Startseite Ubuntu/Botho: Ideologie oder Versprechen?
Artikel Open Access

Ubuntu/Botho: Ideologie oder Versprechen?

  • Michael Onyebuchi Eze EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 9. Dezember 2020
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Abstract

This article investigates the concept of Ubuntu/Botho as a possible foundation for an African moral theory. It departs from an analysis of the idea of “human personhood” as a basis for moral agency, which is controversially debated within African philosophy. This notion of personhood relies on an understanding of the mutual interdependence of human beings. As a next step, the author critically assesses the discursive function of Ubuntu/Botho in African societies and its misuse by political elites as ideological cover for exclusionary and violent practices. By way of conclusion, the article stresses restoration as a key value associated with African humanism based on Ubuntu/Botho.

In der gegenwärtigen Debatte unter afrikanischen Wissenschaftlern über afrikanischen Humanismus ist es bisher noch nicht gelungen, überzeugende Argumente dafür vorzubringen, wie sich der von ihnen in Anschlag gebrachte Idealismus mit den inneren Widersprüchen versöhnen lässt, die in eben jenen afrikanischen Gesellschaften bestehen, die sich auf humanistische Prinzipien berufen. [1] Theorien zum afrikanischen Humanismus ignorieren die Kultur der Korruption und den tiefsitzenden Ethnozentrismus, der einen so signifikanten Teil der gegenwärtigen afrikanischen Subjektivität ausmacht. Ein neuer Ansatz könnte von einem umgreifenden historischen Ansatz und/oder dem Versuch einer Verschmelzung verschiedener Kulturen zu einer gemeinsamen kulturellen Erinnerung profitieren. Was bedeutet es beispielsweise für die Bewohner Subsahara-Afrikas, ein „Mensch“ zu sein? Verfügen wir über eine gemeinsame historische Referenzvorstellung, was einen Menschen ausmacht? Und wenn nicht, können wir dann überhaupt an einer einheitlichen Theorie eines „afrikanischen“ Humanismus festhalten? Diese und zahlreiche weitere, ketzerische Fragen stellen eine Herausforderung für den Diskurs über den afrikanischen Humanismus dar, der er sich stellen muss. Dieser Aufsatz soll zunächst diese Fragenkomplexe genau abstecken, um in einem zweiten Schritt der Frage nachzugehen, ob wir angesichts so vielschichtiger Herausforderungen überhaupt von einem afrikanischen Humanismus reden können.

Dafür möchte ich zunächst einen kurzen Überblick über die Debatten über das Konzept der „menschlichen Person“ unter zeitgenössischen afrikanischen Wissenschaftlern geben. Sobald wir die Kernelemente dieser Argumentation verstanden haben, werden wir auch die von dort ausgehende, generische Progression zu einer einheitlichen afrikanischen Erinnerung besser verstehen. Denn wenn wir uns über das Konzept der „menschlichen Person“ nicht einigen können, wie können wir dann in Anspruch nehmen, über eine eigenständige afrikanische Version des Humanismus zu verfügen? Im Folgenden werde ich eine Humanismustheorie präsentieren, die sich auf die unter der bantusprechenden Bevölkerung verbreitete Vorstellung der „menschlichen Person“ stützt. Diese Theorie ist nicht frei von epistemologischen Kontroversen. Einem genuin afrikanischen Humanismus, der demgemäß auf der normativen Konzeptualisierung eines Menschen als Person im afrikanischen Kontext beruhen müsste, fällt dann die Aufgabe zu, diese Kontroversen anzusprechen und zu transzendieren.

1 Die Debatte über die „menschliche Person“ (human personhood) in der afrikanischen Philosophie

Unter den verschiedenen Ethnien in Subsahara-Afrika gibt es ein weites Spektrum an Vorstellungen davon, was eine „menschliche Person“ ausmacht. Der Verstehensprozess, der uns zu einem Verständnis eines typisch „afrikanischen“ Humanismus führen könnte, erfolgt am besten schrittweise, indem wir verschiedene symbolische Repräsentationen dessen, was eine „menschliche Person“ in verschiedenen Gemeinschaften in der Region Subsahara-Afrika ausmacht, durchlaufen. […]

Im heutigen Diskurs unter afrikanischen Intellektuellen darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, lassen sich grob zwei Ansätze unterscheiden, die ich den prozeduralen bzw. den noumenalen Ansatz der Selbstverwirklichung nennen möchte.

Der prozedurale Ansatz sieht den Status, eine „natürliche Person“ zu sein, nicht als bedingungslos gegeben an; der Mensch ist ein Wesen-im-Werden. Diese Sichtweise ruft verständlicherweise viele Fragen auf: Wann genau wird der Mensch zu einer vollwertigen Person, wann wird aus einem „Es“ ein Subjekt? Und auf welche Weise, in welchem Kontext kann diese Subjektivität wieder verloren gehen? Es ist daher kein Zufall, dass diese Sichtweise folgende Fragen aufwirft: Wann wird man aus einer afrikanischen Sicht zu einem menschlichen Wesen, beziehungsweise wann vollzieht man die Metamorphose eines „Es“ zu einem menschlichen Subjekt?

