Abstract
Within German Jewish contemporary literature’s engagement with the Shoah and Second World War, a new approach has gained traction: auto/biography. This article examines characteristics of recent German Jewish auto/biographical family narratives and discusses newer genre poetics of auto/biography. If every biography is also autobiography, these contemporary auto/biographical family narratives showcase the other side of that poetological coin: preoccupied with self-definition and self-assurance, these first-person narrators seek to position themselves in the generational chain of their families through a reconstruction of their family histories. By way of example, the article offers a reading of Marina Frenk’s auto-fictional debut novel »ewig her und gar nicht wahr« (2020) as an innovative, radically fictionalized, and polyphonous family biography.
Jüdische Gegenwartsliteratur
In Katja Petrowskajas »Vielleicht Esther« (2014) findet sich zu Beginn eine Passage, die das Dilemma der Ich-Erzählerin auf den Punkt bringt und dabei nicht zuletzt ihre eigene generationelle Perspektive betont:
Als Lida, die ältere Schwester meiner Mutter, starb, habe ich begriffen, was das Wort Geschichte bedeutet. Mein Verlangen zu wissen war reif, ich war bereit gewesen, mich den Windmühlen der Erinnerung zu stellen, und dann ist sie gestorben. Ich stand da mit angehaltenem Atem, bereit zu fragen, und so bin ich stehen geblieben, und wäre es ein Comic gewesen, wäre meine Sprechblase leer. Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen. Ich hatte niemanden mehr, den ich hätte fragen können, der sich an diese Zeiten noch erinnern konnte. Was mir blieb: Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven. Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt. War ich nun erwachsen, weil Lida tot war? Ich fühlte mich der Geschichte ausgeliefert.[1]
Wenngleich hier »Geschichte« als unpersönliches, nicht durch familiäre Gespräche, sondern durch Quellenstudium vermitteltes Wissen gefasst wird, so schließen an diese Überlegung der Ich-Erzählerin doch gut 280 Seiten an, die mit detailliert geschilderter Recherche- und Rekonstruktionsarbeit die leere »Sprechblase« füllen und dabei Geschichte explizit und ausschließlich als Familiengeschichte perspektiveren. »Geschichten« ist denn auch die im Untertitel gegebene Gattungsbezeichnung, die den Kollektivsingular ›Geschichte‹ wieder in die die allgemeine Geschichte konstituierenden Einzelgeschichten auflöst. Die biographischen Skizzen einzelner Familienmitglieder fügen sich so zu einer Familiengeschichte zusammen, während sie gleichzeitig beständig eben das Verhältnis von Geschichten und Geschichte ausloten. Zum Knotenpunkt der Auseinandersetzung der Nachgeborenen mit der Geschichte wird die Familienbiographik.
Petrowskajas »Vielleicht Esther« ist repräsentativ für eine dominante Tendenz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur im Allgemeinen und der deutschsprachigen jüdischen Gegenwartsliteratur im Besonderen, also in Texten, die von jüdischen Autoren und Autorinnen verfasst und/oder in denen jüdische Lebenswelten, Erfahrungen oder Positionierungen beschrieben werden. Seit etwa der Jahrtausendwende haben Erzähltexte mit historischen Themen und insbesondere mit einem Interesse an Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Schoah Konjunktur.[2] Dabei lässt sich in der Auseinandersetzung mit Geschichte eine Dominanz auto/biographischer Zugänge beobachten, die Anlass bietet, sowohl den zeitgeschichtlichen und generationellen Kontext dieser Auseinandersetzung als auch die bereits als genrewandelnd bezeichneten Innovationen im auto/biographischen Erzählen genauer zu betrachten. Das Augenmerk der folgenden Überlegungen richtet sich dabei vor allem auf eine spezifische Form des Geschichtserzählens in der deutschsprachigen jüdischen Gegenwartsliteratur, die autobiographisches mit fremdbiographischem Erzählen verbindet, indem Familiengeschichte aus einer nachgeborenen Perspektive rekonstruiert wird. In einem ersten Schritt sollen Merkmale auto/biographischer Familienerzählungen sowie gattungstheoretische Überlegungen diskutiert werden, bevor in einem zweiten Schritt mit einer Lektüreskizze von Marina Frenks Debütroman »ewig her und gar nicht wahr« (2020) eine vergleichsweise radikale Neuerung familienbiographischen Erzählens vorgestellt wird.
