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Nochmals: »Corporate Purpose« – Überlegungen zu einem Beitrag in der Festschrift für Christine Windbichler

  • Walter G. Paefgen
Veröffentlicht/Copyright: 5. November 2022

I. Eine Festschrift mit Food for Thought

In einem inspirierenden »Streifzug durch die Welt gesellschaftsrechtlicher Festschriften« hat Fleischer die Bedeutung solcher die deutsche Rechtswissenschaft prägenden Sammelwerke als Ehrengabe für besonders hochgeschätzte Wissenschaftler, Richter und sonstige Honoratioren beschrieben.[1]Fleischers Beitrag geht nicht zuletzt auch auf die im Schrifttum nicht zu übersehende Kritik an der »Hypertrophie des Festschriftenwesens« ein.[2] Einen besonders prägnanten Ausdruck hat diese Kritik in einem pessimistischen Ausspruch des ehemaligen Bundesrichters Claus Seibert gewonnen: »Festschriften sind das Massengrab der Gelehrsamkeit.«[3] Dass dies nicht immer so sein muss, hat dem Verfasser dieses Beitrags (»Verf.«) die Lektüre der im Jahr 2020 im Verlag de Gruyter erschienenen Festschrift zum 70. Geburtstag für die insbesondere in Kreisen der deutschen Gesellschafts- und Arbeitsrechtler allgemein hochgeschätzte Berliner Rechtsgelehrte Christine Windbichler eindringlich vor Augen geführt.[4] Dieses imposante Sammelwerk enthält mit seinem beachtlichen Umfang von immerhin 1.513 Seiten insgesamt 86 Beiträge zu verschiedenen Gebieten der Rechtswissenschaft. Entsprechend den Interessenschwerpunkten der Jubilarin betreffen 10 Beiträge Grundfragen des Privatrechts und der Rechtswissenschaft, 18 Beiträge das Arbeits- und Mitbestimmungsrecht, 43 Beiträge den Themenbereich »Gesellschaftsrecht und Corporate Governance«, 3 Beiträge das Bilanzrecht und 12 Beiträge den Themenbereich »Wirtschaftsrecht und Marktordnung«. Dem Verf., dessen Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts liegt, hat insbesondere ein Beitrag von Mathias Habersack Anstöße zum weiteren Nachdenken (food for thought) gegeben. Der besagte Beitrag geht Grundsatzfragen des Aktienrechts nach, die sich in einem weiteren Sinn in die aktuelle Debatte über die zunehmend an deutsche Unternehmen herangetragene Forderung nach gemeinwohlbezogenem, nachhaltigem Wirtschaften einordnen lassen.[5] Auf das mit Habersacks Beitrag angesprochene Thema soll im Folgenden noch einmal näher eingegangen werden.

II. Die Forderung nach einem neuen »Daseinszweck« der Aktiengesellschaft

In seinem beeindruckenden Aufsatz mit dem modernistisch anglophilen Titel »Corporate Purpose« wendet Habersack sich der hochaktuellen Frage zu, wie die vor allem von institutionellen Anlegern, aber auch Kleinanlegern zunehmend erhobene Forderung nach einem über die Gewinnerzielung hinausgehenden »Daseinszweck« der Aktiengesellschaft, der in der »Schaffung gemeinschaftlicher Werte und damit eines Nutzens der Allgemeinheit« erblickt wird[6], sich zum gesetzlich vorgegebenen Zweck der Aktiengesellschaft verhält. Dabei betont Habersack zu Recht, dass die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Forderung nach einem solchen sozialen »Daseinszweck« zum Gesellschaftszweck nicht ohne Konsequenzen für die Beantwortung der Folgefrage nach der gesellschaftsinternen Zuständigkeit für die Entscheidung über das »Ob«, die Ausgestaltung und die Änderung eines gemeinwohl- und nachhaltigkeitsbezogenen »Corporate Purpose« bleiben kann.[7]

