editio
Aus der Zeitschrift editio Band 39 Heft 1

Abstract

The paper aims to explore the possibilities and opportunities of hybrid edition formats which primarily lie in the possibility of offering a linearly readable reference text in print, while the digital component makes development processes comprehensible and enables comparative cross-reading in larger collections of material. While the book as a medium presents a stable text, as is often preferred in literary studies and teaching, the text remains changeable and correctable in digital formats. Finally, the implementation of the opportunities of hybrid editions are collated with the project Edition der in Regenbogens ‚Brief- und Grundweise‘ und ‚Grauem Ton‘ überlieferten Lieder (University of Duisburg-Essen).

In der Quellenerschließung durch dem jeweiligen Überlieferungsbefund angemessene Editionen liegt eine Basisaufgabe geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen. Diese Formulierung verfügt über Allgemeingültigkeit, auch wenn sich sowohl die Überlieferungsbefunde als auch die Editionsmethoden selbst der germanistischen Teilfächer mitunter deutlich voneinander unterscheiden. So liegt etwa der Fokus der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft häufig auf der Erarbeitung eines konstituierten Textes als eines möglichst autornahen Endresultats einer Edition, die nicht selten zeitgleich den Schaffensprozess des jeweiligen Autors oder der Autorin selbst sichtbar machen möchte.[1] Die editorische Erschließung mittelalterlicher Texte hingegen zielt, spätestens seit dem Siegeszug der ‘New Philology’ (und jüngst noch einmal befeuert durch die Möglichkeiten digitaler Editionen), heute nur noch selten auf die Rekonstruktion eines vermuteten autornahen Archetyps ab.[2] Die Sachlage der Überlieferung bedingt dabei die unterschiedlichen editorischen Schwerpunkte. Während die Altgermanistik meist nur über nachgelagerte Fassungen eines nicht mehr herstellbaren Urtextes verfügt, liegt der Fokus der Neugermanistik eher darauf, den Weg zum autorisierten Text, alle seine Zwischenstufen sowie spätere Varianten möglichst genau nachzuzeichnen und zu dokumentieren – und das nicht nur anhand der Textzeugen selbst, sondern häufig auch durch graphische Visualisierung des kreativen Schreibprozesses, der in philologischer Kleinstarbeit aus den Untersuchungsgegenständen extrahiert wird. Im Hinblick auf Chancen und Herausforderungen hybrider Editionen[3] macht es folglich einen großen Unterschied, welchem fachwissenschaftlichen Kontext die Editionen entstammen, welches Quellenmaterial ihnen zugrunde liegt und an wen sie sich richten. Hybride Editionen unterschiedlicher Fachdisziplinen können – das versteht sich von selbst – ebenso wenig über einen Kamm geschoren werden wie reine digitale Formate oder Printausgaben. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten in der editorischen Zielsetzung zwischen den germanistischen Fächern, und auch über die Chancen, die digitale Editionsanteile bieten, scheint man sich weitgehend einig.[4]

Vereinbarkeit verschiedener Editionsziele als Chance

Fachdisziplinübergreifend scheint ein zentraler Dreh- und Angelpunkt bei der editorischen Vorplanung und Zielformulierung von Hybridausgaben zu sein, Projektziele zu vereinen, die vormals (vor allem im Print) unterschiedlichen Ausgabeformaten wie historisch-kritischen Editionen oder Studien- bzw. Leseausgaben vorbehalten waren und/oder sich in Teilen sogar konträr zueinander verhalten.[5] Als Beispiel für divergierende Editionsziele sei die im Jahr 2021 ausschließlich im Print erschienene Neuausgabe der Lieder des Spruchdichters Muskatblut angeführt.[6] Die Herausgebenden formulieren für ihre Ausgabe drei Ziele, die sich in Teilen zunächst auszuschließen scheinen:

  1. Die Wiederherstellung der Textgestalt und des Formwillens des Dichters,

  2. Dokumentation der Überlieferung und ihrer Eigenarten, namentlich der „spezifischen Funktion […] in der Konstitution der Geschichtlichkeit von Sprache“ sowie

  3. die Herstellung eines verständlichen, lesbaren Textes.[7]

Besonders die Rekonstruktion des Muskatblut’schen Formwillens und der autornahen Textgestalt unter Beibehaltung der Eigenarten der Überlieferung und ihrer sprachlichen Besonderheiten erscheint im Rahmen einer Leithandschriftenedition als schwieriges Unterfangen. Dass es überhaupt unternommen werden kann, liegt im Fall der Muskatblut-Ausgabe in der Überlieferungslage des Dichterœuvres begründet, das zumindest den starken Formwillen Muskatbluts wie auch seinen Heimatdialekt immer wieder belegt. Die grundsätzliche Problematik ist auch den Herausgebenden bewusst. Sie gestehen ein, die Ziele der Edition könnten aufgrund ihrer divergenten Ausrichtungen „nur annähernd und unter erheblichen Zugeständnissen […] erreicht werden“.[8]

