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Der ökologische Imperativ als Paradigma einer engagierten Kunstgeschichte

  • Peter J. Schneemann

    Peter J. Schneemann ist seit 2001 Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Bern. Er leitet seit 2022 das SNF-Forschungsprojekt Öffentlichkeiten der Kunst: Die Geschichte der Schweizerischen Plastikausstellung (SPA) und seit 2020 das SNF-Sinergia-Forschungsprojekt Mediating the Ecological Imperative: Formats and Modes of Engagement. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) und der Academia Europaea (London). Herausgeber der Schriftenreihe Kunstgeschichten der Gegenwart.

Published/Copyright: November 23, 2022
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Das Stichwort der Ökologie steht heute wie kaum ein anderes paradigmatisch für die Wahrnehmung von Dringlichkeit, Handlungsauftrag und Engagement. Die Diskurse der Ökologie adressieren alle gesellschaftlichen Bereiche, von der Wirtschaft über das Recht bis hin zur Kultur und fragen gar nach einer »Ökologie ohne Natur«.[1] Die intensivierten Reflexionen über die Stellung des Menschen in der Welt haben Konsequenzen für die Selbstdefinitionen und die Denkfiguren sämtlicher Disziplinen, so auch für die Fragestellungen der Kunstgeschichte. Modelle der Interdependenzen aller Lebensprozesse und Dinglichkeiten werden angesichts des Befunds einer dramatischen Umweltkrise überführt in Handlungsappelle: Eco-Action, Eco-Activism oder Eco-Criticism haben die Künste erreicht.

Die Forderungen nach Engagement als neue Haltung werden sowohl in der Praxis der Kunst verhandelt, als auch im Umgang mit ihr validiert. Die Verschränkung zwischen Produktion und Rezeption ist vielschichtig und lädt sich wechselseitig auf, nicht zuletzt durch die gemeinsame Teilhabe an einem Diskurs, der weniger von der Spezifizität der einzelnen Bereiche als vielmehr von disziplinenübergreifenden Denkmodellen geprägt ist.

Aus einer Diagnose der Krise heraus legitimieren sich Positionen und Rhetoriken dabei über die Frage nach Identitäten ebenso wie über ethische Wertesysteme. Die Wahrnehmung von Dringlichkeit gegenüber der Umweltkrise lässt auch die Kunstgeschichte erneut nach ihrem Status in der Gesellschaft fragen. Wie verortet sich das Fach gegenüber der gesellschaftlichen Erwartung, aktiv eine Rolle in der Lösung der Umweltkrise zu übernehmen? Wie kann es gesellschaftliche Relevanz zeigen?

In Anlehnung an Hans Jonas’ einflussreiche Publikation von 1979 mag man, wenn auch unter neuen Vorzeichen, vom »ökologischen Imperativ« sprechen.[2]

Als hermeneutische Disziplin sieht sich die Kunstgeschichte mit einem ethischen Appell konfrontiert, der die Haltung der Betrachtung, der Deutung und Kritik erweitert. Als neuer Anspruch strebt die engagierte Haltung nach ethisch orientierten Praktiken. Bevor man pauschal den Ruf nach normativen Setzungen versucht zu diskutieren, mögen diese Praktiken einen Ansatz bieten, etablierte, konventionelle Paradigmen auf ihre Wandlung im Kontext des ökologischen Engagements zu überprüfen. Wie diskutieren wir eine Ästhetik des Engagements? Wie verschiebt sich die Praxis kunsthistorischer Betrachtung?

Bunte Coffeetable books und auch manche Kunstausstellungen vermengen dabei rasch die Ebenen. Geht es um ein Thema? Können wir eine ökologische Ikonographie benennen? Geht es um die Beschreibung und Analyse einer neuen künstlerischen Strategie oder gar einer eigenen Kunstgattung? Die Versuchungen solcher Kategorisierungen und Definitionen, was eine ökologische engagierte Kunst ausmachen würde, sind ebenso wenig befriedigend wie ein kunsthistorischer Ansatz, eben diese Werke im Kontext ökologischer Diskurse wiederum zu affirmieren.