III. Das gesetzliche Normalstatut: die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung der Aktiengesellschaft

Gleich zu Anfang seiner Überlegungen stellt Habersack durchaus zutreffend fest, die Aktiengesellschaft könne, wie § 1 GmbHG dies für die GmbH ausdrücklich festhalte, grundsätzlich zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck gegründet werden. Nach ihrem gesetzlichen Normalstatut, d. h. bei Schweigen der Satzung, solle die Gesellschaft jedoch »erwerbswirtschaftliche Ziele verfolgen und damit auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein.«[8] Mit der erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung ist das sog. formale Unternehmensziel der Aktiengesellschaft angesprochen, das von dem Unternehmensgegenstand nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 AktG sorgfältig zu unterscheiden ist.[9]

Im Gegensatz zu dem ausdrücklich erwähnten Unternehmensgegenstand wird dieses erwerbswirtschaftliche Formalziel im Aktiengesetz an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt. Wie Harry Westermann in einem im neueren aktienrechtlichen Schrifttum bedauerlicherweise weitgehend vernachlässigten Beitrag überzeugend herausgearbeitet hat, führt jedoch die Zusammenschau verschiedener gesetzlicher Bestimmungen zu dem Schluss, dass das Aktiengesetz für den Regelfall die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung des von der Gesellschaft betriebenen Unternehmens voraussetzt. Dies kann aus dem systematischen Zusammenhang von § 58 Abs. 4 AktG (Anspruch der Aktionäre auf den Bilanzgewinn), § 174 AktG (Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung) und § 254 (Dividende unter 4 % des Grundkapitals als Anfechtungsgrund) des Aktiengesetzes gefolgert werden.[10] Zusätzliche Bestätigung erfährt diese Auffassung durch §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und § 315 a HGB, wo ebenfalls eine grundsätzlich erwerbwirtschaftliche Zielbestimmung der Aktiengesellschaft vorausgesetzt wird.[11]

IV. »Corporate Purpose« und aktienrechtliche Organverantwortung

Ist der im Rahmen des statutarisch vorgegebenen Unternehmensgegenstands zu verfolgende Gesellschaftszweck der Aktiengesellschaft in deren erwerbswirtschaftlicher Zielsetzung zu erkennen (formales Unternehmensziel, vgl. vorstehend III.), so kann, was die Verwaltungsorgane betrifft, die Artikulation eines auf soziale und gesamtgesellschaftliche Belange abzielenden »Corporate Purpose«, wie Habersack überzeugend ausführt, nur im Rahmen des dem Vorstand (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) und Aufsichtsrat (§§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) eingeräumten unternehmerischen Ermessens nach der Business Judgment Rule erfolgen.[12] Das hat der Verf. dieses Beitrags an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt und begründet.[13]

Mit Blick auf die Auswirkung des Gedankens einer Corporate Social Responsibility (»CSR«) ist festzuhalten, dass sich aus der europäischen CSR-Richtlinie (2014/95/EU) bzw. deren deutscher Umsetzung in den Berichtspflichten nach §§ 289 b bis 289 e und §§ 315 b bis 315 d HGB Ansatzpunkte für eine unmittelbare Pflichtbindung der Verwaltungsorgane deutscher Aktiengesellschaften im Sinn einer so verstandenen CSR nicht ableiten lassen.[14] Eine solche unmittelbare CSR-Bindung der Verwaltungsorgane ist vielmehr nur insoweit anzuerkennen, als es sich um zwingende Schutznormen des Arbeits- Sozial- oder sonstigen Rechts, nicht bloß Kodizes oder sonstige untergesetzliche Regelungsinstrumente (soft law), handelt, die unter die organschaftliche Legalitätspflicht fallen.[15] Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass von den CSR-Berichtspflichten eine mittelbare Verhaltenssteuerung in dem Sinn ausgeht, dass die Unternehmensleitungen sich über die berichtspflichtigen CSR-Konzepte und deren (potenziellen) Einfluss auf ihre unternehmerischen Ermessensentscheidungen zumindest Gedanken machen müssen, um sinnvoll über deren Berücksichtigung oder auch Nichtberücksichtigung berichten zu können.[16] An der grundsätzlichen Zuordnung der Forderung nach einem neuen »Daseinszweck« der Aktiengesellschaft im Sinn eines »Coroporate Purpose« (vgl. oben II.) ändert das freilich nichts.