Es sind nicht zuletzt solche Zugeständnisse, die sich für reine Printausgaben aufgrund der sich ständig erweiternden Methodenvielfalt der germanistischen Fächer nahezu zwangsläufig ergeben und die den rasanten Anstieg an hybriden und in jüngster Zeit vermehrt auch rein digitalen Editionsformaten beflügeln. Hier stellen sich Fragen wie: Soll die Überlieferung im Prozess dargestellt werden (z. B. durch Fassungssynopsen oder umfangreichere Ausbreitung der (Parallel-)Überlieferung in den Apparaten)? Soll textkritisch rekonstruierend ediert werden oder überlieferungsnah anhand einer (oder mehrerer) Leithandschrift(en)? Welche Aspekte der Überlieferung[9] sollen durch die Edition repräsentiert werden? Diese werden zwar in der Vorbereitung einer Edition nicht weniger relevant, sie verlieren aber durch fortschreitende technische Möglichkeiten und den endlos erscheinenden digitalen (Speicher-)Platz[10] zunehmend ihren ‚Entweder-oder‘-Charakter. Gleiches betrifft Fragen, die auf den konkreten Nutzwert der Edition abzielen: inwieweit etwa die überlieferten Texte in der Edition gegenüber den Quellentexten (Autographe, mittelalterliche Handschriften oder auch Druckerzeugnisse) durch weitere Instrumente (z. B. Versumbrüche, Interpunktion, Normalisierung) oder auch Übersetzung und Materialien wie Apparate, Kommentare, Glossare aufgeschlüsselt und angereichert werden sollen. Auch hier eröffnen digitale Editionsverfahren die Möglichkeit, verschiedene Nutzungsszenarien zu berücksichtigen. Digitale Formate erlauben, zunächst einmal alle potentiell relevanten Informationen zu erfassen. Diese können dann durch eine Präsentationslogik in adäquate Sichten überführt werden, die sowohl für das entsprechende Endgerät als auch für das Interesse der Nutzenden optimiert sind. Es bleibt natürlich dabei: Die Arbeit der Informationserfassung verringert sich dadurch nicht und der Aufwand muss auf ein praktikables Maß begrenzt werden.[11]

Versuche, verschiedene Editionsziele durch Einsatz digitaler Komponenten mit einer Ausgabe abzudecken, finden sich bereits seit den 1990er Jahren. Zunächst rückte die digitale Veröffentlichung von Zusatzmaterial in den wissenschaftlichen Fokus, was den Grundstein für moderne Hybrideditionen legte. In direkter Verbindung zu möglichen Nutzerkreisen (Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Linguistinnen und Linguisten, literaturinteressierte Laiinnen und Laien usw.) standen von Beginn an zwei Vorteile digitaler Teile einer Edition: die Möglichkeiten einer leichten Durchsuchbarkeit und die Beigabe digitaler Materialsammlungen.

Durchsuchbarkeit und umfangreiche Materialbereitstellung

Für die älteste in GEPRIS gelistete Hybridausgabe, die neunbändige Ausgabe des Tagebuchs von Harry Graf Kessler,[12] rechtfertigte Werner Kramski im Jahr 2001 das hybride Format noch wie folgt:

Angestrebt wird eine Hybrid-Edition als neuer Typus einer wissenschaftlichen Quellen-Edition: Der Text wird in behutsam redigierter Form gedruckt veröffentlicht (9 Bände). Diese Fassung dient als Forschungs- und Leseausgabe. Vorgesehen sind ausführliche Einleitungen zu den einzelnen Bänden und teilweise erläuterte Register. […] Neben der gedruckten Fassung soll eine elektronische Publikation als zusätzliches Hilfsmittel für die Forschung erscheinen, welche die Funktion der Tagebücher als Nachschlagewerk erfüllt. Die geführten Register zu Personen, Werken, Orten, Plätzen, Körperschaften und Zeitungen/Zeitschriften sollen zusammen mit einer geeigneten Recherchesoftware auf der CD-ROM die wissenschaftliche Recherche erleichtern. Faksimiles exemplarischer und singulärer Tagebuchseiten sowie der zahlreichen Beilagen ergänzen die elektronische Publikation und machen den Quellen-Charakter des Tagebuches sichtbar.[13]

Deutlich wird an dieser Stelle der Ergänzungscharakter der digitalen Komponente, die eine wissenschaftliche Recherche erleichtern soll. Die größten Chancen der Hybridität wurden also schon früh in einer erleichterten Durchsuchbarkeit des Textes und in der Möglichkeit, durch Beigabe von (anfangs nur wenigen) Faksimileseiten sowie Transkriptionen den Quellencharakter sichtbar zu machen, gesehen. Die Printedition wurde dabei eindeutig als prioritäres Editionsergebnis anerkannt, die CD-ROM-Beigabe lieferte Bonusmaterial, das den Umgang mit der Printausgabe erleichtern und ergänzen sollte – die Abhängigkeit des digitalen Teils von der Printedition ist hier noch unzweifelhaft.[14] Damit entspricht dieser frühe Versuch der Einbindung neuer Medien in die Editionstätigkeit noch nicht den von Patrick Sahle für Hybrideditionen erarbeiteten Kriterien. Denn als Editionsparadigma sieht Sahle die Hybridedition nur dann, wenn

sich aus dem Nebeneinander von Zielmedien auch ein Nebeneinander von Editionskonzepten ergibt, wenn also der digitalen Fassung beispielsweise ein dokumentnahes Editionsverständnis (mit Faksimiles, genauer Transkription, variabler Textkonstitution etc.) und der analogen Fassung ein idealisierendes Editionsverständnis (mit konstituiertem kritischem Text) zugrunde gelegt wird.[15]

