Home 3. ‚Gesicht‘
Chapter
Licensed
Unlicensed Requires Authentication

3. ‚Gesicht‘

View more publications by transcript Verlag
Interkulturelles Lernen
This chapter is in the book Interkulturelles Lernen
833. ‚GESICHTFace cannot be translated or defined. It is like honor and it is not honor. It cannot be purchased with money, and gives a man or a woman material pride. It is hollow and is what men fight for and what many women die for. It is invisible and yet by defini-tion exists by being shown to the public. It exists in the ether and yet cannot be heard, and sounds eminently respectable and solid. It is amenable, not to reason but to social convention. (Lin, 1939, S. 200) ‚Gesicht‘ – ein universales Konzept? Das chinesische ‚Gesicht‘ ist Europäern etwas Erklärungsbedürftiges und in seiner (antizipierten) Unzugänglichkeit Fremdes. Der Umstand, dass dies so-wohl für die Physiognomie als auch für das soziale Phänomen ‚Gesicht‘ gilt, macht das ‚asiatische Gesicht‘ doppelt geheimnisvoll, da es – so zumindest will es das Stereotyp – für Westler unentzifferbar ist. Die doppelte Sinnhaftig-keit des Begriffs ‚Gesicht‘, einerseits als Bezeichnung eines bestimmten Kör-perteils, andererseits als Bezeichnung für ein soziales Phänomen, ist nicht zu-fällig: Gesichter spielen eine zentrale Rolle in Interaktionen, sind sie doch unser Anhaltspunkt dafür, mit wem wir es zu tun haben und somit auch dafür, wie wir uns auf eine Person beziehen können. Gesichter stehen für das ‚Wer‘ einer Person, und sie repräsentieren damit – pars pro toto – die Gesamtheit einer Person. Sie geben jedoch zugleich auch Einblicke in flüchtigere Seelen-zustände des Gegenübers, die uns als wichtige Ergänzung auf die Frage nach dem ‚Wer‘ dienen. Trauer, Aufrichtigkeit, Verachtung, Zweifel stehen einer Person ‚ins Gesicht geschrieben‘ und offenbaren damit ihre Befindlichkeit oder Absichten. Diese Selbstoffenbarung ist nicht immer erwünscht, und so unterliegt der tatsächliche Gesichtsausdruck in vielen Situationen der bewuss-ten Gestaltung. Das ‚öffentliche Selbst‘ einer Person ist das Ergebnis dieses doppelten Prozesses der Selbstoffenbarung und Selbstgestaltung. Das Gesicht erfüllt so eine ‚Doppelfunktion‘, denn es ist „im Gegensatz zu den bekleideten Körperteilen [...] Haut und Kleid zugleich, es muß das Innere gleichzeitig offenbaren und verhüllen“ (Bauer, 1990, S. 238). Gesichter sind ‚Kommunikationsschnittstellen‘. Sie sind gleichzeitig Aus-druck einer Person und Gegenstand der Interpretation durch andere, und es ist gerade in Kenntnis dieses Umstandes, dass die Gestaltung des öffentlichen Selbst seine Bedeutung erhält. An dieser Stelle stellt das ‚soziale Gesicht‘ gleichsam eine Verlängerung des physischen Gesichts dar: Es ist das Bemü-hen um eine positive Selbstdarstellung unter Einbeziehung von Aspekten, die nicht allein dem physischen Gesicht(sausdruck) entnommen werden können. Auch hier jedoch ist der Ausdruck mit der Interpretation durch Dritte ver-
© 2015 transcript Verlag

833. ‚GESICHTFace cannot be translated or defined. It is like honor and it is not honor. It cannot be purchased with money, and gives a man or a woman material pride. It is hollow and is what men fight for and what many women die for. It is invisible and yet by defini-tion exists by being shown to the public. It exists in the ether and yet cannot be heard, and sounds eminently respectable and solid. It is amenable, not to reason but to social convention. (Lin, 1939, S. 200) ‚Gesicht‘ – ein universales Konzept? Das chinesische ‚Gesicht‘ ist Europäern etwas Erklärungsbedürftiges und in seiner (antizipierten) Unzugänglichkeit Fremdes. Der Umstand, dass dies so-wohl für die Physiognomie als auch für das soziale Phänomen ‚Gesicht‘ gilt, macht das ‚asiatische Gesicht‘ doppelt geheimnisvoll, da es – so zumindest will es das Stereotyp – für Westler unentzifferbar ist. Die doppelte Sinnhaftig-keit des Begriffs ‚Gesicht‘, einerseits als Bezeichnung eines bestimmten Kör-perteils, andererseits als Bezeichnung für ein soziales Phänomen, ist nicht zu-fällig: Gesichter spielen eine zentrale Rolle in Interaktionen, sind sie doch unser Anhaltspunkt dafür, mit wem wir es zu tun haben und somit auch dafür, wie wir uns auf eine Person beziehen können. Gesichter stehen für das ‚Wer‘ einer Person, und sie repräsentieren damit – pars pro toto – die Gesamtheit einer Person. Sie geben jedoch zugleich auch Einblicke in flüchtigere Seelen-zustände des Gegenübers, die uns als wichtige Ergänzung auf die Frage nach dem ‚Wer‘ dienen. Trauer, Aufrichtigkeit, Verachtung, Zweifel stehen einer Person ‚ins Gesicht geschrieben‘ und offenbaren damit ihre Befindlichkeit oder Absichten. Diese Selbstoffenbarung ist nicht immer erwünscht, und so unterliegt der tatsächliche Gesichtsausdruck in vielen Situationen der bewuss-ten Gestaltung. Das ‚öffentliche Selbst‘ einer Person ist das Ergebnis dieses doppelten Prozesses der Selbstoffenbarung und Selbstgestaltung. Das Gesicht erfüllt so eine ‚Doppelfunktion‘, denn es ist „im Gegensatz zu den bekleideten Körperteilen [...] Haut und Kleid zugleich, es muß das Innere gleichzeitig offenbaren und verhüllen“ (Bauer, 1990, S. 238). Gesichter sind ‚Kommunikationsschnittstellen‘. Sie sind gleichzeitig Aus-druck einer Person und Gegenstand der Interpretation durch andere, und es ist gerade in Kenntnis dieses Umstandes, dass die Gestaltung des öffentlichen Selbst seine Bedeutung erhält. An dieser Stelle stellt das ‚soziale Gesicht‘ gleichsam eine Verlängerung des physischen Gesichts dar: Es ist das Bemü-hen um eine positive Selbstdarstellung unter Einbeziehung von Aspekten, die nicht allein dem physischen Gesicht(sausdruck) entnommen werden können. Auch hier jedoch ist der Ausdruck mit der Interpretation durch Dritte ver-
© 2015 transcript Verlag
Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783839402641-004/html?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOoocCnHOQXL_5fS4e8_rQjdLswvwMiHfkWWwaGdjxhhcBNq32Yeb
Scroll to top button