V. »Corporate Purpose« und »Unternehmensinteresse«

Grundsätzliche Bedenken sind hinsichtlich der Auffassung von Habersack anzumelden, die Artikulation eines »Corporate Purpose« habe sich bei der unternehmerischen Ermessensausübung nach den Regeln der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) am äußerst fragwürdigen Verantwortungsmaßstab des sog. »Unternehmensinteresses« zu orientieren.[17]

Wie Verf. bereits anderen Ortes ausführlich dargelegt hat, ist die Vorstellung vom sog. »Unternehmensinteresse« nichts anderes als die unglückliche Ausgeburt einer über die jüngere Geschichte des Aktienrechts hinweg zu verfolgenden Tendenz im aktienrechtlichen Schrifttum, die für die Verwaltungsorgane geltende Verhaltensmaxime »unternehmensrechtlich« anstelle von gesellschaftsrechtlich, d. h. interessenpluralistisch im Sinn der Fokussierung auf einen fiktiven, verschiedene Stakeholder einbeziehenden Verband des Unternehmens (Kapitalgeber, Arbeitnehmer, Kreditgeber, Lieferanten, Kunden etc.) zu beziehen. Im aktienrechtlichen Kommentar- und sonstigen Schrifttum ist nach wie vor verschiedentlich zu lesen, Vorstand und Aufsichtsrat hätten sich bei der Ausübung ihrer Organfunktionen am sog. »Unternehmensinteresse« zu orientieren.[18] Auch findet sich dieser Begriff »Unternehmensinteresse« als Maßstab für die Organverantwortung der Verwaltungsorgane an mehreren Stellen in der aktuellen Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex von 2022.[19] Der BGH hat sich dieser Formel im »Bayer«-Urteil zur Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder (§ 116 Satz 2 AktG) bedient.[20] Jedoch handelt es sich bei dieser letztlich inhaltlosen und daher organhaftungsrechtlich kaum konkretisierbaren Formel um eine bloße Schimäre, die mit der einheitlichen Bindung aller Organe der Aktiengesellschaft an den Gesellschaftszweck im Sinn des formalen erwerbswirtschaftlichen Unternehmensziels (vgl. oben III.) und auch der Ausrichtung der Organhaftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG sowie der Klagerechte nach §§ 147 ff. AktG und der Sonderprüfungsrechte nach §§ 142 ff. AktG allein auf die Gesellschaft und die Aktionäre als deren Mitglieder nicht zu vereinbaren ist.[21]

Eine solchermaßen offen definierte Pflichtbindung bringt eine nicht zu unterschätzende Ideologiegefahr mit sich: Dass damit ohne Rücksicht auf den grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen Gesellschaftszweck der Aktiengesellschaft gesellschafts- und sozialpolitische Vorstellungen frei nach dem Motto »Wie es euch gefällt«[22] in das Aktienrecht hineingetragen werden können, hat der Streit um den Begriff des Unternehmensinteresses im Kontext der Debatte um den Einfluss des MitbestG 1976 auf die Struktur der Aktiengesellschaft gezeigt.[23]

Nimmt man dies alles zusammen, so kann man Zöllner nur in der Erkenntnis beipflichten, dass die Formel vom sog. Unternehmensinteresse schon immer verkehrt war.[24] Die Bezugnahme auf die Berücksichtigung eines »Corporate Purpose« bei der Artikulation des »Unternehmensinteresses« durch die Verwaltungsorgane der Aktiengesellschaft erweist sich damit als irreparable Sollbruchstelle in der Argumentation von Habersack. Eine solche Berücksichtigung kann nach dem Normalstatut der Aktiengesellschaft vielmehr nur im Rahmen der Artikulation des Gesellschaftsinteresses durch Vorstand und Aufsichtsrat im Rahmen der Ausübung ihres unternehmerischen Ermessens nach der Business Judgment Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG) erfolgen. Demgemäß ist auch das aus der Business Judgment Rule folgende Postulat einer sorgfältigen Information und Entscheidungsvorbereitung[25]first and foremost auf das formale Unternehmensziel der Erwerbswirtschaftlichkeit (oben III.) zu beziehen.[26]

