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400 Jahre Bibliothek der Hansestadt Lübeck – Ausblick auf die Zukunft mit der Herausforderung eines historischen Erbes

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Veröffentlicht/Copyright: 31. Mai 2022
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Zusammenfassung

Ein runder Geburtstag ist ein gern genommener Anlass zum Feiern. Doch je höher die Zahl, desto mehr Geschichte schwingt mit. In Lübeck kommt dazu, dass die Gründungsräume bis heute genutzt werden. Und es bleibt nicht bei den Räumlichkeiten, auch die Art und Weise der Aufgabenstellung ist durch die Historie bedingt recht einzigartig. In diesem Fall feiert eine Öffentliche Bibliothek, eine wissenschaftliche Bibliothek, eine historische Bibliothek und eine ehemalige Staatsbibliothek einer ehemals Freien Reichs- und Hansestadt.

Abstract

A milestone birthday is a great opportunity to celebrate, although the higher the number of years gets, the more it resonates with historic significance. In Lübeck it starts with the founding premises still being in use, and it doesn’t stop there. The tasks and performance requirements of the library are also quite unique due to its history. We are celebrating the public library, the scientific library, the historical library and the former state library of the once free imperial and still Hanseatic city of Lübeck.

Im Jahr 1622 wurde mit der ersten Benutzungsordnung der Betrieb der Bibliothecae Publicae dokumentiert. Ein genaues Datum fehlt jedoch und zudem sind die Regale und der Katalog seit 1616 aufgebaut worden, der Vorlauf zur Bibliothek lief somit schon einige Jahre. So feiert die Bibliothek das ganze Jahr 2022 ihren 400. Geburtstag.

Die auf Latein geschriebene erste Benutzungsordnung liegt noch heute im Scharbausaal[1] und somit im Gründungsraum der Bibliothek. Bis heute passt die Stadtbibliothek Lübeck historisch bedingt in keine Schublade. Die Suche nach einem Vergleich fällt schwer, denn das Konstrukt ist bis heute in der Republik ziemlich einmalig.

Der Gründungssaal, bis heute durchgehend im Betrieb und Teil der Zentralbibliothek in der Hundestraße, befindet sich in einem früheren Schlafsaal von Franziskanermönchen. Zudem gehört ein Teil der Katharinenkirche noch zur Bibliothek – doch eine konfessionelle Einrichtung war diese Bibliothek nie.

Abb. 1: Scharbausaal, der Gründungssaal der Bibliothek.
Abb. 1:

Scharbausaal, der Gründungssaal der Bibliothek.

Fast dreihundert Jahre lang wurde die Bibliothek von den Subrektoren der dritten Professur am Katharineum geführt, dem seit 1531 existierenden ersten Gymnasium der Hansestadt Lübeck, mit der die Zentralbibliothek bis heute verbunden ist und sich z. B. die Heizungsanlage teilt – doch eine Schulbibliothek war diese Bibliothek nie.

Zwar weist die erste Benutzungsordnung als Kreis der Nutzenden „alle, die von der Liebe zu den Wissenschaften entbrannt sind“ aus, doch eine wissenschaftliche Stadtbibliothek, wie in Mainz, Ingolstadt oder anderen Orten, war diese Bibliothek auch nicht so recht, denn die Ziele waren für alle Lübecker*innen, die „eine feste Allgemeinbildung und zu Kenntnissen auf den meisten Fachgebieten gelangen kann“ – die Bibliothek der Hansestadt Lübeck war somit weder eine Gelehrtenbibliothek noch eine Ratsbibliothek:

„Nachdem die Bibliothek nun aber zum größten Teil so eingerichtet ist, daß sie jedermann nützlich und dienlich sein kann, hat Ein hoher Rat dieser Stadt geglaubt, diesen so wertvollen Schatz nicht länger verborgen halten, sondern allen Liebhabern der Wissenschaften zugänglich machen zu sollen.“

Die Öffnungszeiten waren am Mittwoch und am Samstag von 13 bis 16 Uhr und eine Ausleihe war bereits von Beginn an mit Genehmigung des Bibliothekars möglich.

Auf der Suche nach vergleichbar alten Einrichtungen im deutschen Raum mit aktuellen Grenzen gibt es nur wenige ältere Einrichtungen, die bis heute existieren: 1370 Nürnberg, 1440 Hannover, 1516 Ulm, 1525 Magdeburg, 1555 Lüneburg, 1622 Lübeck und 1652 Reutlingen.