Kritisiert wurde dieser methodische Ansatz von Ursula Kocher, die nicht das Nebeneinander von Editionskonzepten zum zentralen Moment von Hybrideditionen erhebt, sondern ein generelles Zusammenspiel der Medien zum Kernpunkt hybrider Konzepte macht.[16] Beiden Ansichten ist zu eigen, dass hybride Formate keinesfalls in einseitiger Abhängigkeit bestehen sollten, sondern sich gegenseitig ergänzen und/oder in unterschiedlichen Nutzungszusammenhängen stehen sollten. Mit Ausrichtung auf den Kreis der Nutzerinnen und Nutzer betonen die Herausgeber der beiden hybriden Ausgaben zu Briefwechseln Gottfried Benns,[17] dass die digitalen Ausgaben „noch stärker als die Druckfassung wissenschaftlich ausgerichtet“ seien. Dieses ‚Mehr‘ an Wissenschaftlichkeit bemisst sich für die Herausgeber wiederum an Materialbeigaben, denn die digitale Edition

erweitert die Druckausgabe um Digitalisate sämtlicher Schreiben und aller Beilagen sowie deren Transkriptionen. Ebenfalls berücksichtigt sind sämtliche überlieferte Einlieferungs- und Empfangsscheine von Care- und Privatpaketen sowie bei der Absenderin zurückgebliebene Packlisten von selbst zusammengestellten Hilfssendungen. Ergänzt wird die Edition um ein umfangreiches biographisches Nachwort von Stephan Kraft zu Benns Korrespondenzpartnerin, von deren Leben bislang nur wenig bekannt war.[18]

Die Printausgabe richte sich dagegen „auch an ein größeres, literarisch interessiertes Publikum“.[19] Was sich hier andeutet, ist die von Ursula Kocher zur Diskussion gestellte und vermehrt in diversen Editionen konstatierte Tendenz einer zunehmenden Umkehrung des Verhältnisses von Printedition und online aufbereitetem Material innerhalb der Forschungswelt.[20] Galt vormals die Printausgabe als das bevorzugte Medium zur wissenschaftlichen Textarbeit, da es althergebrachte Stabilität bietet und gewohnte Lektüre- und Arbeitsgewohnheiten unterstützt, verschiebt sich der Fokus seit den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts zunehmend in eine andere Richtung: Die Onlineausgabe wird durch das Postulat der Vollständigkeit zum neuen Standard für wissenschaftliches Arbeiten erhoben, während die Printedition als Medium auch für den interessierten Laienkreis inszeniert wird. Kocher selbst distanziert sich zu Recht von dieser Annahme und betont, dass das Ausgabeformat keinen Rückschluss auf den wissenschaftlichen Anspruch zulässt; vielmehr sind beide Komponenten der Hybridedition wissenschaftliche Arbeitswerkzeuge, sie dienen lediglich unterschiedlichen Rezeptionszielen.[21] Neugermanistische, historisch-kritische oder genetische Hybridausgaben dienen diesen Rezeptionszielen, indem sie online sowohl den Entstehungsprozess des Textes nachvollziehbar machen und gleichzeitig die spezifische Arbeitsweise eines Autors vor Augen stellen, während sich die Printausgaben in der Regel auf den konstituierten Text fokussieren und der Werkkontext linear erschlossen wird. Ähnliches gilt etwa für die Neuedition der deutschen Schriften Heinrich Seuses, wobei hier in der Online-Ausgabe die Darbietung der Gesamtüberlieferung an die Stelle der Repräsentation der Textgenese tritt.[22]

Sowohl im Falle der Benn-Ausgaben als auch im Falle der digitalen Ausgabe der Tagebücher Harry Graf Kesslers erschien bzw. erscheint die digitale Edition zeitlich nachgelagert und ist ein pseudo-stabiles Produkt der Arbeit an der Printedition. Auffällig ist, dass hier eine Veröffentlichung der sehr wahrscheinlich vorhandenen TEI-codierten Basisdatensätze nicht angedacht zu sein scheint. Unabhängig von der Frage, ob entweder die Printedition oder aber die digitale Edition einer Hybridedition nachgelagert publiziert wird, liegen Editionen heute in der Regel codiert vor. Alle Produkte moderner editorischer Arbeit, wie digital und im Print veröffentlichte konstituierte Texte, aber auch zusätzlich gebotene Analysen, Visualisierungen von editorischen oder genetischen Prozessen, sind Derivate einer digitalen Datenbasis, die auf langfristige Speicherung, nicht aber auf Darstellbarkeit abzielt. Was die Primärtexte betrifft, geht der Trend, dem Primat der Vollständigkeit folgend, dahin, alle vorhandenen Überlieferungsträger als Volltranskriptionen vorzulegen. Die Texte werden von ihrem ursprünglichen Überlieferungsträger in eine digitale Form übertragen; diese ermöglicht, alle Besonderheiten von Text, Textträger und Verfasser oder Schreiber abzubilden. Gleichzeitig findet auch der Editionsprozess Eingang in den maschinenlesbaren Text. Die Basisdatei enthält alle später visualisierten Textstufen von der Transkription bis zum konstituierten Text plus erforderliche Metadaten.[23] Es ist nicht verwunderlich, dass diese Dateien es als maschinenlesbare Dokumente grundsätzlich nicht in den Druck schaffen. Aber auch in den digitalen Teilen der in den Blick genommenen Hybrideditionen ist der Umgang mit diesen unterschiedlich. In allen altgermanistischen digitalen oder hybriden Projekten und auch auf edition-humboldt.de werden die TEI-Dateien mittels Download-Option direkt auf der Projektplattform oder zumindest ausgelagert, etwa in GitHub, zur Verfügung gestellt.[24] Dies ermöglicht eine unmittelbare Nachnutzung der Daten. Sowohl in der Hannah-Arendt-Gesamtausgabe als auch in der Ausgabe der Notizbücher Fontanes können die XML-TEI-Dateien angezeigt werden, wobei die Herausgeberinnen und Herausgeber der Hannah-Arendt-Ausgabe auf eine synoptische Ansicht setzen, in der das Basisdokument entweder neben das Faksimile, die diplomatische Transkription oder den konstituierten Text gesetzt werden kann. Auch hier wäre eine zusätzliche Download-Option wünschenswert. Eine effektive Nachnutzung der Basisdaten ist nicht zuletzt an Weiterbearbeitungsmöglichkeiten gekoppelt, die durch eine reine Präsentation der Daten noch nicht gegeben sind. Auf nietzschesource.org oder in der in EdView des Deutschen Literaturarchivs Marbach zur Verfügung gestellten Edition des Briefwechsels zwischen Gottfried Benn und Gertrud Zenzes ließen sich keine Hinweise auf einen möglichen Export vorhandener XML-TEI-Daten finden. Über die Gründe für eine Entscheidung gegen die Verfügbarmachung der Rohdaten ist nur zu mutmaßen, sie wäre aber zumindest vor dem Hintergrund der zunehmenden Tendenz eines ‘open research’ ganz ausgesprochen erwünscht. Darüber hinaus findet sich auch kein Hinweis darauf, ob die Möglichkeit berücksichtigt wird, zumindest die digitalen Editionstexte der Benn-Briefwechsel nach ihrer Veröffentlichung noch weiter zu korrigieren. Mit dieser Ausrichtung wird ein elementarer Vorteil digitaler Präsentationen gerade nicht genutzt: die Möglichkeit, Forschungsergebnisse sukzessive, als ‘work in progress’, zu veröffentlichen und somit Forschungsteilergebnisse zeitnah zu publizieren und für Ergänzungen aus der Nutzung offen zu halten, anstatt sie bis zum endgültigen Projektabschluss – und das heißt mitunter jahrelang – unter Verschluss zu halten.

