Der Markt als Bildung zur Gerechtigkeit?
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Marina Martinez Mateo
Reviewed Publication:
Kuch Hannes. Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus. Frankfurt am Main und New York: Campus, 2023, 561 S.
Hannes Kuchs Studie Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus ist in mindestens zwei Hinsichten ein bemerkenswertes Buch. Erstens, weil es in einer Zeit, in der die Vorstellung eines möglichen Ausbleibens der Apokalypse der einzige gerade noch (wenn überhaupt) denkbare utopische Horizont zu sein scheint, ein gewisses Maß an Optimismus oder Trotz erfordert, um sich an die offensive Ausformulierung eines utopischen Entwurfes zur Überwindung des gegenwärtigen Kapitalismus zu wagen: Für eine wirkmächtige Kritik der Verhältnisse, so heißt es gleich auf der ersten Seite, sei es von Bedeutung, „Wissen um machbare Alternativen“ auszubilden (9) und sich eben nicht der perzipierten Alternativ- und Ausweglosigkeit hinzugeben – so verteidigt Kuch seinen Vorstoß. Dabei orientiert er sich an Erik Olin Wrights Begriff der „realen Utopie“, um zu betonen, dass es ihm nicht um die Formulierung leerer Luftschlösser geht, sondern um eine Verankerung von Utopie in konkreter Gesellschaftsanalyse und Sozialkritik (25). Und doch plädiert Kuch dafür, die konkrete „Umsetzbarkeit“ dieser Utopie, d. h. die Frage nach der „politischen Transition“ explizit auszublenden: „Denn die Ansprüche in Bezug auf eine bessere Gesellschaft sollten sich nicht vom Stand der gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse einschränken lassen“ (16). Bedenkt man, dass sich die gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse bei einem unaufhaltsam scheinenden Aufstieg autoritärer, faschistoider Kräfte jedem Versuch politischer Gestaltung so massiv aufdrängen, dass man sich fragen muss, was noch an realer Utopie bleibt, wenn sie ausgeblendet werden, so scheint sich der Autor hier offenbar auf dünnes Eis zu begeben. Das ist Kuch sehr wohl bewusst und doch lässt er sich von der gegenwärtigen allgemeinen Schockstarre nicht beirren – darin liegt schon eine erste Leistung seines Buches.
Zweitens aber handelt es sich um ein bemerkenswertes Buch, weil Kuch sein Projekt anhand von Autoren durchführt, die wirklich frei von jedem Radical-Chic-Verdacht sind, die also nicht direkt oder zumindest nicht in erster Linie für große umwälzerische Impulse bekannt sind: Rawls und Habermas – und vor allem Hegel. Die Annahme ist dabei, dass wir anhand von Hegels Begriff der Sittlichkeit ein Verständnis des Verhältnisses von Markt und Demokratie gewinnen können, das es erlaubt, die enorme Bedeutung ökonomischer Strukturen für die Möglichkeiten politischer Gestaltung in den Blick zu bekommen, bilden sie doch die „materialistischen Formierungsbedingungen eines Ethos demokratischer Gerechtigkeit“ (21): Ein anspruchsvoller Begriff von Demokratie oder Gerechtigkeit könne nicht – dies bringt Kuch mit Hegel gegen Habermas und Rawls in Anschlag – an der „Sphäre“ der Politik ansetzen, sondern müsse den Markt als einen Ort begreifen, in dem „demokratische Dispositionen eingeübt werden“ (10). Diese Perspektive des Einübens ist für Kuch zentral: Darin erscheint der Markt als (eine) Sphäre der „Bildung“, da er zur „Transformation des natürlichen, partikularen Willens zu einem vernünftigen freien Willen, der dazu fähig und bereit ist, allgemeine Ansprüche zu rechtfertigen und sich an begründete Ansprüche zu binden“ (30), beiträgt oder beitragen sollte. Hierin liegt, wie sich im weiteren Verlauf der Lektüre zeigen wird, eine der starken Setzungen des Buches. Sie erlaubt es dem Autor, auf der einen Seite ökonomische Strukturen, Dynamiken und Prozesse im Kapitalismus als demokratiezersetzend zu begreifen, andererseits aber auch, die „immanenten Vernunftpotenziale“ (23) des Marktes herauszuarbeiten und auf deren Grundlage die fundamentale Transformation kapitalistischer Ökonomie vorzuschlagen. Diese doppelte Perspektive steht im Zentrum von Kuchs utopischem Entwurf, den er – einen Begriff Rawls’ übernehmend – „liberalen Sozialismus“ oder „Marktsozialismus“ nennt. Damit ist ein Sozialismus gemeint, der „keinen zentral gesteuerten Staatsbesitz an[strebt], sondern eine dezentrale, lokale Kontrolle über geteiltes Kapital“ (10). Liberal ist dieser Sozialismus, „weil er am Wert individueller Freiheit und liberaler Grundrechte festhält“ (ebd.) – d. h., den Markt als Sphäre der Bildung vor seinen kapitalistischen „Pathologien“ rettet.