Mein kurzer Beitrag möchte also »Engagement« und »Ökologie« nicht als Begriffe der Abgrenzung verstehen, sondern ihr paradigmatisches Potential im Sinne einer Herausforderung diskutieren. Spannender als eine normative Festschreibung erscheinen die Fragen nach den Konsequenzen des »ökologischen Imperativs« für das Selbstverständnis von Kultur und nach den Revisionen kunsthistorischer Modelle und kuratorischer Praxis. Der pathetische Ton, der in einer solchen Formulierung anklingt, ist sicher eines der Probleme einer Reflexion, die auf größere Zusammenhänge, ja auf planetarische Ordnungen und geologische Zeitepochen (»deep time«), verweist und neue Weltdeutungen jenseits der Präsenz des Menschen entwerfen möchte. Von so viel Anspruch kann auch die Kunstgeschichte in der fleißigen Rezeption philosophischer Gedankenbögen ganz benommen werden. Vielleicht lässt sich aber die Herausforderung in konkreten Aspekten bescheidener und damit klarer benennen, ausgehend von einer Beschreibung von Verschiebungen des Selbstverständnisses und der Ansprüche.

Ich möchte im Folgenden einzelne »Haltungen« unseres Faches herausgreifen, an denen nach meiner Überzeugung die Herausforderungen, die Chancen und auch Schwierigkeiten der Kunstgeschichte als einer geisteswissenschaftlichen Disziplin deutlich werden. Die Kunstgeschichte zeigt sich dabei sowohl als eine historische Wissenschaft als auch im Dialog mit aktuellen künstlerischen Ansprüchen und Strategien.

Distanzverlust

Indizien für ein frühes Bewusstsein einer Ästhetik des Anthropozäns sind rasch gefunden, etwa in der Landschaftsmalerei. Die ökologische Perspektive hat zu Untersuchungen geführt, die in jeder Epoche nicht nur intensive Auseinandersetzungen mit Naturphänomenen identifiziert, sondern erstaunlich exakte Dokumentationen von menschlichen Eingriffen, Zerstörungen, von Verlusten und Katastrophen zutage fördern. Die neuen Fragestellungen fokussieren Umformungsprozesse von Kulturlandschaften, Ästhetiken und Politiken der Extraktion, Transformationen von Stofflichkeit oder Interdependenzen ökologischer Räume. Mehr noch, die Kunst erweist sich dabei als Medium, in dem Stofflichkeiten in ihrer eigenen Agency verhandelt werden. Das Format »Landschaft« als Sinnbild für einen anthropozentrischen Ordnungsentwurf der Welt erfährt eine Neulektüre und Erweiterung. Der Einbezug von Migrationsbewegungen und der Kolonialisierungsgeschichte erschließen endlich die politischen Dimensionen des Diskurses. Die ästhetische Kategorie der Landschaft ist nicht länger ohne die Frage nach Territorien und indigenen Rechten zu verhandeln. Was heißt diese Befragung für unsere Methoden?

Die Kunstgeschichte hat sich als Leitdisziplin für die Analyse von Prozessen des Abbildens, des Dokumentierens und des Zeigens erwiesen. Aktivitäten des Schauens und des Beobachtens stehen dabei im Zentrum. Kunstcharakter und Erkenntniswert konnten dabei in den selbstreferentiellen Thematisierungen der Bedingtheiten von Sinnesorgan und Medium gewürdigt werden. Als stilgeschichtliche Konstruktion mündete die Erzählung der Moderne dabei in die Vorstellung einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Selbstbefragung der formalen Ausdrucksmittel.

Die ökologischen Fragestellungen haben solche Modelle der Medienreflexion radikal erweitert. Ob Fototechnik, Gemäldepigment oder Plastik – welche Prozesse zwischen Naturstoff und Kunststoff, welche Transmutationen verbinden sich mit Abbildungsprozessen? Welche »Selbstabbildungspotentiale«, etwa von fotosynthetisch aktiven Kleinstorganismen, aber auch von unbelebten Dingen, sind in Bezug zu setzen zum künstlerischen Akt der Mimesis? Was heisst es, »Pollution« nicht nur als Dunst zu dokumentieren, sondern ebenso künstlerisch als Stofflichkeit zu begreifen, die sich niederschlägt und von Organismen aufgenommen wird?