Veröffentlichungen als ‘work in progress’ als Vorteil

Diesbezüglich mustergültig verfährt das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte Projekt „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ unter der Leitung von Tobias Kraft. Die im Projekt entstehende Hybridausgabe edition Humboldt mit ihren zwei Teilen edition humboldt print und edition humboldt digital folgt dem Prinzip ‘digital first’ uneingeschränkt.[25] Auch bei dieser Edition liegt der Hauptunterschied zwischen Printausgabe und digitaler Edition in der Vollständigkeit der dargebotenen Materialen. Während die digitale Edition auf Vollständigkeit der Quellenwiedergabe und auf die weitestgehende Treue zu den Dokumenten, die alle miteinander verbunden sind, setzt, ist die aus dem Code der Online-Edition entstandene Lesefassung linear zu lesen. In der „Editorischen Notiz“ zum ersten Band der edition humboldt print heißt es dementsprechend:

Die gedruckte Ausgabe legt einen klaren Schwerpunkt auf Lesbarkeit, Referenzierbarkeit und wissenschaftliche Nutzbarkeit der für die jeweiligen Bände ausgewählten Dokumente. Im Zentrum stehen die Lesefassungen der Originaltexte und der Sachkommentar, nicht die textkritische Wiedergabe aller Einzelphänomene handschriftlich verfasster Dokumente. Wo die digitale Edition den Blick auf die Erschließung der Manuskripte und die Dokumentation des philologischen Befundes richtet, legt die Print-Edition den Schwerpunkt auf die Rekonstruktion des Reiseverlaufs unter Berücksichtigung der Eigenart der jeweiligen Quelle.[26]

Eine solche Editionsform bietet also das komplette Material, das in klassischen textkritischen Editionen ebenfalls erschlossen sein sollte, aber nicht bereitgestellt wurde; damit ist das editorische Vorgehen jederzeit für alle Benutzenden nachprüfbar.

Die angestrebte Vollständigkeit der Quellenwiedergabe wird in der Humboldt-Ausgabe als Arbeitsprozess erkennbar, die digitale Edition begreift sich daher als ‘work in progress’, womit sie sich maßgeblich vom genannten Benn-Beispiel und anderen Editionen unterscheidet. Es geht Tobias Kraft und seinem Team nicht darum, digital ein nachgelagertes Endprodukt für wissenschaftliche Forschungszwecke zu präsentieren, sondern den Forschungsprozess in Form einer einmal im Jahr erfolgenden Veröffentlichung einer neuen digitalen Lieferung, also einer neuen Version der digitalen Edition inkl. Versionsgeschichte, mit neu edierten und älteren, überarbeiteten Texten sichtbar werden zu lassen. Die Erstellung der Datenbestände der edition humboldt digital ist ein fortlaufender Prozess.[27] Umfang und Genauigkeit der Daten wachsen mit dem Voranschreiten des Vorhabens. Hierin aber liegt auch ein entscheidendes Manko, denn so verlockend eine Publikation als ‘work in progress’ ist, so herausfordernd kann sie für die Nutzenden sein. Zum einen erfordert die Verwendung solcher vorläufigen Editionen eine besonders akkurate bibliographische Erfassung der verwendeten Versionen – und Versionierung wird zur unerlässlichen Pflicht der Herausgeberinnen und Herausgeber digitaler und hybrider Projekte. Zum anderen muss damit gerechnet werden, dass aus der vorläufigen Version gewonnene Forschungsergebnisse sich schlimmstenfalls als fehlerhaft erweisen können. Andererseits aber können Nutzende direkten Einfluss auf die entstehende Edition nehmen. Will man das immer wieder zu lesende Postulat, eine parallele Darbietung von Digitalisaten der Primärquellen, Transkriptionen und edierten Texten diene den Nutzenden als Möglichkeit, das Endresultat der verantwortlichen Editorinnen und Editoren zu überprüfen, erscheint es nur folgerichtig, Optionen der Fehlermeldung, Berichtigung oder Ergänzung anzubieten, die im laufenden Workflow und, je nach Kapazitäten, darüber hinaus in die Edition übernommen werden können. Online publizierte Texte sind fluide Gebilde, deren Status im Grunde der einer Momentaufnahme ist – selbst dann, wenn die Edition theoretisch abschließend publiziert ist. Hybrideditionen haben damit die Möglichkeit, im Print einen stabilen Text, wie er in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung und in der Lehre häufig noch bevorzugt wird, zu bieten und gleichzeitig, im digitalen Format, veränder- und korrigierbar zu bleiben.