Auto/biographische Familienerzählungen
Aleida Assmann begreift die »neue Erinnerungsliteratur«, deren Entstehung sie auf die Jahrzehnte seit den 1990er Jahren datiert, als »einen neuen Erinnerungsschub und eine späte Antwort auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.«[3] Diese Literatur stelle insofern ein »neues Genre« dar, als hier zu »Aufmerksamkeit, Sprachvermögen und Phantasie als den primären Antriebskräften der Literatur […] noch die eigene Erfahrung hinzu[tritt], die zum Anstoß oder Rohstoff der Literatur wird.«[4] Die besondere, nach Assmann genrebegründende Bedeutung der autobiographischen Fundierung der neueren Erinnerungsliteratur verweist auf die zeitgeschichtliche Position der Schreibenden, die als Nachgeborene der zweiten oder häufig dritten Generation den Übergang von Unmittelbarkeit zu Vermitteltheit der Erinnerung an Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Schoah erleben und reflektieren und dabei die schwindenden direkten Erinnerungsmöglichkeiten etwa im Gespräch mit sogenannten Zeitzeugen und -zeuginnen valorisieren. Die Reflexion des Übergangs vom unmittelbaren zum vermittelten Erinnern beinhaltet häufig eine Besinnung auf die eigene Position in der Kette der Generationen, die sich literarisch in einer Dominanz autobiographischer Zugänge zur Geschichte zeigt. So bildet die eigene Lebenserfahrung – die ganz unterschiedlich literarisch ausgedrückt, mal fiktionalisiert verfremdet, mal faktual dokumentiert werden kann – das autobiographische Fundament dieser Literatur:
In diesen Romanen wird die eigene Geschichte, die man in den Knochen hat, aus unterschiedlichen Blickwinkeln literarisch elaboriert. Die Autorinnen sind dabei strikt auf ihre eigene Generationenperspektive festgelegt, die als der spezifische Rohstoff und Fundus dieser Literatur bezeichnet werden kann.[5]
Ein Sonderfall dieser »neuen Erinnerungsliteratur« ist die Verbindung von Autobiographik und Familienbiographik, die in der jüngeren deutschsprachigen jüdischen Gegenwartsliteratur dominiert. Hier begegnen zum einen eher einem faktualen Erzählmodus verpflichtete, in ganz unterschiedlichem Maße sprachkünstlerisch geformte, explizit als Familienbiographien betitelte Werke wie etwa Adriana Altaras »Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie« (2011), Barbara Bišický-Ehrlichs »Sag’, dass es dir gut geht. Eine jüdische Familienchronik« (2018) und Maxim Leos »Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie« (2019) oder Biographien einzelner Familienangehöriger wie Johanna Adorjáns »Eine exklusive Liebe« (2009) und Shelly Kupferbergs »Isidor. Ein jüdisches Leben« (2022). Zum anderen finden sich häufig auch stärker fiktionalisierte Texte, die prominent mit familienbiographischen Erzählelementen arbeiten wie bspw. Vanessa F. Fogels »Sag es mir« (2010), Katja Petrowskajas »Vielleicht Esther« (2014), Dana von Suffrins »Otto« (2019), Marina Frenks »ewig her und gar nicht wahr« (2020), Lena Goreliks »Wer wir sind« (2021), Dmitrij Kapitelmans »Eine Formalie in Kiew« (2021) oder, in noch komplexerer Weise literarisiert, Sasha Marianna Salzmanns »Außer sich« (2017).