Die prozedurale Argumentation beruht üblicherweise auf der Annahme, in einer typischen afrikanischen Gesellschaft werde der Status, eine Person zu sein, durch eine erfolgreiche Integration in die Gemeinschaft erlangt oder erworben (mit Betonung auf erfolgreich). Aber Mensch zu sein ist nicht nur ein Prozess. Eine natürliche Person zu sein ist auch eine Qualität. Daher ist es auch möglich, diese (besondere) Qualität einzubüßen und zu einem Nicht-mehr-Menschen oder „Es“ zu werden. Doch wie lautet das Kriterium, an dem diese „Qualität“ des Menschseins bemessen werden kann? Als Beleg für diese Position werden oft anthropologische Beobachtungen herangezogen, die mit leichten Variationen in zahlreichen afrikanischen Gemeinschaften zu finden sind. Verschiedene Ansätze haben sich hier miteinander verbunden. Ich möchte zwei Autoren vorstellen, deren Überlegungen zu diesem Punkt substantielle Debatten hervorgerufen haben: Ifeanyi Menkiti und Kwasi Wiredu.

Menkiti extrapoliert aus einer Untersuchung afrikanischer Sprichwörter, Redensarten und anthropologischer Beobachtungen die Konklusion, dass im traditionellen Afrika das Konzept der Person als eine Qualität angesehen wurde, die durch eine Weiterentwicklung erlangt werden muss. In seinem einflussreichen Essay „Person and Community in African Traditional Thought“ (1984) präsentiert Menkiti eine Überlegung, die seither in der afrikanischen Philosophie als „radikaler Kommunitarismus“ firmiert. Nach dieser Überzeugung erlangt das Individuum erst durch die Gemeinschaft seine eigentliche Menschlichkeit:

Für die Afrikaner hat die Realität der kommunalen Welt Vorrang vor der Realität der individuellen Lebensgeschichte […] Und dieser Vorrang ist nicht nur ontologisch gemeint, er betrifft auch den epistemologischen Zugang. Nur weil es in einer durch alle Zeit beständigen menschlichen Gemeinschaft verwurzelt ist, lernt das Individuum, sich selbst als Mensch wahrzunehmen. Indem er die Gemeinschaft als eine lange vor ihm bestehenden Tatsache der psycho-physischen Welt kennenlernt, erkennt er auch sich selbst als dauerhaftes, mehr oder weniger beständiges Faktum in dieser Welt […] Dass der Status, eine vollständige Person zu sein, einem nicht einfach zu Beginn des Lebens geschenkt, sondern erst erlangt wird, wenn man fester Bestandteil einer Gesellschaft geworden ist, weist deutlich darauf hin, dass ein Individuum umso mehr Person ist, je älter es wird. [2]

Als Beweis für diese Behauptung wird oft angeführt, dass in Afrika der Tod eines Kindes mit weniger Kummer begleitet wird als der eines Erwachsenen. Kinder sind Noch-nicht-Personen und haben daher nicht das gleiche Anrecht auf eine aufwändige Begräbniszeremonie, wie sie Erwachsenen zusteht (d. h. Personen). Doch auch ein Erwachsener kann die Eigenschaft, eine Person zu sein (personhood), einbüßen. Dies kann geschehen, wenn man den Grundsätzen der Gesellschaft, in der man lebt, zuwiderhandelt. Wenn ein „Erwachsener“ sich auf eine Weise verhält, die einem Erwachsenen nicht angemessen ist, verliert er an menschlicher Qualität. Es bedeutet aber auch, dass derjenige, der den psychosozialen und insbesondere den ökonomischen Erwartungen der Gesellschaft nicht gerecht zu werden vermag, Gefahr läuft, die Qualität seines Menschseins zu verlieren. Dies ist die Grundlage, auf der Menkiti seine Version eines afrikanischen Verständnisses der „menschlichen Person“ aufbaut, bei dem das Individuum vollständig durch die Gemeinschaft „geschaffen“ wird.

Wiredus philosophische Überlegungen über diesen Komplex beginnen mit der Annahme, dass in traditionellen afrikanischen Gesellschaften „das Konzept einer Person zuerst und vor allem ein soziales Konzept ist […] Personsein ist keine automatisch zugestandene Qualität des menschlichen Individuums, sie muss errungen werden.“ [3] Da für Wiredu ethische Werte und Handlungsweisen nicht universell, sondern relativ zu der kulturellen Gemeinschaft bestehen, in der sie eingelassen sind, muss die normative Essenz solcher ethisch gebotener Handlungen durch den Kontext der Gemeinschaft geprägt werden. Sie bildet den Kontext, innerhalb dessen die Selbsterfahrung des Individuums stattfinden kann, und repräsentiert gleichsam den Rahmen, in dem die Person ihre Subjektivität legitim ausleben kann. Insbesondere ist schon der bloße Versuch, das Individuum als „Person“ zu verstehen, oder der Prozess der Selbsterkenntnis, durch den ein Individuum sich als ein „Ich“ wahrzunehmen lernt, nur möglich, wenn zuvor die von der Gesellschaft gesetzten Zwecke als unhintergehbarer Ausgangspunkt anerkannt wurden.

Das noumenale Argument hingegen, zu dem ich tendiere, wird vertreten von Autoren wie Kwame Appiah, Richard Onwuanuibe und (mit Abstrichen) Kwame Gyekye. In einem Rückgriff auf Kant vertritt die noumenale Position die These, dass die afrikanische Subjektivität als Begriff gegeben sein muss. Demnach kann die Gesellschaft oder Gemeinschaft dem Einzelnen sein Menschsein weder verleihen noch entziehen.