Dieses hier nur vorläufig skizzierte Anliegen wird von Kuch mit einer gewissen Nüchternheit und beeindruckender Ruhe auf gut 500 Seiten in vier Hauptteilen ausgeführt. Am Anfang (I) steht die Abgrenzung gegenüber einem Marktbegriff, der – so in der Figur der unsichtbaren Hand – aus sich selbst heraus „für eine Konvergenz von Eigenwohl und Allgemeinwohl sorgt“ (43). Diese Sicht auf den Markt wird auch Rawls’ Gerechtigkeitstheorie und Habermas’ Demokratietheorie zugesprochen, die zwar beide davon ausgehen, dass der Markt politisch reguliert werden muss, wenn seine Produktivität allen zugutekommen soll, diese Regulierung allerdings äußerlich begreifen und damit von einer moralischen „Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Politik, zwischen Markt und Demokratie“ (54) ausgehen. Dadurch aber blieben die „marktinternen Praktiken und Dispositionen“ (55) demokratie- und gerechtigkeitstheoretisch unberücksichtigt. Insbesondere gilt Kuchs Unbehagen der Ausblendung der subjektiven Dimension des Marktes: Die Subjektivität von Marktakteuren stehe – unter gegenwärtigen Verhältnissen – in massiver Spannung zu den Anforderungen einer moralischen oder politischen Subjektivität, die „bei der Verständigung über Gerechtigkeitsregeln eine weitreichende Bereitschaft zur Einigung auf und Bindung an die Gerechtigkeitsgrundsätze“ besitzen müsse (62). Die Arbeitsteilung von Markt und Demokratie impliziere auf subjektiver Ebene ein Doppelwesen von ökonomischer und politischer Subjektivität, das auseinanderzufallen drohe. Dem setzt Kuch (II) seine Lektüre Hegels (insbesondere der Rechtsphilosophie) entgegen, in der mit dem Begriff der Sittlichkeit der Markt als ein Ort der Subjektwerdung und Bildung erscheint – als ein Ort also, dessen Praktiken und Strukturen auch in der Hinsicht beurteilt und kritisiert werden müssen, welche Subjekte sie hervorbringen. So erscheint der Markt nicht mehr als das Andere der Politik, sondern kann als materielle Bedingung demokratischer (oder, je nachdem, undemokratischer) Subjektivität verstanden werden. Hierbei tritt besonders die Institution der Korporation hervor, die Hegel (in Kuchs Lektüre) als zentrale Institution zum Erlernen eines demokratischen Ethos innerhalb der Sphäre der Ökonomie begreift. Mit dieser theoretischen Rahmung ausgestattet, schreitet Kuch (III) in die Gegenwart, um einerseits normativ herauszuarbeiten, welche Maßgaben für heutige versittlichende ökonomische Institutionen erforderlich wären, wie also Hegels Idee der Korporation „in ihre Bestandteile zerlegt und in überarbeiteter Form neu zusammengesetzt werden“ kann (250). Andererseits geht es ihm hier darum, die gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse als „sittliche Pathologien der kapitalistischen Gesellschaft“ auszuweisen, d. h. als Gefährdungen der Sittlichkeit, die darin auch die praktischen und subjektiven Bedingungen demokratischer Gerechtigkeit untergraben. Diese drei Teile bilden die Grundlage, um abschließend (IV) zu fragen, welche „Alternativen zum Kapitalismus“ erstrebenswert wären, sodass hier (und erst im zweiten Teilkapitel dieses abschließenden Teils) Kuchs eigener Vorschlag eines liberalen Sozialismus genauer eingeführt und gegen das alternative – ebenfalls Rawls entnommene – Modell einer „Eigentümerdemokratie“ verteidigt wird.