Über die ersten Jahrzehnte des Betriebs ist nur wenig verschriftlicht, was wohl auch dem 30-jährigen Krieg geschuldet sein kann. Lübecks Hochzeit als Königin der Hanse war schon lange vorbei, die Eigenständigkeit als Freie und Reichstadt Lübeck bot nur wenige kriegerische Konflikte mit Beteiligung. Dieser Vorteil glänzt heute herausgeputzt als UNESCO-Weltkulturerbe auf der Altstadtinsel und im Zentrum Lübecks. Die Bibliothek blieb über vier Jahrhunderte ihrem Standort treu und von allen Kriegen in der baulichen Substanz weitgehend verschont. Ein Teil des Kollegiums sitzt in der Hundestraße in Räumlichkeiten, die seit 1293 dort existieren.

Die Geschichte dieser Einrichtung nach dem 30-jährigen Krieg ist gut dokumentiert, mehrfach zu Jubiläen beschrieben und so recherchierbar. So erschien bereits 1929 eine 71 Seiten starke „Bibliographie zur Geschichte der Lübecker Stadtbibliothek“[2]. Im gleichen Zeitraum erschien eine 42 Seiten starke Auflistung der Musik-Bücher[3]. Auch über die Musiksammlung[4] und über 100 Jahre Öffentliche Bücherei[5] in Lübeck sind Bücher erschienen.

Abb. 2: Seit 400 Jahren am gleichen Ort, die Zentralbibliothek im besten hanseatischen Understatement muss entdeckt werden.
Abb. 2:

Seit 400 Jahren am gleichen Ort, die Zentralbibliothek im besten hanseatischen Understatement muss entdeckt werden.

Das seit 1756 und mit der zweiten Satzung eingeräumte Pflichtexemplarrecht gilt bis zum heutigen Tage und ist im Bibliotheksgesetz Schleswig-Holstein[6] verbrieft. Spätestens mit diesem Gesetz aus dem Jahr 2016 ist die Bibliothek der Hansestadt Lübeck auch als wissenschaftliche Bibliothek gesetzlich verankert:

„Die Bibliothek der Hansestadt Lübeck hat als wissenschaftliche Stadtbibliothek regionalbibliothekarische Funktionen und steht in der Trägerschaft der Stadt Lübeck. Sie ist organisatorisch mit den Öffentlichen Bibliotheken desselben Trägers verbunden und gemeinsam zuständig für die Versorgung mit Medienwerken.“

Im täglichen Gebrauch ist jedoch das Wort „Stadtbibliothek Lübeck“ – die meisten Nutzenden verstehen ihre Einrichtung als kommunale Öffentliche Bibliothek mit aktueller Definition einer Stadtbibliothek. Auch dieser Teil der Geschichte ist zumindest seit 1945 gut dokumentiert.

Bis 1937 war die Bibliothek zudem Staatsbibliothek der Freien und Reichsstadt Lübeck – das zeigt sich im Magazin mit über 600.000 Bänden, welches im Jahr 2021 neue Räumlichkeiten beziehen konnte. Über mehrere Wochen in der Covid19-Pandemie-Hochzeit im Frühjahr 2021 pendelten die LKW quer durch die Stadt, um die Räumlichkeiten auf dem Priwall direkt am Strand aufzugeben und in der Einsiedelstraße in Innenstadtnähe an der Trave das neue Quartier zu beziehen. Zwei der vier Stockwerke sind vollklimatisiert und stellen gegenüber den früheren Räumlichkeiten eine erhebliche Verbesserung dar.

Doch die Bibliothek hatte in den Jahrhunderten noch einige Funktionen mehr. Sie war bis zur Gründung des Stadtarchives Hüterin über vielerlei Dokumente. Da auch Museen erst später in Mode kamen als diese Bibliothek, beherbergte man so manche Dinge, die man heute nicht mehr dort verortet. Die Satzung von 1837 schreibt fett gedruckt „so darf doch Niemand eigenmächtig ein Buch, oder eine andere Merkwürdigkeit, von den Tischen oder Bücherbrettern oder aus den Behältnissen nehmen“. Die eine Merkwürdigkeit mag die Münzsammlung gewesen sein, die heute im Stadtarchiv liegt. Die andere Merkwürdigkeit war sicher die altägyptische lübeckische Apothekermumie, die über 80 Jahre lang auch in der Bibliothek zu betrachten war[7]. In diese Zeit fällt zumindest das neue „Design“ des Sarkophags – heute besser aufgehoben im St. Annen-Museum in Lübeck.