In diesen Texten wird Familienbiographisches zumeist explizit aus einer nachgeborenen, autobiographisch fundierten, teils autofiktional verfremdeten Position heraus von einem Ich-Erzähler oder, mit Blick auf die eben genannten Werke noch häufiger, von einer Ich-Erzählerin vermittelt. Angesichts der Dominanz solcher Verbindung von biographischem und autobiographischem Schreiben in der Erzählung von Familiengeschichten in der (nicht nur jüdischen) deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Daniel Fulda und Stephan Jaeger jüngst den neuen Gattungsbegriff der »autobiographischen Generationenerzählung« vorgeschlagen.[6] Ihr zentrales Charakteristikum sei eine Erzählsituation, in der »Menschen der Gegenwart auf die Suche nach den historischen Erfahrungen älterer Familienangehöriger gehen.«[7] Dieses Merkmal der Gattungsbestimmung trifft auch auf große Teile der auto/biographischen Familienerzählungen der jüdischen Gegenwartsliteratur zu, deren Interesse sich auf ein transgenerationelles Miteinander der Familie richtet (und sei es als eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Sinne einer Fokussierung auf das Nachleben in der Erinnerung). Dabei wird Familiengeschichte – anders als im klassischen Familienroman und anders als in der konventionellen Familienbiographik – gerade nicht von einer auktorialen Erzählinstanz erzählt, sondern von Ich-Erzählern und -Erzählerinnen, die Teil der Familie sind, über die sie schreiben, und deren Erkenntnisinteresse sich dabei zwar zum einen auf die Rekonstruktion der Vergangenheit richtet, zum anderen aber auch ganz zentral auf eine Selbstvergewisserung, sogar Selbstwerdung anhand der eigenen Familiengeschichte. »Zu erinnern bedeutet, zu verstehen, dass wir Gewordene sind«, räsoniert die autofiktional angelegte Ich-Erzählerin in Mirna Funks Debütroman »Winternähe« (2015).[8]
Anders als klassische, der Referenz auf eine außerliterarische Wirklichkeit verpflichtete Biographien oder Autobiographien sind auto/biographische Familienerzählungen also keinesfalls ausschließlich an ihrem historischen Gegenstand, dem Leben früherer Familienmitglieder, orientiert. Sondern es interessiert hier stets auch die Frage nach dem Verhältnis von Vergangenheit des Erzählten und Gegenwart des Erzählens, sodass die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte den Erzählenden, die sich dezidiert generationell als Kinder und Enkelkinder positionieren, einen genealogisch informierten Selbstentwurf ermöglicht.
In »Eine exklusive Liebe« recherchiert etwa Johanna Adorján nicht nur das Leben und Sterben ihrer Großeltern, ungarischer Schoah-Überlebender, sondern reflektiert als autobiographische Erzählerin auch ihre Position als Tochter einer Nichtjüdin und eines Juden. Ihr Großvater väterlicherseits habe auch einmal einen autobiographischen Text geschrieben, der »eine durch und durch jüdische Familiengeschichte« gewesen sei.[9] Dass er seinen Kindern und Enkelkindern jedoch überhaupt kein jüdisches Wissen vermittelt habe, kommentiert die Enkelin betroffen:
Wenn ich ganz ehrlich bin, macht mich das nicht nur traurig, es macht mich sogar ein bisschen wütend. Denn auch mir hat er dadurch einen Teil meiner Identität gestohlen, meinem Selbstverständnis das Selbstverständliche genommen, mir eine Lücke vererbt, die mir wie ein Geheimnis erscheint. Mir fehlt ein Stück von mir. Ich vermisse etwas und weiß nicht einmal genau, was.[10]
Indem sie das Leben und Sterben ihrer Großeltern rekonstruiert, macht sich die Ich-Erzählerin auch auf die Suche nach diesem ihr fehlenden ›Etwas‹: Die Familienbiographie informiert und prägt die Autobiographie.