Im Folgenden möchte ich Kuchs sittlichkeitstheoretische Sicht auf den Markt, die diesen zu einer zentralen Institution der Bildung macht, vorstellen und auf dieser Grundlage seinen Vorschlag zur Umstrukturierung des Marktes diskutieren. Dazu werde ich zunächst Kuchs Interpretation von Hegels Idee der Korporation ins Zentrum rücken, um anschließend deren Aktualisierung und Erweiterung im Sinne einer universalisierten Genossenschaftsökonomie bzw. eines liberalen Sozialismus begreiflich machen zu können. Zum Abschluss werde ich auf einige der Fragen eingehen, die für mich mit dieser Rahmung und in diesem Vorschlag offenbleiben.
Die Ökonomie anhand von Hegels Rechtsphilosophie sittlichkeitstheoretisch zu betrachten, bedeutet für Kuch – wie bereits angedeutet –, sie als eine Institution der Bildung zu begreifen (Kuch sagt sogar: eine der zentralen Institutionen der Bildung). Das ist eine starke und voraussetzungsreiche These. Was bedeutet sie? Zunächst hat sie eine normativ anspruchslose, eher deskriptive, Bedeutung: „Ökonomische Institutionen haben aufgrund ihres existenziellen Gewichts und ihrer identitätsformierenden Macht einen durchdringenden Charakter, eine umfassende Prägekraft“ (182). Ob im Guten oder im Schlechten: Ökonomie nimmt einen zentralen Stellenwert in unserem Alltag ein – sei es in der Rolle von Arbeitenden oder von Konsumierenden, von Anlegenden oder Verschuldeten, von Mietenden oder von Wohnungsbesitzenden oder von Wohnungslosen. Wenn wir davon ausgehen, dass Subjekte sich durch soziale Interaktionen, Rollenerwartungen und Zuschreibungen konstituieren, ist es nicht weit hergeholt anzunehmen, dass dies auch – und vielleicht sogar in besonderem Maße – im Rahmen ökonomischer Interaktionen geschieht. Doch für Kuch impliziert diese Annahme nicht nur, dass wir den Kapitalismus und seine ökonomischen Institutionen dafür kritisieren müssen, welche Subjekte darin hervorgebracht oder begünstigt werden (etwa entfremdete, egoistische, einsame, vor Druck zerbrechende, ressentimentgeladene Subjekte), sondern dass wir einen normativ anspruchsvolleren Bildungsbegriff als Maßstab zur Bewertung und Neugestaltung ökonomischer Institutionen heranziehen können. Wenn der Ökonomie ohnehin starke subjektformierende Einflüsse zugesprochen werden müssen, dann sollten diese doch dergestalt sein, dass sie einer demokratischen Gerechtigkeit nicht entgegenstehen, sondern sie stützen. Darin könnte (oder, im Argument von Kuch: sollte) ein erster Ausgangspunkt für eine reale Utopie zur Überwindung des Kapitalismus und seiner Subjektformen liegen: Indem wir die „moralischen Habitusformen“ (90) herausarbeiten, die sich in ökonomischen Institutionen realisieren könnten, können wir die Transformation der Ökonomie von diesen Potentialen aus formulieren, also ausgehend von der Frage, was es bräuchte, um sie tatsächlich realisieren zu können. Ökonomische Institutionen sollten aus dieser Perspektive nicht nur möglichst gerecht strukturiert sein, sondern haben auch die Aufgabe, zur konkreten Herausbildung eines Gerechtigkeitssinns beizutragen.