Zwar bestätigt die Gemeinschaft dem Einzelnen sein Menschsein, die Eigenschaft, ein Subjekt zu sein, kann hingegen nicht als Qualität erworben werden; daher ist auch das Individuum nicht ein „Wesen-im-Werden“, sondern von Geburt an ein Subjekt. Das simple Faktum, dass wir als Menschen in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren werden, verleiht uns automatisch den Status, menschliches Subjekt zu sein – eine Qualität, die wir nicht verlieren können, nur weil wir mehr oder weniger gut in diese Gemeinschaft integriert sind. Unsere Bestimmung als Menschen leisten wir selbst und sie wird als besonderes Geschenk an die Gemeinschaft verstanden. Die Tugend, zu der wir der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet sind, ist unser einzigartiges Geschenk, durch das die Gemeinschaft wächst und gedeiht.

Viele afrikanische Intellektuelle haben über das Thema geschrieben. Die hier präsentierte Auswahl gibt lediglich die Argumente jener Autoren wieder, die eine breitere Diskussion über den Gegenstand angestoßen haben. Darüber hinaus könnte auch eine Auswahl nach repräsentativen Kriterien aufschlussreich sein, da Wiredu, Appiah und Gyekye der Volksgruppe der Akan [4] angehören, während Mentiki und Onwuanuibe Igbo [5] sind. Vor allem soll hier nicht der Eindruck entstehen, diese Wissenschaftler sprächen für ganz Subsahara-Afrika. Als wichtigsten Punkt können wir festhalten, dass das generelle Konzept der „menschlichen Person“ in subsahara-afrikanischen Kulturen zu dem philosophischen Tenor tendiert, den die Autoren hier entwickelt haben. Dabei gibt es selbstverständliche Unterschiede bezüglich dessen, welche Pflichten und welche Grenzen sich aus dem prozeduralen und dem noumenalen Verständnis jeweils ergeben. Diese Debatte steht auch im Zentrum der gegenwärtigen Diskussion über den afrikanischen Kommunitarismus und damit auch über die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Das Argument lautet hier, da die Idee der Person in Subsahara-Afrika sozial konstituiert wird, müsse das Wohl der Gemeinschaft dem des Individuums vorgeordnet sein. Dieses Primat des Gemeinwohls hat zur Folge, dass das individuelle Wohlergehen notwendigerweise von sekundärer Bedeutung ist. Individuelle Rechte können zur Durchsetzung gemeinschaftlicher Ziele hintangestellt werden. Meine Position ist eine andere. Ich möchte behaupten, dass die im afrikanischen Kommunitarismus konstitutive Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft nicht notwendigerweise auf eine so radikale Dichotomie hinauslaufen muss, die sich bei diesen Autoren als geradezu ontologischer Dualismus präsentiert. An anderer Stelle habe ich bereits dafür plädiert, diese Beziehung als gleichberechtigt zu betrachten: Weder die Gemeinschaft noch das Individuum gehen einander voraus. [6] Wenn wir diese fundamentalen Meinungsunterschiede jedoch einmal beiseitelassen, könnten wir vielleicht doch ein allen gemeinsames Verständnis entwickeln, aus dem heraus die Vision eines afrikanischen Humanismus artikuliert werden soll. Dafür werde ich ein in den Bantusprachen geläufiges Begriffspaar – mit dem menschliche Wesen bezeichnet werden – untersuchen, das der Ausgangspunkt für diese gemeinsame Vision eines afrikanischen Verständnisses von Humanismus zu sein verspricht. Die hierin artikulierte Auffassung stimmt zudem mit dem von mir favorisierten noumenalen Verständnis überein, wonach die Eigenschaft, eine Person zu sein, dem Menschen von Geburt an zukommt und seine Subjektivität als Geschenk an die „Anderen“ in seiner Gemeinschaft verstanden wird.

Allgemein gesprochen kann, was als Ubuntu/Botho bekannt wurde, als eine Weiterentwicklung dessen betrachtet werden, was die Bantu [7] unter einem menschlichen Wesen verstehen. Die Shona bezeichnen eine Person als muntu (Singular) und vanhu (Plural). Die Zulu, Xhosa und Ndebele nennen eine Person im Singular umntu/umuntu und im Plural abantu. Bei den Sotho und Tswana wird eine Person muthu (Singular) bzw. bathu/batho (Plural) genannt. Das zunehmende Interesse im öffentlichen Diskurs am Konzept Ubuntu kann nicht isoliert von dem Versuch betrachtet werden, mit einer vermeintlichen Krise der Moderne umzugehen, die viele Gesellschaften im heutigen Subsahara-Afrika umtreibt. Gewöhnlich wird dabei das Argument vorgebracht, wonach die indigenen afrikanischen Gesellschaften gemäß einem kommunitaristischen Ethos verfasst gewesen seien: eine Lebensweise, die unter den Hammerschlägen der Moderne zertrümmert worden sei. Die Moderne habe diesen Kulturen einen abstrakten Individualismus aufgezwungen, der eine Gefahr für das soziale Geflecht traditioneller afrikanischer Gesellschaften darstelle.

Folglich, so das Argument, könne die Erneuerung afrikanischer Gesellschaften in der Gegenwart nur durch die Rückbesinnung auf traditionelle afrikanische Lebensweisen gelingen, wie sie etwa in den in Sotho-Tswana bzw. Zulu-Xhosa-Nbele geläufigen Aphorismen ausgedrückt wird: Motho ke motho ka batho babang bzw. Umuntu (umntu) ngumuntu ngabantu (Eine Person ist eine Person durch andere Personen). Diese Aphorismen fangen den symbolischen Gehalt des afrikanischen Humanismus insgesamt ziemlich gut ein. Sie verdeutlichen ein Konzept, das sowohl normativ wie auch evaluativ wirken kann. Die Idee vom Menschen als Person ist mit gewissen Normen befrachtet. Deshalb ist es möglich, Menschlichkeit einzubüßen. Er hat kein Ubuntu/Botho bedeutet, dass es ihm an Menschlichkeit fehlt (nicht, dass er sein Menschsein eingebüßt hat).