Hierin liegt ein Verweis auf ein Merkmal klassischen biographischen Erzählens, das die neueren auto/biographischen Erzählungen teilen: Bewegen sich Biographien immer zwischen dem Damals des biographischen Objekts und dem Heute des schreibenden Subjekts, so implizieren sie dabei doch auch eine dritte temporale Dimension, indem sie am Beispiel des fremden Lebens Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben aufzeigen und so auf die Zukunft verweisen. Eine solche Verdreifachung der Zeitstruktur ist in auto/biographischen Familienerzählungen – die ja, wie bspw. Assmanns eingangs zitierte Ausführungen betonen, in den Kontext der Erinnerungsliteratur gehören – prominent. Die Gegenwart des biographisch arbeitenden, erzählenden Ich ist hier der Ausgangspunkt einer Befragung und Rekonstruktion der Vergangenheit, aus der sich dann ein Impuls, eine Forderung oder Mahnung zur Gestaltung der Zukunft ableitet. Mit Blick auf das die auto/biographischen Familienerzählungen thematisch dominierende Interesse an Schoah und Zweitem Weltkrieg erwächst die Betonung der zukunftsgerichteten Impulse des Erinnerns und Erzählens aus der Reflexion der generationellen Position der Schreibenden jüdischer Gegenwartsliteratur. Diese gehören zumeist der Enkelgeneration an, die sich als »bridging generation«[11] – also als zumeist letzte Generation, die im Erwachsenenalter noch persönlich Menschen, die Weltkrieg und Schoah überlebt haben, kannte – in der Verantwortung sehen kann, den Übergang vom unmittelbaren Erinnern der sogenannten Zeitzeugen und -zeuginnen zum medial vermittelten Erinnern der nachkommenden Generationen zu gestalten.[12]
Faktizität und Fiktionalität, Referenzialität und Literarizität
Ist für die jüngere Biographieforschung die Erkenntnis zentral, dass jede Biographie auch eine Autobiographie ist,[13] so gilt also für die auto/biographisch erzählenden Familiengeschichten häufig gleichsam das Gegenteil: Diese autobiographischen Texte sind deswegen auch Biographien, weil die zumeist handlungsbestimmende Selbstvergewisserung des erzählenden Ich über die Selbstverortung in der Kette der Generationen und also über die Rekonstruktion derselben anhand von biographischen Annäherungen an Familienmitglieder und an Familiengeschichte betrieben wird. Dabei wird das spannungsvolle Verhältnis von erzählter Vergangenheit und Gegenwart des Erzählens in den Blick gerückt. Denn anders als im klassischen historischen Roman, der ebenfalls rekonstruierte Vergangenheit zur Darstellung bringt, aber die ihm zugrundeliegende Recherche nicht offenlegt, und anders auch als in der konventionellen Biographik, die zwar ihre Quellen offenbart, aber ihre Recherche nicht notwendig selbst thematisiert, verweisen die neueren transgenerationell erzählenden auto/biographischen Familienerzählungen explizit auf diese pragmatische Ebene. Hier werden metahistoriographische Darstellungstechniken – etwa Praktiken des Recherchierens und Rekonstruierens, des Erzählens erzählter Geschichte, des Imaginierens und Erfindens sowie des Erinnerns und Reflektierens – prominent ausgestellt.[14] So ist z. B. Adorjáns »Eine exklusive Liebe« durchsetzt von Beschreibungen ihrer Recherchen, von Gesprächen mit Verwandten und mit Freunden ihrer verstorbenen Großeltern, von Schilderungen der Mühen der Erinnerung, zu denen sie andere und sich selbst zwingt. Dabei markiert sie den Übergang von fremder zu eigener Erinnerung als Quelle ihrer Rekonstruktionen genau:
In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, 1971, […] zogen meine Großeltern in das Haus in Charlottenlund, in dem sie den Rest ihres Lebens wohnen sollten und das mir im Gedächtnis ist wie kein anderes Haus auf der Welt, nicht einmal die Häuser, in denen wir gewohnt haben. Ab hier bin ich nicht mehr auf die Erinnerungen anderer angewiesen, ich erinnere mich selbst an fast jedes Detail. Hier stand eine Kommode, dort hing ein Bild – ich habe alles in mir gespeichert, als wäre ich damals mit der Kamera hindurchgegangen und hätte einen Film gedreht.[15]
Wenn es in den auto/biographischen Erzählungen um Versuche der Aneignung von Familien- und gleichzeitig von allgemeiner Geschichte durch Nachgeborene geht, dann steht dabei nicht allein der Vorsatz im Zentrum, die zeitgenössischen Erfahrungen und Erinnerungen zu rekonstruieren und zu bewahren, sondern gleichzeitig und vor allem die Frage, ob und wie dies möglich ist.[16] Als ein weiteres zentrales Charakteristikum der auto/biographischen Familienerzählungen kann also eine produktive »Spannung zwischen geschichtsreferentiellem und autoreferentiellem Erzählen« ausgemacht werden.[17]