Dass die Leistung einer solchen „Bildung zur Gerechtigkeit“ ein Anspruch ist, der dem Markt gegenüber überhaupt plausiblerweise angelegt werden kann, entnimmt Kuch relativ unvermittelt Hegels Sittlichkeitsbegriff: „Sittliche Institutionen sind […] vor allem Instanzen der Bildung: Sie leisten die Herausbildung eines verkörperten, lebendigen Ethos demokratischer Gerechtigkeit“ (91). Die bürgerliche Gesellschaft bildet – neben Familie und Staat – eine der drei „Sphären“ der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie und ist, wenn sittliche Institutionen eine solche Herausbildung leisten sollen, unmittelbar mitgemeint. Sie ist (als Ort einer marktförmig strukturierten Ökonomie) insofern nicht nur zur Sicherung von Lebensunterhalt, sondern auch zur Ermöglichung eines „lebendigen Ethos demokratischer Gerechtigkeit“ erhaltenswert – auch wenn dies gerade nicht bedeutet, dass sie in ihrer gegebenen Form erhaltenswert sei. Warum sollte das aber so sein? Warum ist die Herausbildung eines sogenannten Ethos demokratischer Gerechtigkeit gerade in der bürgerlichen Gesellschaft zu suchen? Den ersten Grund dafür sieht Kuch in der (im anspruchsvollen Sinn) subjektformierenden Kraft von Arbeit. Durch Arbeit wird nicht nur (so Hegels berühmte Beschreibung) der bearbeitete Gegenstand transformiert: Auch das arbeitende Subjekt transformiert sich selbst. „Der Prozess der Verarbeitung erfordert einen Aufschub der unmittelbaren Begierde, aber das Resultat des Arbeitsprozesses bietet eine neue Art der Befriedigung“ (183). Dies ist auch für eine Bildung zur Gerechtigkeit relevant: „Denn jedes selbstbestimmte Handeln erfordert eine reflexive Distanz zu den unmittelbaren Impulsen und Neigungen, und das gilt erst recht für die Fähigkeit zur Bindung an allgemeine Normen“ (184). Zudem erfordert Arbeit (besonders in „modernen“ arbeitsteiligen Arbeitsprozessen) Kooperation – das heißt, sie setzt die anerkennende und aufeinander bezogene, rücksichtnehmende Interaktion von Arbeitenden voraus. Darin liegt etwas, das dem klassischen Bild eines auf sein eigenes Interesse bedachten, in sich abgeschlossenen Homo oeconomicus entgegensteht und gewissermaßen als demokratische Ressource gegen diesen hervorgeholt werden könnte.
Kuch geht allerdings noch weiter: Nicht nur die Tätigkeit der Arbeit soll demokratisch nutzbar gemacht werden können, sondern auch die Form des Marktes. Der Markt selbst soll eine utopische Dimension besitzen, die es im Sinne einer „demokratischen Gerechtigkeit“ zu stärken gilt. Hier folgt Kuch Hegel darin, dass der „Sinn für ‚Entzweiung‘“ in der bürgerlichen Gesellschaft „eine der wesentlichen Errungenschaften der Moderne“ ist: „Der Markt ermutigt zur Loslösung aus substanziellen Gemeinschaftsformen wie derjenigen der Familie“ (194). Damit wird angenommen, dass der Markt – trotz einer „unpersönliche[n], ‚sachliche[n]‘ Abhängigkeit aller von allen“ (196) – direkte Abhängigkeiten reduziert und Einzelnen erst die freie Herausbildung eines Eigenen, das Finden eigener Standpunkte, eine gewisse persönliche Unabhängigkeit ermöglicht. Zugleich produzieren arbeitsteilige Gesellschaft und marktförmige Ökonomie neue Abhängigkeiten, die umgekehrt eine bloße Abschließung im Individuellen verhinderten: Um eine erfolgreiche Marktteilnehmerin zu sein und etwa die richtigen Produkte auf den Markt zu bringen, müsse man sich schließlich in die Wünsche und Bedürfnisse der anderen einfühlen können – unabhängig davon, ob einem diese anderen sympathisch sind oder einem nahe stehen.