VI. »Corporate Purpose« und Mitwirkungsrechte der Aktionäre

1. Statutarische Gemeinwohlklauseln

a) Das Erfordernis der Zustimmung aller Aktionäre analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB

Fragt man nach den Mitwirkungsrechten der Aktionäre bei der Umsetzung eines vom erwerbswirtschaftlichen Formalziel der Aktiengesellschaft zu Gunsten allgemein oder speziell gefasster gemeinnütziger und nachhaltigkeitsbezogener Zielsetzungen abweichenden »Corporate Purpose«, so stellt sich die Frage nach der Gestaltungsfreiheit des Satzungsgebers. Hier gilt es, zu berücksichtigen, dass der Festlegung des formalen Unternehmensziels für die Rechtsform der Aktiengesellschaft grundlegende i. S. v. zwecksetzender Bedeutung zukommt. Nach ganz herrschender und überzeugender Ansicht bedarf deshalb die Änderung der nach dem gesetzlichen Normalstatut erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung der Gesellschaft, wie auch die Rückkehr von einer zunächst in der Satzung festgelegten gemeinnützigen Zielsetzung zum gesetzlichen Normalstatut des erwerbswirtschaftlichen Formalziels gemäß dem in § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsatz der Zustimmung aller Aktionäre.[27] Eine derart zustimmungsbedürftige Zweckänderung liegt auch beim nur teilweisen Übergang von der grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen auf eine gemeinwohlbezogenen Zweckausrichtung vor.[28]

b) Abbedingbarkeit des Zustimmungserfordernisses nur mit Zustimmung aller Aktionäre (§ 40 BGB analog)

Zwar kann das Erfordernis allseitiger Zustimmung analog § 40 BGB statutarisch abbedungen werden.[29] Jedoch bedarf die Einführung einer Satzungsregelung, die für Änderungen des Gesellschaftszwecks Mehrheitsentscheidungen genügen lässt, ihrerseits der Zustimmung aller Aktionäre.[30] Auch muss eine Satzungsklausel, die die Änderungen des Gesellschaftszwecks (formalen Unternehmensziels) per Mehrheitsbeschluss ermöglicht, jedenfalls die Mindestbedingungen einhalten, die das Gesetz für Änderungen des Unternehmensgegenstandes fordert; d. h. sie muss analog § 179 Abs. 2 Satz 2 AktG neben der einfachen Stimmenmehrheit auch eine qualifizierte Kapitalmehrheit vorsehen.[31] Zudem hat eine Satzungsregelung, die für Änderungen des auf Erwerbswirtschaftlichkeit ausgerichteten formalen Unternehmensziels (Gesellschaftszwecks) von dem Erfordernis der Zustimmung aller Aktionäre entbinden soll, strikten Bestimmtheitsanforderungen zu genügen; eine Satzungsbestimmung, die allgemein für Satzungsänderungen von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Mehrheitserfordernisse festlegt, reicht dafür nicht aus.[32]

c) Zwischenergebnis: Wechsel zur statutarischen Gemeinwohlklausel als Mission Impossible

In Anbetracht der vorstehend skizzierten restriktiven Vorgaben dürfte sich die Implementierung eines auf Gemeinnützigkeit und Nachhaltigkeit abzielenden »Corporate Purpose« im Wege einer entsprechenden Satzungsänderung jedenfalls bei großen, entsprechend dem auf Gewinnerzielung ausgerichteten gesetzlichen Normalstatut errichteten Publikumsgesellschaften mit breit gestreutem Aktionärskreis (float) als mission impossible erweisen.[33]