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die – von tradierten Mustern der Autobiographik ebenso wie der Biographik abweichende – Vermischung von Fakt und Fiktion.[18] Der Tatsache, dass nicht nur individuelle Geschichte oder Familiengeschichte, sondern auch die Geschichte narrativ verfasst ist, tragen diese Erzählungen Rechnung, indem sie sich für das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität interessieren und es gleichzeitig verunklaren:
In der autobiographischen Familienerzählung als der Boomgattung des deutschsprachigen Geschichtserzählens im beginnenden 21. Jahrhundert ist die herkömmliche Absetzung der Literatur vom faktualen Aussagemodus hinfällig geworden.[19]
Eng mit der Frage nach Faktizität und Fiktionalität verbunden ist die für auto/biographisches Erzählen zentrale Frage nach der Referenzialität, also nach dem Verhältnis von (außertextueller) Wirklichkeit und ihrer Beschreibung. In Shelly Kupferbergs Biographie ihres Urgroßonkels, »Isidor. Ein jüdisches Leben«, betont die vor allem als Journalistin arbeitende und sich auch hier einem Erzählmodus der Faktizität verpflichtende Autorin und Ich-Erzählerin ihre ausführlichen und akribischen Recherchen. Gleichzeitig deutet sie das Moment der Konstruktion in der Rekonstruktion von Vergangenheit an: »Ich suche nach Antworten, versuche, diese Lebenswege zu rekonstruieren.«[20] Bezeichnend ist, dass über weite Strecken die recherchierten Quellen – etwa Egodokumente wie Briefe und Tagebücher, aber auch offizielle Dokumente wie Rechnungen, Protokolle oder Inventare – kaum benannt und zitiert werden, sondern eher subkutan in die narrativierten Alltagsepisoden einfließen. So ist die Biographie zwar quellen- und faktenbasiert und der faktuale Erzählmodus lädt Leser und Leserinnen zu einem Referenzpakt ein, aber in der Präsentation der biographischen Episoden überwiegt die auf Nachvollziehbarkeit und Nahbarkeit ausgerichtete Narrativierung.
Auto/biographische Familienerzählungen können sich gleichsam ganz aufseiten der Literarizität verorten und gerade dabei einen referenziellen Anspruch implizieren, im Sinne der faktischen Verwobenheit der Nachgeborenen in die Familiengeschichte vergangener Generationen wahrhaftig darzustellen. Dies soll in der folgenden Lektüre einer nicht nur innovativ narrativierten, sondern auch stark fiktionalisierten familienbiographischen Erzählung, Marina Frenks Debütroman »ewig her und gar nicht wahr«, gezeigt werden.
Lektüreskizze. Marina Frenks »ewig her und gar nicht wahr«
Im Zentrum des Romans[21] stehen konflikt- und wechselhafte nationale, kulturelle, sprachliche und religiöse Zugehörigkeiten. Der Roman, der Autofiktion und Familienbiographie effektvoll verbindet, präsentiert ein Mosaik aus Episoden, in dem die Erfahrungen, Erinnerungen und Träume der Ich-Erzählerin Kira Liberman gleichberechtigt neben biographischen Skizzen von Familienangehörigen und Familiengeschichten von Verfolgung und Flucht, von früherem Leben und Überleben in der Sowjetunion stehen. Erzählt wird so nicht allein vom mühsamen Selbstentwurf einer – wie die Autorin im Kindesalter als sogenannter Kontingentflüchtling mit ihrer Familie aus Moldawien nach Deutschland übersiedelten – jungen Frau, die als Migrantin, ›Vaterjüdin‹, Künstlerin und Mutter ihre gesellschaftlichen und familiären Positionen hinterfragt, sondern es entsteht eine polyphone Familienbiographie, die verschiedene Zeiten und Orte verknüpft.
In der erzählerischen Gestaltung ist die präsentische Erzählweise auffällig, die die drei Erzählebenen des Romans verbindet: die Erzählgegenwart Kiras im zeitgenössischen Berlin, die Erzählung sie prägender früherer Erlebnisse und die zahlreichen Ereignisse aus dem Leben verschiedener Familienmitglieder. Dass die biographischen Episoden, die vor Kiras Lebenszeit datieren, ebenfalls im Präsens erzählt werden, verweist auf die Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheiten für die autofiktionale Ich-Erzählerin. Dass außerdem zwar die narrative Position einer Ich-Erzählerin allein der Zentralfigur Kira vorbehalten ist, aber auch die familienbiographischen Skizzen intern fokalisiert sind, also Innensichten in die Gefühls- und Gedankenwelt der derart biographisch angenäherten familiären Figuren bieten, lässt den Roman zu einer mehrstimmigen Familiengeschichte werden, in der die Verwobenheit der Nachgeborenen in das Gewebe der Familien sowohl raumzeitlich als auch psychologisch ausgelotet wird.