Darstellungsformen und Nutzereinbindung

Innerhalb ihrer Ursprungsprojekte werden aus den TEI-Basisdaten wiederum die einzelnen Texte der Print- und Hybridedition gewonnen; der Text wird so erneut transformiert – in den meisten Fällen in einen konstituierten Lesetext der Printausgabe und eine synoptische Darbietung online. Generell liegt in der relativ einfachen Generierung von Synopsen durch Verknüpfungen der Primärtexte und Paratexte untereinander das große Plus digitaler Editionen. Überlieferungsbefund und Forschungsgegenstand entscheiden dabei über Form und Inhalt der Synopse. Die häufigste Form ist die Volltextsynopse, in der entweder, wie bei der Hannah Arendt-Gesamtausgabe, unterschiedliche editorische Erschließungsstufen eines Textes dargeboten werden oder aber unterschiedliche Textzeugen, wie im Projekt Lyrik des deutschen Mittelalters (LDM), nebeneinandergestellt werden. Alternativ gibt es auch Projekte wie faustedition.net, die Verssynopsen bieten. Die mit Untereinanderstellung arbeitende Verssynopse bietet sich in Fällen relativ stabiler Texte an, die in so großer Zahl überliefert sind, dass eine Synopse aller Textzeugen nebeneinander den Rahmen eines herkömmlichen Computerbildschirms sprengen würde. In der Darstellung ähnelt eine solche Verssynopse einer Kollationsdatei und ermöglicht so einen optimalen Textvergleich.

Überlieferungssituationen, wie sie mitunter in der spätmittelalterlichen Lyrik mit ihren wandernden Versen und Strophen sowie Kompositliedern vorkommen, erfordern andere synoptische Lösungen. Wegweisend ist das bereits erwähnte LDM, bei dem die Nutzerinnen und Nutzer neben der Ansicht einzelner Textzeugen und ihrer editorischen Erschließungsstufen zwischen zwei unterschiedlichen Synopsentypen wählen können. Entweder werden die Texte in der Strophenreihenfolge ihrer Überlieferungsträger angezeigt, wobei übereinstimmende Strophen und Strophenabschnitte farbig unterlegt werden, oder die sich entsprechenden Einzelstrophen werden einander zugeordnet. Im letzteren Falle wird die Reihenfolge einer ausgewählten Handschrift beibehalten und die Reihenfolgen der übrigen Überlieferungszeugen werden daran angepasst umsortiert. Auch können einzelne Handschriften aus den Synopsen ausgeschlossen werden und die Nutzer können zwischen unterschiedlichen Darstellungsmodi – mit oder ohne Interpunktion oder mit unterschiedlichen Apparateinstellungen – wählen und sich auf diese Weise eine an ihren spezifischen Bedürfnissen orientierte Edition zusammenstellen und diese als PDF ausdrucken. Den Nutzerinnen und Nutzern wird so die Möglichkeit der aktiven Beteiligung zugestanden. Über diese basalen Formen der aktiven Wahlmöglichkeiten der Nutzerinnen und Nutzer hinaus gehen digitale Projekte, die auf ihren Projekthomepages eine kollaborative Textarbeit ermöglichen und somit Plattformen für Forschungscommunities bilden. Ein Beispiel für ein solches Verfahren ist das Projekt Digital Thoreau, das den Mitgliedern seiner Community die Möglichkeit zur gruppeninternen kollaborativen Lektüre und – wenn gewünscht – breiteren Veröffentlichung der daraus resultierenden Annotationen bietet. Die anvisierte Zielgruppe sind hier allerdings Lehrende und Lernende, nicht primär Forschende.