Die Perspektive des Ökologischen richtet sich dabei nicht nur auf Produktionsästhetiken, sondern vor allem auf die Beobachtung, wie wir unsere Rezeptionspraktiken erweitern. Wenn die »Environmental Humanities« nach dem Selbstverständnis der Kultur fragen, so sind konkrete Anbindungen an Diskurse gegeben, die auch die Hierarchie der Sinne adressieren und den Status von Verkörperung und Affektivität neu fassen. So votiert etwa die Sozialanthropologie für ein verstärktes Bewusstsein der multisensorischen Körperlichkeit und damit eine Revision unserer Beziehung zur Umwelt.[3] In der Kunstgeschichte gewinnt die ideologiekritische Neubewertung der Dominanz des Augensinnes in diesem Kontext an Bedeutung.[4] Die Engführung der Kunstgeschichte zu einer Bildwissenschaft stößt hier an Grenzen. Das Empfinden einer großen Krise in der Beziehung zur Umwelt kann auch als Krise der medialen Vermittlung verstanden werden. Es wird um die Beschreibung von Potentialen der Kunst gerungen, die über die Haltung des Abbildens weit hinausgehen. Die Beachtung des Hörens, der Berührung als taktile Erfahrung, ja des Riechens und Schmeckens als Sensorium des Körpers führt zu einer Erweiterung etablierter Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle, wie sie auch die Kunst praktiziert und sich anbietet, diese zu »erüben«.

Es können eine Vielzahl von Ansätzen der Revisionen des Dispositivs von Phänomen und dem Zugang zu diesem benannt werden. Die Medienreflexion betrifft die Wirkform ebenso wie Rezeption und Deutung. Wir möchten den Dingen nicht mehr gegenüberstehen, sondern uns als Teil eines Ganzen verstehen, als involvierte Agency agieren.[5]

Auf der Seite der ästhetischen Form interessiert sich diese Kunstgeschichte für Wahrnehmungs- und Handlungsräume. Das revidierte Modell der Landschaft, um bei meinem Beispiel zu bleiben, wird nicht nur als Bildmotiv begriffen, sondern in seinem Potential eines performativen Raumes konzeptualisiert. Historische Positionen aus den 1960er und 1970er Jahren, wie die von Joan Jonas, Anne Halprin oder Judy Chicago, treten nicht zufällig auf internationalen Ausstellungen der Gegenwart, in Kassel oder Venedig in den Vordergrund. Sie werden zur Referenz nicht nur eco-feministischer Diskurse, die auch Positionen von Ana Mendieta und Regina José Galindo umfassen, sondern auch der kollektiven Bewegung in der Landschaft (durch Künstler wie Hamish Fulton) und gesellschaftlicher Entwürfe von Lebensmodellen.

Jenseits der Konservierung

Diese Hinwendung zu künstlerischen Praktiken des Ephemeren und Performativen beschreibt eine Auseinandersetzung mit den Implikationen von Engagement; sie stehen für Gesten der körperlichen Annäherung und Einschreibung. Damit werden auch die zentralen Institutionen der Disziplin adressiert. Wie sind die historischen Regelwerke von Ausstellung und Museum als Praktiken des Bewahrens, Ordnens und Zeigens im Sinne des ökologischen Engagements zu lesen? Erscheinen sie noch geeignet, die Befragung unserer Teilhabe an der Welt zu transformieren? Naturhistorische Museen und anthropologische Sammlungen werden einbezogen in künstlerische, kuratorische und kunsthistorische Problematisierungen etablierter Wissenskulturen. Auch in der kunsthistorischen Sammlung müssen die Implikationen vom isolierten Objekt, von Schutzraum und Reinraum, von Vitrine und Klimatisierung diskutiert werden. In der Gefahr, die von Mikroorganismen, von Schimmel und Leben für die Objekte der Kunst ausgeht, liegt nun eine ganz eigene Metaphorik. Es gilt, jegliche Veränderungsprozesse zum Stillstand zu bringen, etwa durch die Kontrolle von Temperatur und Luftfeuchtigkeit, oder sogar durch die Reduktion des Sauerstoffgehalts in aufwendigen Depots, die von Menschen nur unter Sicherheitsvorkehrungen zu betreten sind.

Die Institution des Museums und der Ausstellung als Regelwerke der Bewahrung und des Zeigens müssen grundsätzlich neu gedacht werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil an ihnen unser Verhältnis zur Kultur von Temporalitäten ablesbar ist. Hans Haacke ließ bereits 1969 Gras im Museum wachsen und Agnes Denes säte 1982 in Manhattan Korn aus. Als Pierre Huyghe auf der Dachterrasse des mächtigen Metropolitan Museum 2015 einige Betonplatten entfernte, entstanden dadurch kleine Wassertümpel, in denen Flugsamen aus dem angrenzenden Central Park keimten. Dem System Museum wurden Prozesse und Materialitäten der planetaren Geschichte gegenübergestellt. Die monumentale Struktur der Weltsammlung erschien dabei höchst fragil, ihrer Epochendidaktik und geografischen Ordnung eine alternative Zeitkultur entgegengesetzt.