Die universellen Strukturen des Marktaustausches begünstigen die Idee der allgemeinen Gleichheit von Personen, da der Marktaustausch dazu anhält, Präferenzen und Wünsche von Menschen zu bedienen, ganz unabhängig davon, ob sie politische Ansichten, den kulturellen Hintergrund, soziales Milieu, Geschlecht oder Verwandtschaftsbeziehungen mit ihnen teilen. (201)
Freilich nimmt Kuch nicht an, dass diese Potentiale des Marktes tatsächlich in seiner heutigen, gegebenen Form realisiert seien. Es handelt sich in seinem Verständnis vielmehr um „latente Möglichkeiten“, die durch das Marktgeschehen auch immer wieder unterminiert werden (203). Sie bilden die Grundlage für eine immanente Kritik des Marktes, die bei seinen uneingelösten Versprechen ansetzt und sich auf die Suche nach Institutionen und Formen zur Realisierung dieser Versprechen macht.
An dieser Stelle setzt die Idee der Korporation an, die Kuch bei Hegel findet und in der er eben einen solchen „uneingelösten transformativen Anspruch“ aufscheinen sieht (394): „Mit der Korporation sind arbeitsbezogene Vereinigungen gemeint, in denen sich Mitglieder eines Betriebs und einer Berufssparte genossenschaftlich organisieren, beispielsweise Bäcker:innen oder Schuhmacher:innen“ (215). Es handelt sich dabei um eine Art Berufsverband, der – insofern die Mitgliedschaft verpflichtend ist – all jene, die in einem bestimmten Berufszweig arbeiten, vereinen und die gemeinschaftliche Gestaltung der Arbeit ermöglichen soll. Dabei bezieht sich Hegel mit der Korporation auf keine real existierende Institution, sondern formuliert darin einen Vorschlag zur weitergehenden Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft und zeigt damit, dass er eine Umstrukturierung des Marktes für dessen „interne Versittlichung“ (216) für notwendig hält: „Die Handlungsorientierungen der Marktakteure sollen so verändert werden, dass diese in ihren Haltungen und Absichten zu einer bewussten Rücksichtnahme der Belange und Interessen anderer befähigt werden“ (ebd.). Wie genau leisten Hegels Korporationen dies?
Zunächst einmal sichern sie die grundlegende Subsistenz der Einzelnen, sodass diese dem Arbeitsmarkt gegenüber weniger ausgeliefert sind. Sie heben den Einzelnen aus seiner Isolierung heraus und verbinden ihn mit anderen. In Kuchs Ausdeutung heißt dies, dass die Arbeitenden in der Korporation einen „solidarischen Gerechtigkeitssinn“ (218) entwickeln. Die Korporation gilt ihm als Ort der Deliberation, in dem es etwa die Möglichkeit gibt, „sich über professionelle Normen (etwa zum Arbeitsschutz), Produktnormen (etwa Qualitätsstandards) oder Arbeitsstandards (etwa zu Arbeitszeiten) zu beratschlagen und Normen festzulegen“ (218–219). In dieser deliberativen Praxis können die Arbeitenden insofern – im direkten Zusammenhang mit ihren ökonomischen Tätigkeiten – Demokratie und Gerechtigkeit erlernen. Dies macht die Korporation für Kuch zu einer entscheidenden Inspiration für eine Versittlichung der Ökonomie, insofern hier „Menschen aus unterschiedlichen Milieus und Schichten, die zumeist in keinem naturwüchsigen (familiären) Zusammenhang zueinander stehen“, konkret zusammenkommen und über die Bedingungen eines guten Lebens debattieren (224).