Jenseits der präsentierten Textgestalten und Möglichkeiten der unmittelbaren Kommentierung scheint fraglich, ob die häufig implementierten Features zur Visualisierung von Überlieferungswegen oder künstlerischen Schaffensprozessen und deren Timelines sich als forschungsfördernd erweisen. Um dies herauszufinden, wäre eine systematische Erforschung des Nutzverhaltens nötig. Katrin Henzel weist zumindest für digitale historisch-genetische Editionen darauf hin, dass der Begriff der Nutzenden in nahezu allen Ausgaben sehr vage ist und bis heute kaum erforscht wurde, inwiefern und mit welcher Zielsetzung digitale Editionen und deren Features wirklich genutzt werden und ob die anvisierten Nutzerkreise den tatsächlichen überhaupt entsprechen.[28] Zu fragen wäre somit, ob die Tendenz, alle Möglichkeiten der Textdarbietung und visuellen Aufbereitung aller im jeweiligen Projekt eruierten Daten in Form von Graphen, Knotenpunkt-Netzwerken, Farbmarkierungen, Diagrammen sowie unterschiedlichen Apparat- und Kommentarlösungen und verschiedenen Ansichten darzustellen, überhaupt zielführend ist. Eine im Jahr 2015 publizierte Studie von Rüdiger Nutt-Kofoth kam diesbezüglich zu sehr ernüchternden Ergebnissen.[29] Nutt-Kofoth interessierte, ob Literaturwissenschaftler (der Neu-Germanistik) für die eigene Arbeit tatsächlich historisch-kritische Ausgaben (HKA) nutzen und welche Bestandteile der Edition in diesen Fällen von Interesse sind. Er kam zu dem Ergebnis, dass von den 476 Fällen, in denen eine HKA herangezogen wurde, sich die Beiträge in 91 % der Fälle auf den edierten Text bezogen, nur in 3,9 % der Fälle wurde die Entstehungsgeschichte berücksichtigt, und der Einbezug der Variantenverzeichnung ist mit 4,4 % ähnlich gering. Es wird deutlich, dass die Variantendarstellung und Entstehungsgeschichte eines Textes, die eben den Kern nicht nur genetischer Editionen ausmachen, lediglich eine marginale Rolle spielen. Damit, so Katrin Henzel, „besteht ein Missverhältnis zwischen dem Aufwand der Erstellung eines genetischen Apparats und seiner tatsächlichen Nutzung.“[30] Und dieses Missverhältnis scheint nach wie vor zu bestehen und sich sogar zu vergrößern, da es ja gerade Variantendarstellungen und Visualisierung genetischer Prozesse sind, die in modernen Hybrideditionen zunehmend in den Fokus gerückt werden. Dieser Hinweis soll den Wert solcher Teile nicht generell in Frage stellen, denn gerade was die digitalen Möglichkeiten angeht, ist die Editionswissenschaft nach wie vor in einem Stadium des ‚Ausprobierens dessen, was möglich (und sinnvoll) ist‘. Dabei benötigen wir aber nach wie vor genauere Einsichten darin, was durch reale Rezeptionskreise wirklich Verwendung findet – sowohl in Hinblick auf Hybridausgaben als auch hinsichtlich reiner Print- oder Digitaleditionen. Der wichtigste Punkt einer funktionierenden Hybridedition ist, dass beide Teile für sich nutzbar sind und in sich geschlossene Editionen bieten, sich aber dennoch auch ergänzen, um einen größtmöglichen Nutzen zu gewährleisten. Weder sollten Ausgaben sich damit begnügen, lediglich Bonusmaterial zu liefern, noch sollten Print- und digitale Edition schlicht Identisches in unterschiedlichen Ausgabeformaten präsentieren. Wäre dies der Fall, wären Hybrideditionen lediglich ein Übergangsmodell, um Nutzenden den Wechsel vom analogen zum digitalen Medium zu erleichtern. Tatsächlich aber bieten sie Möglichkeiten der Textarbeit, die rein digitale Projekte nicht haben, und können darüber hinaus durch die Vielfalt an möglichen Features unterschiedliche Fachdisziplinen ansprechen. Eine der wenigen Editionen, die nach Patrick Sahles Prämisse für Hybrideditionen in beiden Editionsteilen unterschiedliche Editionsparadigmen zugrunde legen, sind die Duisburg-Essener Projekte zur anonymen Rezeption der Töne des Sangspruchdichters Regenbogen unter der Leitung von Martin Schubert. Auch hier ist die Printedition auf Linearität und Kontextualisierung gerichtet, während die Online-Ausgabe ein dynamisches Querlesen über die Überlieferung hinweg ermöglicht. Doch darüber hinaus bietet die Printedition einen in der Online-Edition nicht repräsentierten, metrisch geglätteten Leithandschriftentext.

Anlage und Zielsetzung der Regenbogen-Hybridedition: Zwischen Mehrschichtenmodell und Leithandschriftenprinzip

Begründet liegt die hybride Anlage des Projekts zum einen in den Besonderheiten der Überlieferungssituation mittelalterlicher Lyrik mit ihren Herausforderungen (breite und variante Überlieferung) und zum anderen in den Ansprüchen der Gattung des späten Sangspruchs und Meistergesangs an die Formvollendung der Texte.