Zweimal entwickelten sich Leihbüchereien in Lübeck, die zweimal in die Stadtbibliothek integriert wurden. Hier trafen Dr. Willy Pieth und Benatta Otten[8] aufeinander und fast hätte diese Bibliothek in den 1920er Jahren eine Frau als Chefbibliothekarin gehabt. Doch Willy Pieth war nicht nur Direktor der Stadtbibliothek, sondern auch Gründer der Volkshochschule – ein Volksbildungsexperte ersten Ranges. Erst das Naziregime bereitete dem Direktor, der den (An)Bau der neuen Stadtbibliothek 1926 im Werk „Bücherei und Gemeinsinn – das öffentliche Bibliothekswesen der Freien und Hansestadt Lübeck“[9] umfassend dokumentierte, ein Ende. Benatta Otten zog als Leiterin der Leihbücherei der gemeinnützigen Stiftung den Kürzeren und zog sich danach vollständig aus dem Bibliothekswesen zurück. Dank Willy Pieth gibt es seit fast hundert Jahren einen Fahrradabstellraum in den Räumlichkeiten der Stadtbibliothek und seit über 400 Jahren ausschließlich männliche Leitungen, die im Schnitt 13 Jahre lang im Amt bleiben. So schaut der Schreiber dieser Zeilen auf eine Ahnentafel in der Wikipedia mit über 30 Vorgängern, wovon viele ihre Spuren bis heute im Bibliotheksbetrieb sichtbar hinterlassen haben.

Die Bibliothek der Hansestadt Lübeck gehört heute im Bibliotheksverband zur Sektion 2 (Öffentliche Großstadtbibliotheken 100.000 – 400.000 Einwohner) und repräsentiert im Landesverband des gleichen Verbandes die wissenschaftlichen Bibliotheken. Sie ist integriert in der AG Regionalbibliotheken und langjähriger Kooperationspartner in einem DFG-Projekt der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, die dieses Jahr auf 450 Jahre blicken kann. Die Digitalisierung historischer Bestände ist genauso Aufgabe wie die Entdeckung hundert Jahre lang nicht gespielter Stücke aus den Archiven der Musikbibliothek und die Bereitstellung von Tonies und Tigerbooks in der Kinderbibliothek. Selbst die drei Fragezeichen könnten hier aus allen Lübecker Zeitungen der letzten Jahrhunderte Informationen auf Mikrofiche recherchieren. In den ostdeutschen Ländern erinnert das an die Stadt- und Regionalbibliotheken wie in Potsdam und Erfurt – jedoch in Lübeck mit historischem Erbe. Einige Kantonsbibliotheken der Schweiz sind vielleicht vergleichbar; z. B. in Zug und Genf. Dieses Duopol aus ÖB und WB ist auch der Grund, warum die Stadtbibliothek als einzige Bibliothek des Bundeslandes nicht Mitglied der Büchereizentrale Schleswig-Holstein ist. Im Bereich der Rechtswissenschaft bietet man das Niveau einer Institutsbibliothek, die gerne von Jurastudierenden genutzt und von der Böse-Stiftung jährlich gefördert wird.

Mitte der 1970er Jahre, die Hundestraße galt zeitweilig aufgrund anrüchiger Lokalitäten als „No-Go Area“, folgte dann durch das UNESCO-Welterbeprogramm das zweite Mal die Möglichkeit eines Anbaus; wiederum mit der Integration einer kommunalen Leihbücherei mit Sitz in der Königsstraße, heute im Besitz der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, in die Stadtbibliothek in der Hundestraße einzuziehen und eine Aufwertung des Areals zu erzeugen. Im Jahr 2022 ist die Innenstadtinsel durchgentrifiziert, was auch neue letzte Wahlergebnisse zeigten, und die früheren Schandflecken allesamt beseitigt. So erreicht man die Zentralbibliothek bis heute nur per Velo oder per Pedes – die Kopfsteinpflasterstraße mit nur zwei Meter Durchfahrtsweite kennt nur Anwohnerparken. Selbst der Transporter der Stadtbibliothek für die Verteilung der Medienkisten an die Zweigstellen hat keine Parkberechtigung.

Abb. 3: Mantelssaal der Bibliothek.
Abb. 3:

Mantelssaal der Bibliothek.