Die Fragen, die sich Kuch im Anschluss an Hegel stellt, lauten demnach: Wie ließe sich so etwas wie die hegelsche Korporation aktualisieren? Woran könnte man dafür anknüpfen und wie könnte die Idee weitergesponnen werden, um daraus eine weitergehende Utopie zu formulieren, als sie bei Hegel zu finden ist? Wie ließen sich kapitalistische ökonomische Institutionen im Sinne der Korporation transformieren? Zur Beantwortung dieser Fragen findet Kuch sehr wohl Beispiele und Vorbilder innerhalb des existierenden Kapitalismus:
In Deutschland existiert in großen Aktienunternehmen die betriebliche Mitbestimmung für die Belegschaft; kollektive Tarifverhandlungen sind demokratische Transformationen des Marktes in einem korporatistischen Sinn; und inmitten vieler kapitalistischer Wirtschaftssysteme gibt es eine starke genossenschaftliche Unternehmenskultur. (313)
An diese Beispiele gelte es anzuknüpfen, um sie zur Utopie weiterzudenken und zu einer allgemeinen Umstrukturierung kapitalistischen Funktionierens fruchtbar zu machen. Dazu entwickelt Kuch drei normative Maßgaben: Die neuen, versittlichten, ökonomischen Institutionen sollen, erstens, „wirtschaftsinterne Gerechtigkeit ermöglichen“, d. h. durch die interne Strukturierung des Betriebs Ausbeutung verhindern; zweitens sollen sie „die demokratische Partizipation in wirtschaftlichen Institutionen garantieren“, d. h. deliberative Räume und Möglichkeiten innerbetrieblicher demokratischer Partizipation herstellen; und drittens solidarische Formen der Zusammenarbeit befördern (251). Diese drei Kriterien führen Kuch dazu, einen „genossenschaftsbasierten Marktsozialismus“ vorzuschlagen, einen Sozialismus also, der zwar an der Marktförmigkeit des Wirtschaftens festhält, aber doch „die soziale Einheit des Betriebs“ so umstrukturiert, dass sie auf der Grundlage „demokratische[r], solidarische[r] Selbstorganisation“ (230) funktioniert. Dadurch würde sich der Markt so fundamental verändern, dass seine Bildungspotentiale voll ausgeschöpft werden könnten. Dieser „neue“ sozialistische Markt sei gekennzeichnet durch den „Versuch, den Preismechanismus selbst zu vergesellschaften, Ausbeutungstendenzen jenseits der kapitalistischen Firma zu überwinden, Profitmaximierungstendenzen zurückzudrängen und die Marktkonkurrenz stärker einem ‚freundschaftlichen Wettstreit‘ anzunähern“ (462–463).
Obgleich verschiedene Modelle und Ausformulierungen der marktsozialistischen Idee eingeführt werden, steht bei Kuch konkret die Form der Genossenschaft im Zentrum – als „das Paradigma des geteilten Unternehmenseigentums“ (464). Hier ist „das betriebliche Eigentum insofern vergesellschaftet, als es durch die im Unternehmen Beschäftigten selbst zur Verfügung gestellt und von diesen gemeinsam kontrolliert wird“ (465). Ein genossenschaftsbasierter Marktsozialismus würde auf der Universalisierung der Genossenschaft beruhen, nach der Unternehmen grundsätzlich genossenschaftlich strukturiert wären, sodass „die Beschäftigten eine weitreichende kollektive Kontrolle über das gemeinsame Eigentum am Unternehmen“ besitzen würden (470). Inwiefern kann eine genossenschaftliche Umstrukturierung des Marktes dessen Versittlichung leisten? Anhand der drei oben eingeführten Kriterien hält Kuch Folgendes fest: Anstatt das Marktgeschehen extern zu regulieren oder zu begrenzen, verhindert die Genossenschaft Ausbeutung von innen her. Da alle Beschäftigten auch Eigentümer sind, gibt es keine Lohnarbeit und entsprechend keine direkten Abhängigkeiten, die betriebsinterne Ausbeutung im Sinn eines „unfaire[n] oder illegitime[n] Ausnutzen[s] der Schwächen anderer“ (35) ermöglichen würden. Außerdem impliziert die Tatsache, dass der genossenschaftliche Betrieb Gemeinschaftseigentum ist, dessen kollektive Ausgestaltung, das heißt „die verbürgte und regelmäßige Praxis der gemeinsamen Deliberation“ (485). Innerhalb des Betriebs könne man sich so im Geben und Annehmen von Gründen, also in einer „Praxis der Verallgemeinerung“ (486) üben, die zur Herausbildung einer demokratischen Subjektivität entscheidend sei. Drittens trage dies zur Förderung von Solidarität bei: Wenngleich Unternehmen ohnehin auf Kooperation unter den Arbeitenden angewiesen sind und „wechselseitige Verpflichtungen“ hervorbringen, werden diese „solidarischen Ressourcen“ in kapitalistischen Unternehmen ausgebeutet und ausgeschöpft, während sie in der Genossenschaft zur tatsächlich kollektiven Ressource werden können.