Der Satz „Der Mensch ist nur Mensch durch die anderen“ scheint auf die Affirmation einer vom Anderen abhängigen Subjektivität hinauszulaufen. Er besagt, dass unsere eigene Menschlichkeit durch die „Anderen“ konstituiert wird, durch ihre Verschiedenheit und Unverwechselbarkeit. Und diese Abhängigkeit von Anderen ist nicht durchweg abstrakt. Um Mensch zu sein, genügt es nicht, in einem passiven Verhältnis zu den Anderen zu verharren. Wir bedürfen, wie Thaddeus Metz und Joseph Gaie überzeugend dargelegt haben, einer Beziehung der kreativen Einlassung aufeinander: „In einer typisch afrikanischen Ethik besteht der einzige Weg, wie wir unsere Menschlichkeit entwickeln können, darin, sich auf eine positive Weise auf andere zu beziehen.“ [8] Das bedeutet im Umkehrschluss, dass, wenn meine Beziehung zu den „Anderen“ in einer von Ubuntu geprägten Gemeinschaft nicht als „positiv“ gesehen wird, sich meine Menschlichkeit dementsprechend vermindert. Hören wir dazu John Mbiti:

In der traditionellen Lebensweise existiert das Individuum nicht allein für sich, sondern nur gemeinschaftlich. Das Individuum schuldet seine Existenz den Anderen. […] Es ist ganz einfach Teil des Ganzen. Daher ist es die Gemeinschaft, die das Individuum hervorbringt, schafft oder produziert, denn der Einzelne ist abhängig von der Kooperation mit der Gruppe. […] Das Individuum kann daher nur sagen: „Ich bin, deshalb sind wir; und wir sind, deshalb bin ich. Das ist der Kardinalpunkt für das Verständnis der afrikanischen Sicht auf den Menschen. [9]

Diese berühmte Passage wird von afrikanischen Wissenschaftlern gern zitiert, wenn es um die Themen des afrikanischen Humanismus und Kommunitarismus geht. Noch überzeugender (und weniger problematisch) ist aus meiner Sicht Noah Komla Dzobos weniger bekannte Feststellung, dass auch der Wunsch nach einem harmonischen Leben mit Anderen nicht in einem Vakuum entsteht. Dieser Wunsch ist nur dann plausibel, wenn das Individuum anerkennt, dass „ich bin, deshalb sind wir; und wir sind, deshalb bin ich“. [10] Ich habe an anderer Stelle die totalitären Anklänge in Mbitis Ausruf kritisiert, die dazu geeignet scheinen, dem Individuum Autonomie gegenüber der Gemeinschaft abzusprechen. Weiter habe ich argumentiert, dass, selbst wenn die Gemeinschaft das Individuum formt, ein Mensch nicht vollständig von der Gemeinschaft abhängig ist, um den Status als vollständige Person zu erlangen. [11] Dennoch tendieren viele afrikanische Intellektuelle unter Bezugnahme auf Mbiti zu der philosophischen Überzeugung, dass das Individuum zur Gänze ein „Produkt“ der Gemeinschaft sei. [12] In ihrem Eifer, die Exzesse des westlichen Individualismus und der damit assoziierten Übel einzudämmen, haben sie die Vernachlässigung traditioneller afrikanischer Werte zugunsten fremder (westlicher) und metaphysischer Vorstellungen als Hauptursache für die Krisen im heutigen Afrika ausgemacht, weshalb die individuelle Autonomie regelmäßig das erste Opfer bei ihrem Versuch der Rückbesinnung auf afrikanische Werte wird.

Die oben erwähnte Meinungsverschiedenheit einmal ausgelassen, ist für den Kontext meiner Argumentation die Annahme relevant, wonach das „Ich bin“ normativ verfasst ist. Das Individuum erlangt ihre oder seine legitime Subjektivität durch die harmonische Beziehung mit anderen. Zu sein bedeutet, in einer Beziehung mit einem „Anderen“ zu sein. Wenn also beispielsweise während der Aufklärung die Würde des Menschen durch die Wiederentdeckung des Versprechens einer universellen Rationalität aus den Fesseln des finsteren Mittelalters befreit wurde, dann könnte ein ähnlicher Vorgang vor dem Hintergrund von Ubuntu/Botho nur durch die Wiederentdeckung der uns gemeinsamen Menschlichkeit erfolgen. Analog ließe sich behaupten: Wenn im aufklärerischen Denken die Würde der Menschen auf Basis einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft gedacht wurde, so betont Ubuntu/Botho, dass der Mensch nicht nur ein rationales Wesen, sondern auch durch den Grad seiner intersubjektiven (sozialen) Verflochtenheit bestimmt ist. Eine Person zu sein erschöpft sich somit nicht darin, die „Anderen“ wahrzunehmen. Es beinhaltet darüber hinaus Wertschätzung, Schutz und Bejahung ihrer jeweiligen Menschlichkeit – in Form einer kreativen und positiven Bezogenheit aufeinander. Sich diesem Bezugsrahmen zu widersetzen, kommt einer Verleugnung der eigenen Menschlichkeit gleich. Daher verlangt der entsprechende Verhaltenskodex von solch einem Individuum, jene Werte hochzuhalten, die die eigene intersubjektive Bezogenheit befördern, wie beispielsweise Sanftmut, Vergebung, Großherzigkeit, Höflichkeit, Freundlichkeit, Freigiebigkeit und Respekt. Dass ich ein muntu bin, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ich eine menschliche Person bin, die der Gegenwart Anderer bedarf, damit sie meine eigene Menschlichkeit bestätigen und vice versa. Diese gegenseitige Anerkennung steht am Beginn unserer Koexistenz und bildet den Kern des Ubuntu-Humanismus.