Nicht ganz zu Unrecht werden manch spektakuläre Installationen, die Erde, Wasser, Pflanzen und Organismen mit der Struktur Museum verschränken und die Teilhabe an nicht-anthropozentrischer Weltwahrnehmung versprechen, als fragwürdige Versuche von Greenwashing eines globalen Kunstsystems diskutiert, das den Werten ökologischer Verantwortung kaum gerecht werden kann. Doch ist durchaus interessant, den politischen und ökonomischen Diskurs um das Label der »Nachhaltigkeit« mit der Doktrin des »Bewahrens« als Leitmotiv der Institution des Museums zu verknüpfen. Dadurch wäre es möglich, die komplizierten Implikationen des Konzepts Nachhaltigkeit in Hinblick auf kulturelle Praktiken und Konzepte zu diskutieren. Welche Modelle der Kunstgeschichtsschreibung man in solch groben Vereinfachungen auch aufrufen mag, unbestritten ist, dass aus ihnen folgenreiche kunsthistorische Rhetoriken und methodologische Setzungen resultieren.

Handlungen

Die Kunstgeschichte lenkt also den Blick auf die Art und Weise, wie die Kunst sich als Instrument anbietet, neue Modelle der Welterfahrung und des Weltentwurfs zu erarbeiten. Kunst, so die Überzeugung, schafft Erfahrungsdimensionen, die für den ökologischen Wandel der Gesellschaft entscheidend sein können. Sie vermag als Medium der Imagination und der Szenarien beschrieben werden. Kunst muss als Medium des Wandels begriffen werden.

Dennoch stellt sich die Forderung und die Sehnsucht nach Haltungen des Engagements sehr viel radikaler dar. Die Konsequenzen führen zum Ruf nach konkreten Handlungsoptionen und -gesten. In der Kunst der Gegenwart artikuliert sich damit die Anmahnung eines Bruchs mit den Narrativen der Selbstreferenzialität in kategorischer Weise. Exemplarisch kann das Manifest des Künstlers und Theoretikers Rasheed Araeen angeführt werden, das er im Kontext von Hans Ulrich Obrists Serpentine Gallery Manifesto Marathon 2008 in London vortrug. »Art Beyond Art: Ecoaesthetics: A Manifesto for the Twenty-First Century« erschien im folgenden Jahr auch in der von Araeen gegründeten Zeitschrift Third Text.[6] Es ist kein Zufall, dass Araeen ein Format der europäischen Avantgarden gegen eben diese selbst richtet. Mit Provokation und Dekonstruktion werden historische Strategien der Moderne benannt und des Scheiterns bezichtigt. Als alternative Werte ruft Araeen Verantwortung und Gesten der Fürsorge auf. Es findet sich nicht nur ein Aufruf zu einem pragmatischen, konkreten kollektiven Handeln, wie dem Pflanzen von Bäumen, ebenso beschwört der Künstler die therapeutische Fähigkeit der Kunst zur Heilung einer beschädigten Welt: »This manifesto proposes that artists should stop playing the silly games of neo-Dada confrontation. Artists should instead focus their imagination on what is in life, to enhance not only their own creative potential but also the collective life of earth’s inhabitants […]. Only when people are in a position to use their own creative potentials, which can be enhanced by an artistic imagination, will a change occur. What the world now needs is rivers and lakes of clean water, collective farms and the planting of trees all over the world.«[7]

Diese Forderung nach einer tragenden Rolle der Kultur in einer neuen Umweltpolitik wird von Institutionen, Stiftungen und künstlerischen Kollektiven gesamthaft getragen und in Mission-Statements gefasst. Es ist überhaupt auffallend, wie das Format des Manifests ebenso eine neue Blüte erlebt wie Positionen der gesellschaftlich engagierten Kunst der 1970er und 1980er Jahre. Die Kunstgeschichte sieht sich aufgefordert, in ihrer Praxis an einem Kunstbegriff mitzuwirken, der ethischen Zielsetzungen gerecht wird und ihnen dient. Dabei kommt es, wie im Manifest von Araeen, zu normativen Setzungen, die die ethische Frage nach der Verantwortung in moralische Gebote überführen. Wie gehen wir mit diesem Aufleben der langen Tradition der engen Verknüpfung des »Schönen« mit dem »Guten« um, vom Gebot der Sittlichkeit und der Legitimation der Kunst als erzieherisches Element in der Gesellschaft. Noch Niklas Luhmann berief sich auf die Befreiung der Kunst aus dieser Bindung in der Spätaufklärung und im Idealismus.