Es steht außer Frage, dass die Form der Genossenschaft einige kapitalistische „Pathologien“ abwenden kann und dass eine genossenschaftliche Umstrukturierung des Marktes einiges, was heute – wie schon zu Hegels Zeiten – in der Arbeitswelt schiefläuft, verbessern könnte. Die Frage, die sich hier stellt, ist nur: Geht der Vorschlag weit genug? Oder vielmehr: Was lässt er unberührt? So scheint mir die Annahme, dass das Kollektiveigentum in der Genossenschaft Ausbeutung verhindert, nicht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Ausbeutung vielleicht gar nicht immer nur als ein „unfaires oder illegitimes Ausnutzen der Schwächen anderer“ (35) auftritt, sondern ebenso auch als Selbstausbeutung, die auf Druck und (der häufig genug gerechtfertigten) Angst, zu versagen und in der Konkurrenz unterzugehen, beruht. Sofern die Form des Marktes – und damit auch die Form der Konkurrenz – erhalten bleibt, erschließt sich nicht, wie einer solchen auf Konkurrenz beruhenden Ausbeutung etwas entgegengesetzt werden kann. Auch die Genossenschaft muss schließlich auf dem Markt bestehen und sich in Konkurrenz gegenüber anderen Genossenschaften durchsetzen – und dies setzt Profitmaximierung voraus. Das nächstliegende Mittel dazu heißt: möglichst viel Arbeit bei möglichst geringen Ausgaben. Dies stellt sich als Sachzwang dar (bevor man in Insolvenz geht, wird man eben kollektiv entscheiden, eine zusätzliche, vielleicht gar unbezahlte Schicht einzulegen) und lässt sich nicht einfach durch betriebliche deliberative Gremien aushebeln. Dass umgekehrt Selbstverwaltung unter Bedingungen struktureller Zwänge (wie Haushaltsengpässe und Konkurrenzdruck) sich nicht unbedingt als Freiheitsgewinn darstellt, sondern eher als zusätzliche Last erscheint, kennen Leser:innen vielleicht aus universitären Gremien: Gehen erst Marktlogiken ins universitäre Funktionieren ein, drohen die Institutionen der Mit- und Selbstbestimmung zur bloßen Formalität zu verkommen, an denen die Fähigkeit der Teilnehmenden, ihre wechselseitige Abhängigkeit auf vernünftige Weise zu gestalten, schnell zu verpuffen scheint. So scheint mir doch, dass die Frage, inwiefern und in welchen Bereichen Marktlogiken nicht vielleicht doch besser ganz zurückgedrängt werden sollten, nicht allzu leicht unter dem Ideal von in einem sittlich umstrukturierten Markt verwirklichten Potentialen ausgeblendet werden sollte.