2 Ubuntu/Botho als Ethik des Zusammenlebens

Das Dasein für „Andere“ ist eine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Person. Sie beinhaltet eine proaktive Bezogenheit auf die „Anderen“ und vermittelt sich durch die Form, in der sich ein „Ich“ gegenüber einem Anderen ankündigt. Ich sehe den oder die Andere und bin dadurch verpflichtet, ihr oder sein Dasein anzuerkennen und sie nicht zu ignorieren. Ich begrüße sie und sage hallo als Zeichen, dass ich ihr Menschsein anerkenne. In einer traditionell afrikanisch geprägten Umgebung schauen dich die Leute oft böse an, wenn du sie nicht grüßt. Aber inwiefern können wir behaupten, dass es sich hierbei um ein speziell afrikanisches Phänomen handelt?

Es war mein erster Aufenthalt in Europa. Im Rahmen meiner Doktorarbeit hatte es mich nach Deutschland verschlagen. Den ersten Kulturschock von vielen erfuhr ich, als meine Versuche, andere Menschen zu grüßen, einfach ignoriert wurden. Einmal wurde jemand sogar richtig sauer, weil ich ihm einen guten Morgen wünschte. In dem Wohnhaus, wo ich wohnte, war es nicht üblich, Nettigkeiten auszutauschen. So lebte ich zwei Jahre lang in der schönen Stadt Essen, ohne meinen Nachbarn aus der Wohnung gleich nebenan je gesehen zu haben. Aber das war halt Essen… Bald darauf zog ich nach Oberpframmern, eine Gemeinde in der Nähe von München. In Oberpframmern erfuhr ich einen umgekehrten Kulturschock. Meine Nachbarn stürzten sich geradezu auf mich. Innerhalb einer Woche war ich mit jedem bekannt und wir teilten alles miteinander, vom „flüssigen Brot“ (Bier) bis hin zum wöchentlichen Grillabend. Die Atmosphäre war überaus freundschaftlich und zeugte vom Dasein füreinander. Wir hatten wenig gemeinsam außer unserer Menschlichkeit, die uns alle verband. Dennoch erfanden wir für uns eine Kultur der Freundschaft und mit der Zeit hörte ich auf, mich als Afrikaner zu sehen, obwohl ich der erste und einzige Schwarze in dieser Gemeinde war. Sie sahen mich nicht als schwarzen Mann und ich sie nicht als Weiße. Wir waren einfach Kumpel. Und das war schön so, sehr schön sogar.

Dieser Erfahrungsbericht widerspricht der herrschenden Überzeugung, wonach westliche Gesellschaften vollkommen individualistisch sind, während afrikanische kommunitaristisch organisiert sind. Meine Erfahrung in Oberpframmern unterscheidet sich kaum von einer beliebigen anderen, tief menschlichen Erfahrung, wie ich sie etwa in meinem Heimatdorf in Afrika hätte machen können. Es geht, mit Martin Bubers Worten gesprochen, hier wie dort um die Anerkennung eines „Anderen“ als ein „Du“ und nicht bloß als ein „Es“. Wenn ich mich dem Anderen gegenüber indifferent verhalte, verweigere ich uns die Möglichkeit, unser Menschsein miteinander zu teilen. Mit diesem Verhalten scheitere ich auch in meinem eigenen Personsein. […]

3 Ubuntu als Ideologie?

Bis hierher habe ich einen Überblick über die philosophischen Strömungen gegeben, die den gegenwärtigen Diskurs über afrikanischen Humanismus dominieren. Ich selbst habe mich für die Autonomie des afrikanischen Subjekts ausgesprochen. Obwohl ich harmonische Koexistenz als unumstößliche Voraussetzung für unser Zusammenleben betrachte, glaube ich nicht, dass die Suche nach einer harmonischen, interpersonalen Beziehung die individuelle Freiheit untergraben sollte. Die Tatsache, dass das Gute, dem wir uns verschreiben und auf das wir uns gemeinschaftlich beziehen, auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist, bedeutet zugleich, dass die Individuen in dieser Gemeinschaft selbst Verkörperungen dieses Guten sind. Indem wir unsere Einzigartigkeit erkennen, erfahren wir gleichzeitig unsere eigenen Grenzen als menschliche Wesen, denn keine zwei Menschen sind sich vollkommen gleich. Man könnte den Aphorismus „Eine Person ist eine Person nur durch die Anderen“ also erweitern zu: „durch die Andersartigkeit der Anderen“. [13] […]

Aus meiner Sicht ist das Argument, demzufolge die Gemeinschaft die Person vollständig hervorbringt, problematisch. Doch könnte uns eine moderate Version dieser Annahme erlauben, die Abhängigkeit von den Anderen durch die Linse unseres beschränkten Daseins als Menschen zu betrachten: Wir sind unvollkommen und daher brauchen wir das komplementäre Geschenk anderer menschlicher Wesen an uns, mit denen wir eine harmonische Gemeinschaft bilden. Der Vorteil von Ubuntu ist dann, dass wir dazu angehalten sind, das Gute in anderen Menschen und ihr Glück zu fördern; indem sie gedeihen, wächst das Geschenk ihrer Menschlichkeit an uns mit. Auf diese Weise gleicht Ubuntu unsere individuellen Unterschiede einander an, um sie als Quelle für unsere gemeinsame Stärke fruchtbar zu machen.