d) Deklaratorische Gemeinwohlklauseln

Der vorstehend angesprochene, im Wege einer Satzungsänderung vollzogene kategorische Wechsel vom der dem gesetzlichen Normalstatut entsprechenden erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung der Aktiengesellschaft (normalstatutarischer Gesellschaftszweck/formales Unternehmensziel) zu einem der Gemeinwohlförderung und Nachhaltigkeit dienenden Gesellschaftszweck ist sorgfältig zu unterscheiden von einer Art von Satzungsregelungen, die sich als deklaratorische Gemeinwohlklauseln bezeichnen lassen. Solche deklaratorischen Klauseln ermächtigen die Verwaltungsorgane dazu, bei der ihnen aufgetragenen Artikulation des Gesellschaftsinteresses im Rahmen der Business Judgment Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 AktG) Gemeinnützigkeits- und Nachhaltigkeitsbelange in den Entscheidungsprozess mit einfließen zu lassen. Derartigen »Ermächtigungsklauseln« kommt, was die Pflichtbindung der Verwaltungsorgane betrifft, deshalb nur klarstellende Bedeutung zu, weil sie die Verwaltungsorgane nur zu einer Art Interessenverfolgung »ermächtigen«, zu der diese bereits aufgrund der ihnen gesetzlich aufgetragenen Organverantwortung im Rahmen der Verfolgung des Gesellschaftsinteresses nach den Regeln der Business Judgment Rule aufgerufen sind (vgl. oben IV. und V.).[34]

e) Gemeinwohl- und Nachhaltigkeitsaspekte im statutarischen Unternehmensgegenstand (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG)

Wie Habersack überzeugend bemerkt, ist die Aufnahme von Nachhaltigkeitsaspekten in den statutarischen Unternehmensgegenstand der Aktiengesellschaft (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG) dem Grundsatz nach unzweifelhaft als zulässig anzusehen.[35] Solche Klauseln müssen allerdings die die Nachhaltigkeit begründenden Produkte und/oder Dienstleistungen mit hinreichender Bestimmtheit bezeichnen. Dagegen wäre eine allgemein gehaltene Verpflichtung auf einen gemeinwohlorientierten Unternehmensgegenstand als unzulässiger Eingriff des Satzungsgebers in das Leitungsermessen der Verwaltungsorgane (§§ 76 Abs. 1, 111, 23 Abs. 5 AktG) anzusehen.[36] Zumindest müsste eine solche Satzungsregelung jedoch den restriktiven Voraussetzungen unterfallen, die für Änderungen des Gesellschaftszwecks (formalen Unternehmensziels) gelten (vgl. oben bei VI.1.a bis c).

f) Statutarische Festschreibung von Shareholder Value-Konzepten?

Was die statutarische Festschreibung eines Shareholder Value-Konzepts in der einen oder anderen Variante anbelangt, so wäre diese zwar grundsätzlich mit der dem gesetzlichen Normalstatut entsprechenden erwerbswirtschaftlichen Zwecksetzung der Aktiengesellschaft vereinbar (vgl. oben III.). Jedoch fällt die Entscheidung über die Befolgung oder Nichtbefolgung eines bestimmtem Shareholder Value-Konzepts als typische Managementaufgabe in den Bereich der satzungsfesten unternehmerischen Entscheidungsprärogative von Vorstand und Aufsichtsrat (§§ 76 Abs. 1, 111, 23 Abs. 5 AktG). Dies hat zur Folge, dass ein solches Konzept der Verwaltung in der Satzung weder vorgeschrieben noch grundsätzlich verboten werden darf.[37]

2. Gewinnverwendungsklauseln

a) Zustimmung aller Aktionäre analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB

Mit Blick auf die Gewinnverwendung liegt es auf den ersten Blick nahe, bezüglich der Implementierung eines auf Gemeinnützlichkeit und Nachhaltigkeit bezogenen »Corporate Purpose« die Möglichkeit einer Satzungsregelung i. S. v. § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG zu erwägen, die eine Gewinnverteilung an gemeinnützige Institutionen erlaubt oder auch zwingend vorschreibt.[38] Bei der Gründung gemeinnütziger Unternehmen dienen solche statutarischen Gewinnverwendungsvorgaben bekanntlich dem Zweck der Erlangung der Steuerbefreiung nach §§ 55, 59 AO.[39] Ist eine Aktiengesellschaft jedoch erst einmal entsprechend dem die erwerbswirtschaftliche Zielsetzung beinhaltenden gesetzlichen Normalstatut gegründet, wie dies insbesondere bei den großen deutschen börsennotierten Publikumsgesellschaften der Fall sein dürfte, können derartige der Implementierung eines »Corporate Purpose« der Gemeinnützigkeit und Nachhaltigkeit dienenden Satzungsänderungen in entsprechender Anwendung von § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB nur mit Zustimmung aller Aktionäre eingeführt werden.[40] Dabei genügt es, dass aufgrund der Satzungsänderung erhebliche Teile des Bilanzgewinns für Zwecke reserviert werden sollen, die außerhalb der nach dem gesetzlichen Normalstatut der Aktiengesellschaft gebotenen erwerbswirtschaftlichen Zweckverfolgung liegen.[41]