Mehrfachüberlieferungen mit wandernden Versen und Strophen sowie Kompositlieder, wie im Korpus des Sangspruchdichters Regenbogen gegeben, stellen ihre Editorinnen und Editoren vor besondere Aufgaben, die zum einen in der Überlieferungslage, zum anderen in der spezifischen Textualität der Liedproduktion begründet liegen. Holger Runow betont in einem Beitrag zur Clusterbildung in Editionen spätmittelalterlicher Lyrik, dass aufgrund dieser besonderen Überlieferungsbegebenheiten „den üblichen Vorgehensweisen – vom diplomatischen Abdruck über die mehr oder weniger vergleichende oder gar kritisch rekonstruierende Leithandschriftenedition bis hin zu aufwendigeren synoptischen Darstellungen – […] besondere Hindernisse entgegen[stehen].“[31] Die größten Herausforderungen stellen die zahlreichen einzelnen Strophen und (mehr oder minder festen) Strophenverbindungen dar, die in wechselnden Liedzusammenhängen wiederkehren können. Durch Kombination von bestehenden Strophen oder auch durch ergänzendes Zudichten werden immer wieder neue Liedeinheiten (Bare) geschaffen.[32] Diese Liedeinheiten sind dementsprechend nicht als Parallelüberlieferungen eines Liedes zu bewerten, haben aber ein so großes Maß an Überschneidungen, dass sie dennoch als zusammengehörig anerkannt werden müssen. Mit diesen Begebenheiten möglichst angemessen umzugehen, war und ist die große Herausforderung des Regenbogenprojekts. Um den Texten in den verschiedenen Strophenverbünden editorisch gerecht zu werden, wurde sich für eine hybride Lösung entschieden. Die Online-Ausgabe ist dabei Teil des LDM, das sich seit seinen Anfängen in stetem Wandel befindet, um immer wieder neue Features ergänzt wird und so als Paradebeispiel einer fluiden digitalen Edition gelten kann. Das relevanteste Kernstück der Ausgabe bildet das editorische Mehrschichtenmodell, das den Nutzerinnen und Nutzern die Ansicht einzelner Textzeugen und ihrer editorischen Erschließungsstufen (Transkription, normierte Editionsfassung, normalisierte Editionsfassung) sowie die Erstellung dynamischer Synopsen ermöglicht.[33] Seit einiger Zeit ist es zudem möglich, in den Synopsen Varianzen innerhalb der Paralleltexte sichtbar zu machen, was die nichtlineare Arbeit am Text, also das Querlesen zwischen den Textzeugen, weiter befördert und erleichtert. Konsequent verzichtet wird in der Edition dafür auf die Darbietung klassischer Variantenapparate, die als traditionelles Merkmal linearer Ausgaben (vor allem nach dem Leithandschriftenprinzip) erscheinen. Das LDM macht in seinem Gesamtaufbau möglich, was Holger Runow für die spätmittelalterliche Lyrik als Editionsweg vorschlägt: ein mehrschichtiges, sich ergänzendes Verfahren in drei Modulen; 1. die lineare, handschriftennahe Edition der einzelnen Handschriften mit direkten Verweisen auf die Parallelüberlieferung, 2. die Gerüstdarstellung synoptischer Schemata, die eine Orientierung in der Überlieferung erlauben, und 3. die synoptische sowie dynamische Darstellung der Paralleltexte.[34] Letzteres ist gerade in den komplizierteren oder stark überlieferten Fällen nicht vollumfänglich möglich. Zur Verdeutlichung der Komplexität sei ein automatisch erstelltes synoptisches Schema zu einem im Cgm 351 (BSB München) [m1] überlieferten Neunerbar (m1 Reg/LangT/199r 1–9) herangezogen. Es handelt sich um ein Kompositlied, das sich aus Strophen aus insgesamt vier weiteren Baren zusammensetzt. Aufgrund der starken Verästelung der Lieder enthält die Übersicht aber nur jene Texte, die direkte Parallelüberlieferung zum ausgewählten Lied aus m1 darstellen.[35] Die Gesamtüberlieferung kann nur durch den Abgleich der Schemata aller Einzellieder erschlossen werden.

Abb. 1: Unveröffentlichtes synoptisches Schema zu m1 Reg/LangT/199r 1–9.
Abb. 1:

Unveröffentlichtes synoptisches Schema zu m1 Reg/LangT/199r 1–9.

Die bunte Hinterlegung der Kästchen markiert die einander entsprechenden Strophen, wobei Teilentsprechungen nicht berücksichtigt werden können.[36] Die Menge an Überlieferungszeugen macht eine synoptische Edition aller Texte auf einen Blick unmöglich. Umso wichtiger ist die oben beschriebene dynamische Generierung der Synopsen, die eine Auswahl aus denjenigen Texten und Handschriften, die für das Forschungsinteresse der jeweiligen Nutzerin bzw. des jeweiligen Nutzers relevant sind, ermöglicht. Die einzelnen Editionstexte richten sich dabei streng nach den jeweiligen Handschriften, und auf Emendationen vor dem Hintergrund der Parallelüberlieferung wird verzichtet. Konjekturen erfolgen ausschließlich im Falle eindeutiger grammatischer Fehler;[37] inhaltliche Korrekturen werden nur selten vorgenommen und bedürfen einer ausführlichen Begründung im Apparat.[38] Eingriffe ‚metri causa‘ sind in der digitalen Ausgabe ausgeschlossen, wobei die Herstellung des Reims eine Ausnahme darstellt.