Es lassen sich jedoch spezifische Ausformungen einer Kunstästhetik des Ökologischen benennen, die das Handlungsparadigma neu fassen.[8] Das Handeln wird hier nicht als Geste der Macht begriffen, wie es eine Bildsprache der Globalisierung demonstriert, sondern in der kritischen Reflexion über die Implikationen des alltäglichen Verhaltens, des Konsums ebenso wie der Mobilität – eine Verschränkung mit der Begrifflichkeit der »Fürsorge«. Dabei geht es um eine Dynamisierung der Ethik, die das Entwurfspotential der ästhetischen Form und der künstlerischen Praxis benennt. Aus kunstsoziologischer Sicht nennt Pascal Gielen dies eine Hinwendung zu einer »situativen Ethik«.[9]

Kontaminationen

Ich votiere dafür, dass die Kunstgeschichte in dieser höchst spannenden Phase des Rufes nach einer engagierten Praxis – kuratorisch, deutend, erzählend – über die Verschiebungen reflektiert, die innerhalb ihres eigenen Diskurses zu verfolgen sind. Das ist weniger abstrakt gemeint, als vielmehr direkt auf die Rhetoriken bezogen, mit denen wir ästhetische Konzepte verhandeln. Der alte diskursanalytische Ansatz vermag zu zeigen, wie ein Wertesystem wie dasjenige des Engagements sich unmittelbar in unseren Beschreibungen und Interpretationsansätzen niederschlägt. In ähnlicher Art und Weise, wie etablierte Gesten des Zeigens und des Displays zur Disposition stehen, so findet sich der Begriff der Distanz mit seinem kritischen Potential im Zentrum der Debatten.

Mit der Erkundung der Wahrnehmungsformen und Sinne, auf die unsere Disziplin aufbaut, steht auch ein Selbstverständnis und ein Anspruch wie »kritische Distanz« als Doktrin akademischer Positionsbestimmung zur Diskussion. Wie verhält sich also Engagement als Moment des Eingebundenseins und der klaren Selbstpositionierung für die Sache, wie verhält sich Appell und Imperativ zur kritischen Interpretation? Sind disziplingeschichtlich einflussreiche Konzepte des offenen Kunstwerks (Umberto Eco), der Leerstellentheorie (Wolfgang Iser, Konstanzer Schule) in der neuen Betonung einer Autor:innenschaft/Künstler:innenschaft, die sich durch Identität und biografische Erfahrung legitimiert, hinfällig?

Unter Berufung auf Bruno Latour und Rita Felski wird die Produktivität ideologiekritischer Ansätze zur Debatte gestellt. Denn diese ständen mit ihrem Ehrgeiz der Dekonstruktion für ein akademisches Dogma des Poststrukturalismus, das nun an seine Grenzen stoße. Die Einladung zur Partizipation und zum Kollektiven war eine wichtige Voraussetzung für eine Haltung der Hospitality und der echten Teilhabe. Es bleibt jedoch die Frage, die Jacques Rancière 2008 unter der Begrifflichkeit des »emanzipierten Zuschauers« diskutierte: Wie autoritär gestaltet sich die Anweisung zum Mitwirken, wenn dieses als ultimative Bedingung ausgerufen wird?[10]

Ausgehend von dieser Beobachtung einer Neuverhandlung von Nähe und Distanz unter dem Diktum des Engagements rücken weitere Paradigmen in den Fokus, die das Vokabular der Moderne ebenso prägten wie kunstkritische und kunsthistorische Konzepte. Man muss dafür nicht unmittelbar die großen Dogmen der Autonomie aufrufen. Beinahe unbemerkt haben sich Begrifflichkeiten wie diejenigen des »Fragments« oder der »Distanz« ebenso verschoben. Für die kritische Dekonstruktion besaß das Fragmentarische dann einen grundlegenden Wert, wenn es als Verabschiedung vom großen Ganzen gedeutet wurde und nicht mehr als immanentes Versprechen auf die Totalität.[11] Hier fand die Anerkennung des Differenten statt, des Unpassenden, des dezidiert Besonderen, das das Allgemeine ausschließt.