b) Risiken bei der Umsetzung

In Anbetracht der stets in Betracht zu ziehenden Notwendigkeit der Zustimmung aller Aktionäre analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB würde sich die Implementierung eines auf Gemeinnützigkeit und Nachhaltigkeit abzielenden »Corporate Purpose« im Wege einer statutarischen Gewinnverwendungsklausel i. S. v. § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG jedenfalls bei großen Publikumsgesellschaften mit breit gestreutem Aktionärskreis nicht unerheblichen Risken ausgesetzt sehen. Das gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Unbestimmtheit des im Schrifttum für das Eingreifen des Erfordernisses der Zustimmung aller Aktionäre postulierten vagen Kriteriums der Reservation erheblicher Teile des Bilanzgewinns für gemeinnützige Zwecke.[42] Die Zweifel verstärken sich, wenn man bedenkt, dass bei der Einführung einer allgemeinen statutarischen Gemeinwohlklausel (vgl. oben VI.1.) eine der Zustimmung aller Aktionäre bedürftige Zweckänderung bereits beim nur teilweisen Übergang von der grundsätzlich erwerbswirtschaftlichen auf eine gemeinwohlbezogene Zweckausrichtung vorliegt.[43] Mit einer gewissen Rechtssicherheit lässt sich dem Zustimmungserfordernis nach § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB, wenn überhaupt, dann wohl nur durch die statutarische Einführung einer Art von De minimis-Gewinnverwendungsklauseln entrinnen.

VII. Resümee

Als Resümee der vorstehenden Überlegungen ist festzuhalten:

1. Die Implementierung eines auf Gemeinnützigkeit und Nachhaltigkeit abzielenden »Corporate Purpose« lässt sich bei unternehmerischen Entscheidungen der Verwaltungsorgane der Aktiengesellschaft über die Berücksichtigung von Gemeinwohl- und Nachhaltigkeitsbelangen im Rahmen der Ausübung unternehmerischen Ermessens nach den Regeln der Business Judgment Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 Satz 1 BGB) dogmatisch konsistent bewerkstelligen. Bezugspunkt muss dabei entsprechend dem gesetzlichen Normalstatut der Aktiengesellschaft immer das auf der Grundlage der erwerbswirtschaftlichen Zielsetzung der Gesellschaft zu arktikulierende Gesellschaftsinteresse sein, nicht dagegen ein nur als Schimäre auszumachendes fiktives Unternehmensinteresse.

2. Die Implementierung eines auf Gemeinnützigkeit und Nachhaltigkeit abzielenden »Corporate Purpose« (vgl. oben II.) im Wege der Einführung statutarischer Gemeinwohlklauseln muss unter aktienrechtlichen und praktischen Gesichtspunkten weitgehend einer mission impossible gleichkommen (vgl. oben VI.1.). Ähnliches muss, wenn auch mit gewissen Abstrichen, für die Implementierung im Wege statutarischer Gewinnverwendungsklauseln i. S. v. § 58 Abs. 3 Satz 2 AktG gelten; insoweit sind der auf eine rechtssichere Handhabung bedachten Praxis, wenn überhaupt, dann allenfalls nur De minimis-Klauseln anzuraten (vgl. oben VI.2).

Online erschienen: 2022-11-05
Erschienen im Druck: 2022-10-07

© 2022 Walter G. Paefgen, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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