Für die geplante Printedition wurden die einzelnen Textzeugen nach den Kriterien ‚Alter‘ und ‚Qualität‘ bemessen, um liedweise je eine Handschrift als Editionstext wählen zu können, der auf Basis der übrigen Überlieferung emendiert und konstituiert werden kann. Der Aufbau der Printedition ist damit der einer üblichen Leithandschriftenedition, die den Text einer ausgewählten Handschrift bietet und die Überlieferung im Variantenapparat präsentiert. Auf Basis der Überlieferungsbefunde und in Anbetracht des großen Zeitraums, über den sich das Textkonvolut erstreckt, erschien eine Aufteilung in zwei Überlieferungsgruppen (I und II) sinnvoll. Gruppe I umfasst alle Lieder bis einschließlich der Kolmarer Liederhandschrift [k] (Cgm 4997, BSB München, um 1460), die für diese Gruppe als Leithandschrift dient.[39] Gruppe II umfasst alle Lieder nach der Kolmarer Liederhandschrift. Die Lieder der Gruppe II weisen weitaus weniger Parallelüberlieferung auf; sie sind darüber hinaus deutlich kohärenter überliefert und zeigen weniger Varianz.[40] Die Lieder bis zur Kolmarer Liederhandschrift scheinen hingegen noch deutlich von der Einzelstrophe des Sangspruchs geprägt zu sein, was ein höheres Maß an Variabilität bedingt – wie beim Phänomen der Einzelstrophen, die in unterschiedliche Liedzusammenhänge ‚wandern‘. Aufgrund der teils sehr großen Menge an Parallelüberlieferung sowie der großen Varianz bleiben in der Printedition für Liedtexte, die der älteren Überlieferungsschicht (vor ca. 1460) zuzurechnen sind, die jüngeren Überlieferungszeugen (Handschriften mit einem Entstehungszeitraum nach ca. 1460) im Lesartenapparat unberücksichtigt. Diese Verschlankung des Lesartenapparats ist gerechtfertigt, da die Breite der Überlieferung online erschlossen ist und die Editionsrichtlinien mit Hilfe des Mehrschichtenmodells transparent offenliegen und, wie die Studie Nutt-Kofoths belegt,[41] Aufwand der Erstellung und Nutzen in keinem vertretbaren Verhältnis stünden. Im Falle jener Lieder, die ausschließlich in jüngeren Handschriften überliefert sind, lässt sich die gesamte, gut überschaubare Parallelüberlieferung im Apparat übersichtlich darstellen. Im Falle fassungskonstituierender Eingriffe in einzelne Strophen – also bei zielgerichteter lexikalischer, morphologischer oder semantischer Veränderung – wird die fassungsrelevante Einzelstrophe typografisch hervorgehoben in den Apparat gesetzt – gleiches gilt für abweichende Strophenteile. Generell dient die Online-Ausgabe der edierten Strophen als Rechtfertigung, in den Leithandschriftentext der Printausgabe tiefergehend einzugreifen, als dies in einer reinen Printedition statthaft erschiene. Vor dem Hintergrund, dass online auch die Texte der Leithandschrift sehr handschriftennah wiedergegeben sind, wird der Text der Printausgabe metrisch bereinigt. Neben eindeutigen grammatischen Fehlern werden die Texte auch inhaltlich korrigiert, sofern die Parallelüberlieferung dies als angemessen erscheinen lässt. Im Falle stärkerer Textprobleme, die auch nicht durch Emendation geheilt werden können, oder in Fällen von erwiesenem Textausfall wird konjiziert. Das Ziel der Printausgabe ist jedoch nicht, einen möglichen Archetypus oder einen Autorstil zu rekonstruieren, sondern den Kunstanspruch des Meistergesangs, der sich ganz wesentlich durch metrische Perfektion auszeichnet, erfahrbar werden zu lassen. Die Texte der Printausgabe sind in der überlieferungsnahen Online-Ausgabe nicht vertreten, deren Editionsrichtlinien die Rekonstruktion einer formalen Idealisierung der dargebotenen Texte widerspricht. Printedition und Online-Ausgabe wollen damit mit ihren abweichenden Editionsmethoden und -richtlinien zum einen unterschiedliche Erkenntnisinteressen befriedigen, zum anderen ermöglichen sie unterschiedliche Formen der Textarbeit. Durch die Anbindung an das LDM bleiben zumindest die Onlinetexte zudem insofern fluide, als dass auch nach der Veröffentlichung in der Datenbank weiter Korrekturen vorgenommen werden können.

Online erschienen: 2025-09-27
Erschienen im Druck: 2025-09-24

© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Was, wie und für wen wollen wir in Zukunft (noch) edieren?
  3. Einmal alles, bitte!
  4. Unfeste Buchstaben
  5. Was ist ein philosophischer Kommentar?
  6. Über Transformationen bei der Edition von Musik des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Telemann-Edition
  7. Integration als Aufgabe der Goethe-Edition
  8. Die HKA als Wissensspeicher: Von der analogen zur digitalen Marburger Büchner-Ausgabe – Ausblick und Rückblick
  9. Mikrogenese in der digitalen Edition
  10. Edition ohne Transkription, oder: Wie wollen wir künftig große Briefkorpora erschließen?
  11. Kommentierung als Aufgabe der digitalen Briefedition
  12. Von der Forschung zur Vermittlung: Die digitale Franz und Franziska Jägerstätter Edition
  13. Kants Anteil an der Drucklegung der ‚Streitschrift gegen Eberhard‘ (1790, 1791)
  14. Berichte
  15. Textual Scholarship, Artificial Intelligence, Corpora and Intelligent Editions (ESTS 2024). Tagung an der Eötvös Loránd University, Budapest, 2.–4. Oktober 2024
  16. Textkritik, Metrik und Paläographie im Leben und Werk von Paul Maas. Tagung an der Georg-August-Universität Göttingen, 19. November 2024
  17. Editionen frühneuzeitlicher Texte im 21. Jahrhundert – Herausforderungen und Möglichkeiten. Workshop an der Universität Heidelberg, 20./21. Februar 2025
  18. Der wissenschaftliche Ort des Editorischen. Disziplinäre, interdisziplinäre und transdisziplinäre Perspektiven auf die Editionswissenschaft(en). Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal, 25.–27. Februar 2025
  19. Lücken-Texte. Editorische Erschließung verschollener Briefe. Internationale Tagung am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, 19.–21. März 2025
  20. Digitale Quelleneditionen und KI: Aktuelle Tendenzen, Herausforderungen und Probleme. Workshop an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 10./11. April 2025
  21. Rezensionen
  22. Sophia Victoria Krebs: Briefe lesen. Semiotik, Materialität und Praxeologie im deutschen Brief von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2024, 588 S.
  23. Provenienz. Materialgeschichte(n) der Literatur. Hrsg. von Sarah Gaber, Stefan Höppner und Stefanie Hundehege. Göttingen: Wallstein 2024 (Kulturen des Sammelns. Akteure – Objekte – Medien. 9), 375 S., auch digital im ‘open access’ zugänglich: https://doi.org/10.15499/kds-009.
  24. Andreas Gerards: Dichten und Denken – Der „Gang“ ins Wirkliche. Studien zur Poetologie von Ernst Meisters Metapoesie. Baden-Baden: Rombach 2023, 553 S.
  25. Anschriften
  26. Anschriften
  27. Formblatt zur Einrichtung satzfertiger Manuskripte
  28. Formblatt zur Einrichtung satzfertiger Manuskripte
Heruntergeladen am 7.12.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/editio-2025-0002/html
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