Kiras Wirklichkeits- und Selbsterfahrung wird durch Erinnerungen, Träume, Phantasien, vielleicht auch Halluzinationen verunsichert, wodurch eine von ihr programmatisch behauptete – und durch die Zeit- und Ortssprünge der präsentisch erzählten Episoden verstärkte – Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem entsteht: »Chronologie ist erfunden, es gibt keine. Sie ist eine Lüge, wie alle Systeme.« (S. 215) Ihrem Wirklichkeits- und Selbstverlust begegnet Kira mit dem Versuch, sich ihrer selbst, ihres Selbsts zu vergewissern. Dies bedeutet, sich ihrer Herkunft im geographischen, vor allem aber im biographischen Sinn zu versichern, denn Herkunft kann zwar an einen Ort gebunden sein, aber: »Das Wesentliche liegt irgendwo anders als in der Geographie«. (S. 163) Herkunft im biographischen Sinn bedeutet Herkunft als Familiengeschichte. Dabei stellt sich Familie zum einen lapidar als Genealogie dar, wie Kira in einem Gespräch mit ihrem kleinen Sohn Karl erklärt: »›Mama, warum lebe ich?‹, fragt Karl. ›Weil ich dich geboren habe.‹ ›Warum lebst du?‹ ›Weil Oma Lena mich geboren hat.‹« (S. 7) Diese matrilineare Genealogie stellt Frauen als Mütter ins Zentrum der Familie und erklärt gleichzeitig die Kreativität, d. h. lebensschaffende Kraft der Mutterschaft zum ›Sinn des Lebens‹. Für Kira ist ihre Mutterschaft – gerade während depressiver Phasen – ein Lebensgrund: »Ich bin zu kleingeistig für Suizid […]. Außerdem braucht Karl mich.« (S. 155) Zum anderen nähert sich der Roman einer Familiengeschichte aber auch an, indem die genealogische Auflistung narrativ erweitert wird, wobei wiederum besonders die Frauen der Familie, die Mutter, Großmutter und Großtante, als Gesprächspartnerinnen bei Kiras Annäherungsversuchen auftreten: »Erzähl mir aus deinem Leben, sage ich und lege meinen Kopf auf Oma Sarahs Schulter.« (S. 88)
Gerade weil der Verlust der Herkunft das zentrale Thema des Romans ist, erscheint sie hier als etwas, was beansprucht werden muss durch die in der Familie freiwillig oder unfreiwillig geteilte Aufgabe der Erinnerung und Vergegenwärtigung der unmittelbar oder mittelbar gemeinsamen Vergangenheit.[22] Herkunft stellt ihrerseits aber auch Ansprüche: In einer fast tragikomischen Szene streiten sich Kiras Mutter und Tante, ob ein roter Stern oder ein Davidstern das Grab von Kiras Vater schmücken solle (vgl. S. 134). Dabei wird Herkunft nicht nur als Erinnerung beansprucht, sondern auch angeeignet – wofür nicht zuletzt die imaginative Verschmelzung der Erfahrungswelten der autofiktionalen Ich-Erzählerin mit derjenigen der biographisch angenäherten Familienmitglieder steht. Dies geschieht etwa in einer als Traumsequenz oder als tagträumerische Phantasie zu charakterisierenden Episode, die an der Stelle der jedem Kapitel vorangestellten Orts- und Zeitangabe lapidar überschrieben ist: »(In einem Frachtwaggon, irgendwo, irgendwann)« (S. 207, Hervorhebung im Original). Der Waggon, der an deutsche Deportationszüge ebenso wie an sowjetische Evakuationszüge erinnert, ist ein Nicht-Ort, der der Bestimmbarkeit von Orten und Zeiten widerspricht und an dem sich verschiedene Zeiten überlagern: Kira findet sich dort jünger, aber schon mit ihrem neugeborenen Kind, umgeben von ihren Eltern und Großeltern sowie ihrem entfremdeten deutschen Partner und dessen in SS-Uniform gekleidetem Großvater inmitten vieler anderer Menschen. Sie beobachtet ihre eigenen Verwandten, die im Waggon jünger sind, als Kira sie je kennen konnte, und sie sieht die Eltern ihres Partners Marc, die Großeltern ihres Kindes, die sie nie kennenlernte. Es kommen in dem Waggon also nähere und fernere Vergangenheiten sowie reale und irreale Möglichkeiten gegenwärtig zusammen. Die Schlusspointe der Sequenz bindet die Phantasie explizit an die familienbiographische Struktur des Romans: »Ein Waggon voller Familie fährt in seine unbekannte Bestimmung« (S. 213).