So bietet die Stadtbibliothek ihren Nutzenden auf über 4.000 Quadratmetern Nutzfläche eine Bibliothek aus den Jahrhunderten. Der Scharbausaal und der Mantelssaal als von der Possehl-Stiftung wieder hergerichtete Schmuckstücke als Magazin und Veranstaltungsraum, der Willy-Pieth-Lesesaal aus den 1920er Jahren bietet absolute Ruhe in Originalatmosphäre. Auch hier hat die Lübecker Possehl-Stiftung die Gelder gegeben. Ein Teil der für alle Nutzenden zugänglichen Bestände steht bis heute in einem viergeschossigen Lipmann-Regal. So wandelt man durch die Jahrhunderte, während man die Bibliothek benutzt. Die versierten Kolleginnen nutzen dazu Geheimgänge und über 12 Treppenhäuser aus den Epochen, um von A nach B zu gelangen. „Das Labyrinth der träumenden Bücher“ von Walter Moers existiert wirklich …

Ist nun alles Gold was glänzt? Mitnichten. Zum 375-jährigen Jubiläum[10] konnte man noch auf 8 Zweigstellen und einen Bücherbus blicken. 25 Jahre später sind es noch 4 Zweigstellen. Diese jedoch haben Zukunft und die Zweigstelle Moisling wird im Rahmen der sozialen Stadt in diesem Jahrzehnt neu gebaut. Die Vollzeitäquivalente sind seitdem um 20 auf etwas über 50 gesunken. Das Spardiktat des städtischen Haushalts unter dem letzten Bürgermeister ging nicht spurlos vorüber. Einige Zeitungsartikel erzählen davon.[11]

Im Gegensatz zu den Bibliotheken in Ulm[12]. und Lüneburg existiert in Lübeck weiterhin eine Altbestandsabteilung, wo Digitalisierung stattfindet[13] und Handschriften katalogisiert werden können.

Dieses wunderbare Erbe ist jedoch auch eine Herausforderung, wenn es um Erneuerung geht. Damit ist nicht unbedingt der Brandschutz gemeint, der den Betrieb die letzten Jahre stark belastete. Der Mix aus Alt und Neu zieht sich nicht nur durch die Räumlichkeiten, sondern auch durch die Findmittel. Neben einem handgeschriebenen Katalog nach Preußischen Instruktionen sind 400.000 Bände im Magazin nur per Mikrofiche durchsuchbar. In Zeiten elektronischer Kataloge warten noch viele Schätze darauf, durch elektronische Datenerfassung wieder zugänglich gemacht zu werden.

Der letzte Bau Mitte der 1970er Jahre ging der Idee der amerikanischen Public Library nach – viele Büroräume in den Etagen, wo man schnell mal eine Frage loswerden sollte. Was jedoch vergessen wurde, ist der kulturelle Unterschied der Nutzenden und Mitarbeiterinnen zwischen den USA und einer Hansestadt in Norddeutschland. Nun braucht es also Ideen für die nächsten Jahrzehnte. Eine erste Design-Thinking-Runde für die Themen „Jugendbibliothek“ und „Musikbibliothek“ ist abgeschlossen. Eine zweite Runde folgt nach dem Jubiläumsjahr in 2023 und dann wird zumindest der letzte Anbau innenarchitektonisch neu gedacht werden – der Rest steht bereits unter Denkmalschutz.

Wie feiert man ein solches Jubiläum? Für die erneute Herausgabe eines großen Buches zum 400. Jubiläum reichte es nicht. Für ein engagiertes Veranstaltungsprogramm jedoch schon. Wir feiern mit den Lübecker*innen. Ein entsprechendes Programm findet sich auf der Homepage der Bibliothek.[14]

Mehrere Plakataktionen in der Stadt weisen auf den 400. Geburtstag hin. Der Mönch ist eine Erinnerung an den ehemaligen Schlafsaal (und übrigens unser Musikbibliothekar). Vom Barockkonzert im Scharbausaal bis zur Mumin-Lesung in den Stadtteilbibliotheken spiegelt sich die Bibliothek der Hansestadt Lübeck mit all ihren Facetten wieder – einer Mischung aus Öffentlicher und wissenschaftlicher, historischer und Musikbibliothek.

Wer sich das alles noch nicht vorstellen kann, ist gerne zu einer der vielen Führungen eingeladen – bei zwei Millionen Touristen im Jahr in der Hansestadt bieten wir auch das regelmäßig an.

Published Online: 2022-05-31
Published in Print: 2022-06-27

© 2022 Gerald Schleiwies, publiziert von De Gruyter.

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