Wir erkennen den „Anderen“ als ein menschliches Geschenk an. Aber – und das ist eine wichtige zusätzliche Spezifizierung – es handelt sich hierbei um eine besondere Form der Anerkennung der Anderen als uns Wesensgleiche. An diesem Punkt sind wir nun mit einer weiteren Problematik konfrontiert: Wie hält es Ubuntu mit dem Fremden? In meinem Buch Intellectual History in Contemporary South Africa (2010) habe ich die These vertreten, dass, was Ubuntu als soziale Praxis ausmacht, sich innerhalb afrikanischer Gemeinschaften abspielt und nicht nach außen hin gelebt wird. [14] So lässt sich erklären, warum zum Beispiel im heutigen Südafrika ein Sprecher, der die Lokalsprache Xhosa nicht beherrscht, als Intlanga (Person aus einer „anderen“ Nation) oder Makwerekwere bezeichnet wird, was Fremdling oder Barbar bedeutet. Dies erinnert stark an die ursprüngliche Bedeutung der Wörter „Barbar“ oder „barbarisch“. In diesem Fall ist es jemand, der nur „blablabla spricht, wie man im Deutschen sagt – oder der, wie man bei uns sagen würde, nur „kwere, kwere versteht. Wir billigen dem Fremden nicht volle Menschlichkeit zu, weil er bestimmte normative Prinzipien unserer Gesellschaft nicht erfüllt, wie etwa unsere Sprache zu sprechen. [15] Ja, wir nehmen ihn als „Anderen“ wahr, jedoch zugleich als jemanden, der nicht einer von uns ist. Die Identifikation eines Menschen als einer von uns wiederum hat gravierende Auswirkungen auf die sozio-politische Vorstellungskraft in Afrika. Sie hat als Rechtfertigung für Korruption und ethnisch diskriminierende Diktaturen herhalten müssen und in ihrer schlimmsten Form hat sie wie in Burundi und Ruanda ethnische Säuberungen gerechtfertigt.

Durch diese eingeschränkte Anerkennung, die sich nur auf unsereins bezieht, droht unser Diskurs in blanke Ideologie abzurutschen. Besonders evident wurde dies bei den zahlreichen Versuchen afrikanischer Eliten und Staatsmänner wie Léopold Sédar Senghor, Julius Nyerere, Kwame Nkrumah, Kenneth Kaunda usw., die versucht haben, eine spezifische Art der afrikanischen politischen Doktrin aus der Asche der afrikanischen Kulturgeschichte zu formen. Diese Versuche kippten alle recht schnell in pure Ideologie um und, wie es bei Ideologien immer der Fall ist, sie reagierten auf eine spezifische Krise innerhalb einer historischen Epoche und auf besondere Problemlagen – wie fehlenden nationalen Zusammenhalt, mangelnde soziale Kohäsion und nationale Vorstellungskraft.

Als Ideologie verstanden, dient Ubuntu der Simulation politischen Fortschritts. Beispielsweise war in Simbabwe die Frage nach einer fairen Landzuteilung nach dem Kolonialismus ein eminentes Problem, das nach einer gerechten Lösung verlangte. Ein Großteil des fruchtbaren Landes gehörte damals einer weißen Minderheit, mehrheitlich weißen Ausländern. Das Land litt unter dem Erbe eines rassistischen Kapitalismus in seiner schlimmsten Form, wie er im damaligen Südrhodesien praktiziert wurde. Ungeachtet der großen Komplexität dieses schwierigen Problems ist Simbabwe aber auch Unterzeichner zahlreicher internationaler Konventionen, durch die sich das Land demokratischen Prinzipen verpflichtet hat. Deshalb kann die Gewalt bei der Besetzung von Farmen, die „Eigentum“ von Weißen waren, nicht gerechtfertigt werden. Trotzdem haben einige simbabwische Wissenschaftler diese Gewalttaten mit dem Hinweis auf das Ubuntu/Botho-Prinzip des Miteinander-Teilens gerechtfertigt. Aber Ubuntu/ Botho spricht sich klar gegen Gewalt und für die Heiligkeit des Lebens aus!

