Editorial
Selbstorganisation, Partizipation und Recall-Strategien – das sind die Themen der Beiträge dieses ARBEIT-Hefts.
Bruno Albert und Stefan Sauer stellen die Frage: Arbeit: Projektbasiert, selbstorganisiert, wertgeschätzt? Ihnen kommt es darauf an, das mit selbstorganisierter Projektarbeit verbundene Versprechen der größeren Wertschätzung der Arbeit einer genaueren empirischen Analyse zu unterziehen und dies vor allem auch quantitativ zu unterfüttern. Sie unterscheiden zwischen „formeller“ bzw. „vordergründiger“ und „gelebter“ Selbstorganisation von Projektteams anhand eines von ihnen erarbeiteten Kriterienkatalogs. Als wesentliches Element einer gelebten Selbstorganisation setzen sie die reale Verfügungsgewalt der Teams über Ressourcen, Arbeitsaufgaben und Arbeitszeit an. Anhand einer Befragung von über 1000 Beschäftigten aus dem Engineering in neun deutschen Maschinenbauunternehmen prüfen sie, wie häufig gelebte Selbstorganisation im Untersuchungsfeld vorkommt, inwieweit agile Arbeitskonzepte mit echter Selbstorganisation verbunden sind und wie sich formelle und gelebte Selbstorganisation auf die Wertschätzung der Arbeit auswirken. Die Ergebnisse zeigen, dass vordergründige Selbstorganisation in der Tat im Untersuchungsfeld deutlich seltener als gelebte Selbstorganisation ist und dass sogar bei agiler Arbeit nicht selten angegeben wird, man verfüge über wenig oder keine Selbstorganisation. Gelebte Selbstorganisation führte dazu, dass die Beschäftigten sich in höherem Maße wertgeschätzt fühlten, doch auch vordergründige Selbstorganisation hatte entgegen der Ausgangshypothese bereits einen positiven, wenn auch schwächeren Einfluss auf die Wertschätzung.
Cornelia Gerdenitsch, Nadja Bergmann, Anke Schneider, Myriam Gaitsch und Astrid Schöggl wenden sich in ihrem Beitrag Geschlecht und digitale Transformation der Frage zu, wie die Chancen der Einführung digitaler Technlogien dazu genutzt werden können, geschlechtsspezifische Machtstrukturen zu verändern. Wie sie mit Judy Wajcman festhalten, führt die Anwendung neuer Arbeitstechnologien per se meist nicht zur Auflösung von (Geschlechter-)Hierarchien, sondern eher zu deren Reproduktion. Um das zu ändern, ist die umfassende Einbindung aller Beschäftigten(gruppen) erforderlich. In zwei Fallstudien konnten die Autorinnen erproben, was partizipative Ansätze leisten können, um geschlechtsspezifische Aspekte einer Digitalisierung zu erkennen und deren Potenziale für die Veränderung von Machtstrukturen zu heben. In einem der beiden Fälle ergab ein Reflexionsworkshop, dass die Digitalisierung eines Arbeitsprozesses zwar Produktivitätsgewinne gebracht hatte, aber auch eine Verschiebung der Machtbalance zugunsten der männlich geprägten IT-Bereiche und eine Entwertung des infomellen Wissens der weiblichen Arbeitskräfte am Schalter. In dem anderen Fall war eine neu eingeführte digitale Kollaborationsplattform von den Beschäftigten wenig genutzt worden. Es zeigte sich, dass die Sekretärinnen, die in den Einführungsprozess nicht eingebunden worden waren, keinen Nutzen in dieser Plattform sahen und sie als unpraktisch bewerteten. In einem Workshop erarbeiteten sie zahlreiche konkrete Ideen, wie die Plattform besser gestaltet werden könnte. Die Autorinnen entwickeln aus der Analyse Empfehlungen zur Gestaltung partizipativer Einführungsprozesse digitaler Technologien.
Tobias Gebel, Andrea Hense und Franziska Schork untersuchen in ihrem Beitrag Total Recall sekundäranalytisch einen diskontinuierlichen Beschäftigungsverlauf, der in der deutschen Arbeitsmarktforschung bislang wenig Beachtunggefunden hat, aber in der empirischen Realität eine bedeutende Rolle spielt: den Recall, also die Wiederbeschäftigung bei einem früheren Arbeitgeber. Ihr Interesse gilt dabei speziell der Bedeutung, die diese Option für die öffentliche Arbeitsvermittlung hat. Da der Recall eine Abfolge Beschäftigung – Freisetzung –Wiederbeschäftigung impliziert, ist die Arbeitsagentur im Fall, dass die betreffenden Personen sich in der Freisetzungsphase arbeitslos melden, regelmäßig involviert. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt des Beitrags: Unter welchen Bedingungen werden Recall-Optionen im Vermittlungsgespräch verfolgt bzw. verworfen? Welche Aktivitäten zur Förderung bzw. Beendigung einer Recall-Strategie lassen sich identifizieren? Welche Erwartungen verbinden die Arbeitssuchenden in diesem Kontext mit einem Recall? Die Autor:innen konnten sich für ihre Analyse auf eine Evaluationsstudie zum Modellprojekt „Kunden aktivieren – Integrationsleistung verbessern“ der Bundesagentur für Arbeit stützen. Diese enthielt die dokumentierten Vermittlungsgespräche zwischen der erwerbslosen Person und der Vermittlungsfachkraft, die Leitfadeninterviews der Primärforschenden mit den Vermittlungsfachkräften und den Erwerbslosen sowie eine Reihe von ergänzenden Informationen.
Die nächsten beiden Hefte der ARBEIT sind offene Hefte. Den Schwerpunkt „Methodische Herausforderungen der Arbeitsforschung“ wird das zweite Heft des 34. Jahrgangs (2025) behandeln; Nr. 4 dieses Jahrgangs wird ein Schwerpunktheft mit dem Thema „Zukunft der Industriearbeit – Jenseits von Industrie 4.0“ sein.
© 2024 Redaktion, publiziert von De Gruyter
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.