Frenks stark fiktionalisierende Erzählweise in ihrem episodischen Roman legt den Fokus auf die autofiktionale Zentralfigur, deren Gegenwart und Vergangenheit mit biographischen Fragmenten verschiedener Familienangehöriger collagiert wird. So verbindet »ewig her und gar nicht wahr« drei Modi des Schreibens von Lebensgeschichten: Mit Blick auf die Autorin ist der Roman autofiktional, auf der Ebene der ihr eigenes Leben erzählenden Ich-Erzählerin autobiographisch und in den Erzählungen von Ereignissen aus den Leben anderer Familienangehöriger biographisch. Gemeinsamer Nenner all dieser erzählerischen Modi ist, dass sie Möglichkeiten der Erinnerung von Vergangenheit ausloten und dabei nicht nur die Geschichtlichkeit der Gegenwart, sondern die Familiengeschichtlichkeit jeder/jedes Einzelnen reflektieren.
Fazit
Wenn sich deutschsprachige jüdische Gegenwartsliteratur für Geschichte interessiert, dann zumeist für transgenerationelle Geschichte, die als (eigene) Familiengeschichte in den Blick gerückt wird. Dabei wird das fremdbiographische Schreiben als autobiographischer Prozess dargestellt, indem das familienbiographische Erzählen der Vergangenheit sich mit der autobiographischen Reflexion der eigenen Erzählgegenwart verbindet und eher Kontinuitäten denn Brüche im Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart fokussiert werden. Familiäre Kenntnis wird so zum Motor sowohl historischer als auch individueller Erkenntnis.
Ebenso wie mit den autobiographisch fundierten oder autofiktionalen Erzählinstanzen die Grenze zwischen Autor/Autorin und Erzähler/Erzählerin verschwimmt, verunklart sich die Unterscheidung von faktualer und fiktionaler Erzählung der Vergangenheit gerade über die Thematisierung des gegenwärtigen Standpunkts ihrer Rekonstruktion. Der Anker solcher Rekonstruktionsarbeit ist die Familie, sind die Verwandtschaftsbeziehungen und die Generationenfolge. Pointiert gesagt ist hier Generation Gedächtniskategorie und Generationalität ein Muster, das die Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen strukturiert. Biographik und Autobiographik sind die – in der Gegenwartsliteratur innovativ anverwandelten – Methoden dieser Erinnerungsarbeit.
Damit ist auch etwas zum Status von Literatur im Verhältnis zur Geschichtsschreibung gesagt, denn die gegenwärtige Bedeutung auto/biographischer Familienerzählungen verdankt sich der Tatsache, dass sich die Gegenwart der deutschsprachigen jüdischen Gegenwartsliteratur als eine Zeit des Übergangs vom unmittelbaren zum vermittelten Erinnern an Schoah und Zweiten Weltkrieg darstellt. Gerade im Kontext deutscher ›Erinnerungskultur‹, die über weite Strecken ein öffentliches Gedenken ist, das ohne familiäres Erinnern auskommt, sodass die Nachkommen der Täter und Täterinnen sowie der Zuschauer und Zuschauerinnen häufig in Unkenntnis des Lebens ihrer Familienmitglieder während des Nationalsozialismus bleiben, stellt die jüdische Literatur mit ihrem dezidierten Fokus auf familiär tradiertes Erinnern eine Alternative vor. Hier ist die Literatur – vom Wahrheitsanspruch der faktual dokumentierenden bis zum Wahrhaftigkeitsanspruch der fiktionalisierend imaginierenden Erzählungen – integraler Bestandteil des transgenerationellen Erinnerns, weil sie dieses sowohl widerspiegelt als auch vorantreibt, indem sie Möglichkeiten, wie sich Nachgeborene zur Geschichte ins Verhältnis setzen und die eigene (Familien-)Geschichtlichkeit anerkennen können, durchdenkt und durcharbeitet.
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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