Dass Kuch primär auf die unausgeschöpften Potentiale des Marktes setzt, scheint mir vor allem der weitgehend unkritischen Anwendung von Hegels Sphärenmodell geschuldet zu sein, das (zumindest in Kuchs Deutung) gesellschaftliches Leben als einen Bildungsroman imaginiert: als einen Weg von der Familie (Abhängigkeit, Bindung) in die bürgerliche Gesellschaft (Unabhängigkeit, Anonymität) – hin zur erneuten Anerkennung von Abhängigkeit in verantwortlichem und sozial umsichtigen Verhalten. Doch nicht nur feministische Theoretikerinnen haben gezeigt, dass diese Aufteilung weniger einfach ist, als sie bei Hegel erscheinen mag. Ist familiäres Leben wirklich so eindeutig durch reine Geborgenheit und Nähe gekennzeichnet, dass es die bürgerliche Gesellschaft und die Kälte des Marktes braucht, um diese primäre Gemütlichkeit aufzubrechen? Ist nicht häufig auch schon die Kindheit von Brüchen und Erfahrungen der Entzweiung geprägt (um die banalsten zu nennen: Umzüge, Trennungen der Eltern, Eintritt in die Schule etc.), aus denen man lernen kann und die einen womöglich dazu befähigen können, sich sowohl als Individuum zu begreifen wie auch die Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse zu sehen? Das heißt nicht, dass es keine Freiheitspotentiale darin gäbe, die eigene Geburtsfamilie zu verlassen, doch ich bin nicht sicher, ob dazu unbedingt auf die marktförmige bürgerliche Gesellschaft zurückgegriffen werden muss. Umgekehrt stellt sich für mich die Frage, ob eine solche begriffliche Rahmung nicht-marktförmig vermittelte Arbeit, etwa Reproduktionsarbeit im privaten Raum, aus dem Bildungsroman der bürgerlichen Gesellschaft einfach ausnimmt. Für das Projekt Kuchs heißt dies auch, dass Reproduktionsarbeit aus der genossenschaftlichen Umstrukturierung ausgenommen ist, sodass sein liberaler Sozialismus nicht nur nichts an der Aufteilung von privater Reproduktionsarbeit und marktförmiger (öffentlicher) Arbeit ändert, sondern darüber hinaus auch die Hierarchisierung beibehält, die letztere als einen Zugewinn von Freiheit und einen Weg hin zum Staat begreift und aus ersterer ein Verbleiben im Besonderen und in „Naturwüchsigkeit“ macht.
Wenngleich dies sicher nicht im Sinne von Kuchs Ansatz ist, handelt es sich hierbei doch um blinde Flecken, die sich meinem Eindruck nach aus der unnötig begrenzenden Rahmung ergeben, die Hegels Sittlichkeitsbegriff – flankiert von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie und Habermas’ Theorie deliberativer Demokratie – produziert. Hier wäre es sicher fruchtbar, an Kuchs Ideen und Vorschlägen zur Genossenschaftsökonomie anzuknüpfen und sie anhand von Theorien und empirischem Material weiterzuführen, die andere soziale Verhältnisse und Institutionen in den Blick nehmen als die drei Autoren der Wahl.
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Das Theologisch-Politische in der Gegenwart, oder der Messianismus der Moderne
- Jürgen Habermas im Kontext von Biokonservativismus und Stammzellethik
- Schwerpunkt: Marx’ dialektischer Naturalismus (Thomas Khurana)
- Schwerpunkt: Marx’ dialektischer Naturalismus
- Marx’ Antwort auf den Mythos des Gegebenen
- Marx und vernünftiges Tiersein
- Gattungswesen, Stoffwechsel und Naturschranken
- Resurrektion der Natur
- Buchkritik
- Der Markt als Bildung zur Gerechtigkeit?
- Eine politische Epistemologie der Demokratie
- Rettungsfolter, Hilfspflichten und Schädigungen
- Die Natur als Rechtssubjekt?
- Nachruf auf Herbert Schnädelbach
- Redaktionelle Errata
- Wissenschaftsfreiheit und Wahrheit
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- Frontmatter
- Das Theologisch-Politische in der Gegenwart, oder der Messianismus der Moderne
- Jürgen Habermas im Kontext von Biokonservativismus und Stammzellethik
- Schwerpunkt: Marx’ dialektischer Naturalismus (Thomas Khurana)
- Schwerpunkt: Marx’ dialektischer Naturalismus
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