Das simbabwische Exempel veranschaulicht als eines von vielen, wie Ubuntu als eine Ethik des afrikanischen Humanismus als Ideologie der Macht missbraucht wurde: „Ideologisch“ bedeutet hier, dass mit Referenz auf Ubuntu auf eine partikulare Krise reagiert wurde. Die ideologische Verwendung von Prinzipien der Ubuntu-Ethik kann auch für einen guten Zweck passieren, wie bei der Ausgestaltung eines neuen Narrativs für die südafrikanische Nation unmittelbar nach dem Ende der Apartheid. Diese Prinzipien können aber auch wie im Fall Simbabwes missbraucht werden. Noch eindringlicher ist vielleicht das Beispiel des kongolesischen Präsidenten Mobutu Sese Seko, der das Ubuntu-ähnliche Narrativ der Authenticité benutzt hat, um die Bodenschätze des Kongos zu verstaatlichen und den natürlichen Reichtum seines Landes in die eigene Tasche fließen zu lassen. In weiteren Fällen wurde eine eigentümliche Interpretation von Ubuntu in Anschlag gebracht, um politische Macht an sich zu reißen oder dem eigenen Handeln den Anschein von Legitimität zu verleihen. In Tansania nannte man es Ujamaa, in Sambia firmierte es unter dem Stichwort „politischer Humanismus“. Doch ist all diesen Fällen eines gemein: Ob nun in Ghana unter Nkrumah oder in Guinea unter Sékou Touré, es handelte sich um Ideologien der Macht. In all diesen sozialistisch ausgerichteten Regimen war es üblich, ihre Legitimität unter Rückgriff auf eine angeblich afrikanische kulturelle Praxis zu behaupten. Man war der Meinung, die Menschen ließen sich leichter vom Marxismus überzeugen, wenn man sie durch ein ubuntu-ähnliches Narrativ glauben machte, es handle sich hierbei um etwas originär Afrikanisches.

4 Ubuntu als Philosophie der Wiedergutmachung

Trotz dieser Einwände stellt Ubuntu/Botho unbestritten eine von vielen afrikanischen Gesellschaften favorisierte ethische Praxis dar, weshalb wir uns fragen müssen, wie sich die von Ubuntu aufgezeigte Perspektive mit der endemischen humanitären Krise in Afrika zusammenbringen lässt. Einerseits sind wir mit dem Missbrauch der Ubuntu-Philosophie als politischer Doktrin konfrontiert, andererseits haben wir die schon im Konzept „Ubuntu“ als beständige afrikanische kulturelle Praxis angelegten inneren Widersprüche aufgezeigt. Der Idealismus, den ich hier präsentiert habe, bietet uns noch immer kein Gegenmittel gegen die Gier nach Macht und politischer Dominanz, die die Bürgerkriege in Liberia, Sierra Leone, Kongo, Sudan und die fatalsten Genozide in Burundi und Ruanda entfacht hat. All diese Länder haben sich auf Ubuntu/Botho als indigenes Wertesystem ihrer Gemeinschaften berufen. Dankt Ubuntu also zwangsläufig ab, sobald Konflikte entstehen? Wie können wir die Grundsätze der Ubuntu-Ethik, wie wir sie heute verstehen, mit Praktiken der Vergangenheit wie dem Osu-Kastensystem [16], den Zwillingstötungen bei den Igbo [17], Menschenopfern und Hexenjagden vereinbaren? Solche Fragen sind deswegen umso brisanter, da die Menschen, die am häufigsten ausgegrenzt oder auf der Basis erfundener Anschuldigungen der Hexerei verleumdet und deswegen gelyncht werden, oft die schwächsten Mitglieder einer Gemeinschaft sind: alte alleinstehende Frauen, Arme und Behinderte. Und doch pochen diese Gesellschaften auf die Tradition von Ubuntu/Botho.

Eine detaillierte Analyse dieser Problematik kann in diesem Artikel nicht geleistet werden, doch sollen hier zwei oft vorgebrachte Antwortstrategien näher analysiert werden. Bei der ersten wird der Ursachenkomplex in die Zeit des Kolonialismus zurückverschoben, der die traditionelle Lebensweise zerstört habe. Die Vernichtung der indigenen Sozialordnung wurde damals mit der Überzeugung gerechtfertigt, dass die traditionellen Kulturen Afrikas barbarisch seien und durch eine „humanere“ europäische Kultur ersetzt werden müssten. Die beschriebenen humanitären Krisen hätten also, so das Argument, eine historische Ursache, auf die sie sich zurückführen lassen. Die zweite Antwortstrategie besteht darin, keinen Widerspruch zu sehen. Die Anerkennung eines „anderen“ menschlichen Wesens innerhalb des Referenzrahmens der Ubuntu-Ethik bezieht sich nur auf die sozialen Praktiken innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft. Wenn man das Ubuntu-Prinzip so deutet, bezieht es sich lediglich auf die wesensgleichen „Anderen“, die ich bereits anerkenne: Ich achte Menschlichkeit, die mir ähnlich ist.

Beide Strategien sind in Hinsicht auf die fundamentalen Annahmen, die sie vorgeben zu vertreten, inkonsistent. Das koloniale Blame-Game wird im gegenwärtigen Diskurs gerne gespielt. Die Logik des Kolonialismus operiert, wie ich in The Politics of History in Contemporary Africa (2010) ausführlich dargelegt habe, in sehr verwirrender Weise. Sie bildet ein Netz von abwertenden Narrativen und institutionalisierten Praktiken, die auf den morbiden Niedergang der „Anderen“ abzielen. Die komplexe Struktur des Kolonialismus verfestigt ein Muster der Subjektformation, bei dem das kolonialisierte Subjekt diese abwertenden Diskurse internalisiert und beginnt, sich selbst als minderwertig zu begreifen und die eigene Kultur zu verachten. Die kolonialisierten Subjekte übernehmen damit diese Logik der Minderwertigkeit als Teil ihrer eigenen Identität. [18] Und da das koloniale Subjekt keinen Respekt vor sich selbst hat, hat es weder Respekt vor seinen Mitmenschen noch vor seiner eigenen Kultur. Diese interne Logik des Kolonialismus hat mich dazu veranlasst, Sympathien für das koloniale Blame-Game zu hegen. Doch ist meine Sympathie für diesen Erklärungsansatz aufgrund der internen Widersprüchlichkeit dieser Argumentationsweise begrenzt. Die Frage ist, ob die bewusste Übernahme kolonialer Instrumente der Herrschaft und Ausbeutung (angesichts der kolonialen Gewalt) lediglich toleriert oder ob sie bewusst inkorporiert wurden (weil Afrikaner an ihre Logik als ultimative Quelle von Werten glaubten). Jede mögliche Antwort auf diese Einwände bedeutet eine verstörende Herausforderung für die afrikanische Subjektivität innerhalb eines triangulären Zeitraumes gelebter Erfahrungen vor, während und nach dem Kolonialismus. […]