Die ökologische Perspektive dagegen fragt nach einem relationalen Bezugsnetz, möchte die großen Zusammenhänge vermitteln. Damit wird sie anfällig für holistische Versuchungen, in denen alles seinen Platz findet und in einem Ganzen aufgeht. Als Ikone des ökologischen Diskurses fungiert der Blick auf den Planeten als blue marble, wie er 1972 von Astronauten der Apollo 17 aus dem Weltall aufgenommen wurde.

Es ist die Kunst, in der die Aushandlung der Möglichkeiten stattfindet, die alte Dichotomie von Natur und Kultur zu überwinden. Eine Kunstgeschichte, die die Kunst als didaktisches Werkzeug missversteht, um für ein romantisches Konzept eines harmonischen Idealzustands, der in der Vergangenheit liegt, zu werben, vertut eine Chance.

Stattdessen ist die ökologische Wende auch eine Aufforderung, Komplexität zu ertragen. Dabei richtet sich der Blick auf das Vermögen der Kunst, Widersprüche erlebbar werden zu lassen, Scheitern und Kompromiss im Provisorium anzuerkennen. Es gibt neue, spannende Schlüsselbegriffe, die im »ökologischen Imperativ« vielleicht vermögen, die Dialektik in der Verhandlung von Fragment und Ganzheit, ihr kritisches Potential in neuer, zeitgemäßer Form aufzurufen: »Reinheit« und »Kontamination«. Der Anspruch auf die Ganzheit, als totalitärer Anspruch, steht in gewisser Weise in seinen Implikationen parallel zur Reinheit, zur purity, als zu bewahrendem Zustand, als Doktrin, die eine Dichotomie aufruft: die Verunreinigung.

Der Begriff der Kontamination vermag sehr viel mehr anzuzeigen als die Verschmutzung der Umwelt, die es zu bekämpfen gilt. Kontamination anerkennt die fragile und komplexe Verfasstheit und befragt kritisch die Konstruktion von Reinheit als einem moralischen und normativen Anspruch. In gewisser Weise findet sich hier also dasjenige wieder, was ich in der Denkfigur des Fragments versucht habe zu beschreiben. In der interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Literaturwissenschaft und der Sozialanthropologie erweisen sich Begrifflichkeiten des Kontakts, der Vermischung und der »Ansteckung« als so spannend, weil sie materielle Realitäten des Anthropozäns ebenso benennen wie unsere Geschichte, unsere Geografien und nicht zuletzt unsere Ideologien. Die Denkfigur der Kontamination hilft darüber hinaus, neue mediale Formate, Mischformen der Gestaltung, zu diskutieren. Mit Alexis Shotwell ist von einem neuen Ethos der Kontamination als logischer Folge des Anthropozäns zu sprechen, weil eine Rückkehr zur »Natur« unmöglich ist und diese immer eine ideologische Konstruktion darstellt. Das überkommene Ethos der Reinheit ist

»[…] an ethos I believe we could – if it were measurable in geologic time – use to mark the beginning of the anthropocene: roughly, the moment that humans worry we have lost a natural state of purity is something we ought to pursue and defend. This ethos is the idea that we can access or recover a time and state before or without pollution, without impurity […].«[12]

Die Kunstgeschichte kann dann an der Notwendigkeit mitwirken, Unreinheiten und Zwischenräume in ihrer jeweiligen Spezifik und Wirkkraft zu erkennen und zu verhandeln.

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Peter J. Schneemann

Peter J. Schneemann ist seit 2001 Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Bern. Er leitet seit 2022 das SNF-Forschungsprojekt Öffentlichkeiten der Kunst: Die Geschichte der Schweizerischen Plastikausstellung (SPA) und seit 2020 das SNF-Sinergia-Forschungsprojekt Mediating the Ecological Imperative: Formats and Modes of Engagement. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) und der Academia Europaea (London). Herausgeber der Schriftenreihe Kunstgeschichten der Gegenwart.

Published Online: 2022-11-23
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ZKG-2022-4002/html
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