Nun zur zweiten möglichen Reaktion, die darin besteht, keinen Widerspruch zwischen dem Anspruch der Ubuntu-Ethik und Praktiken wie Hexenverfolgung und dem Osu-Kastensystem zu sehen. Sich diesem Argument anzuschließen würde bedeuten, den Anspruch der Ubuntu-Ethik zu einer strikt ethno-kulturellen Affäre ohne Möglichkeit der Transzendenz zu verkürzen. Aber mein Verständnis von Ubuntu ist transzendental, weil es ein Mindestmaß an Werten bereitstellt, die alle Afrikaner unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit als gut oder humanistisch bewerten. An diesem Punkt können wir die Diskussion abkürzen. Denn ein solches, heute gangbares Verständnis der Ubuntu-Ethik müsste dann nicht mehr auf eine fortwährende präkoloniale indigene afrikanische Lebensform rekurrieren. Dann bedarf es dieser Verbindung nicht mehr, um Authentizität und Legitimität zu erlangen. [19]

Gibt es Werte innerhalb der Ubuntu-Ethik, d. h. im gegenwärtigen Verständnis dieses Konzepts, die wir alle als gut anerkennen und unterschreiben würden? Wir können mit Recht behaupten, dass Ubuntu heute, auch wenn es sich vom traditionellen Verständnis entfernt hat, als ein wiedergutmachender Diskurs fungieren kann, der Antworten auf die humanitäre Krise im heutigen Afrika bereitstellt. Worin bestehen diese restaurativen Werte, von denen wir heute lernen können? Wiedergutmachung ist eine der zentralen Prämissen von Ubuntu. Eine Person nur durch andere Personen sein zu können ist eine Einladung zur Interkulturalität. Ubuntu bildet eine Theorie der soziokulturellen Imagination durch eine Erneuerung des afrikanischen kulturellen Systems. Ubuntu ist ein Narrativ der Renaissance und eine Philosophie der Wiedergutmachung. Es ist der Versuch, die Subjektivität einer Person wiederherzustellen und sie oder ihn unabhängig von seinem oder ihrem Status in der Gesellschaft als menschliches Wesen anzuerkennen. Die Autorität unseres Diskurses liegt letztlich in seiner potentiellen Fähigkeit, neue Sinnhorizonte zu generieren, um mit den gegenwärtigen humanitären Krisen in Afrika umzugehen.

Aus dem Englischen von Achim Stanislawski

Literatur

Bhabha, H. (2000), Die Verortung der Kultur, Tübingen.Suche in Google Scholar

Bhengu, M. (2006), Ubuntu: The Global Philosophy of Humankind, Kapstadt.Suche in Google Scholar

Dzobo, N. K. (1992), The Image of Man in Africa, in: Wiredu, K., u. Gyekye, K. (Hg.), Person and Community: Ghanaian Philosophical Studies, Washington, D. C., 123–135.Suche in Google Scholar

Eze, M. O. (2008), What is African Communitarianism? Against Consensus as a Regulative Ideal, in: South African Journal of Philosophy 27.4, 386–399.10.4314/sajpem.v27i4.31526Suche in Google Scholar

Eze, M. O. (2010a), Intellectual History in Contemporary South Africa, New York.10.1057/9780230109698Suche in Google Scholar

Eze, M. O. (2010b), Politics of History in Contemporary Africa, New York.10.1057/9780230110045Suche in Google Scholar

Fanon, F. (1981), Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main.Suche in Google Scholar

Louw, D. J. (1998), Ubuntu: An African Assessment of the Religious Other, in: The Paideia Archive. Twentieth World Congress in Philosophy, 17, 34–42, URL: https://doi.org/10.5840/wcp20-paideia199823407 (9.9.2020).10.5840/wcp20-paideia199823407Suche in Google Scholar

Mbiti, J. S. (1969), African Religion and Philosophy, London.Suche in Google Scholar

Menkiti, I. A. (1984), Person and Community in African traditional thought, in: Wright, R. A. (Hg.), African Philosophy: An Introduction, Lanham, Md., 171–181.Suche in Google Scholar

Metz, T., u. Gaie, J. (2010), The African ethic of Ubuntu/Botho: Implications for Research on Morality, in: Journal of Moral Education 39.3, 273–290.10.1080/03057240.2010.497609Suche in Google Scholar

Ramose, M. B. (1999), African Philosophy through Ubuntu, Harare.Suche in Google Scholar

Wiredu, K. (1996), Cultural Universals and Particulars: An African Perspective, Indianapolis.Suche in Google Scholar

Published Online: 2020-12-09
Published in Print: 2020-12-16

© 2020 Eze, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Heruntergeladen am 12.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/dzph-2020-0063/html
Button zum nach oben scrollen