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Medizin und Wissenschaft. Sind Ärzte Wissenschaftler?

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Medizin und Wissenschaft Sind Ärzte Wissenschaftler?Peter van Leeuwen (Bochum) Einführung in die FragestellungIn der Medizin trifft man in bezug auf die Frage nach ihrer Wissenschaft-lichkeit häufig auf zwei entgegengesetzte Aussagen. Eine kann formuliert werden als „Medizin ist angewandte Naturwissenschaft“. Demgegenüber heißt es auch: „Wissenschaft in der Medizin führt zu einer Nichtbeachtung des Patienten als Individuum.“ Die erste Aussage ordnet die Medizin dem Bereich der Wissenschaft zu, während die zweite die Auffassung widerspie-gelt, daß Medizin und Wissenschaft sich gegenseitig grundsätzlich wider-sprechen, weil die ärztliche Tätigkeit sich mit dem Einzelnen auseinander-setzt, während die Wissenschaft sich mit allgemeinen Zusammenhängen beschäftigt. In meiner Arbeit als Wissenschaftler, der in medizinnahen Bereichen seit über zwei Jahrzehnten tätig ist, habe ich diese oder ähnliche Äußerungen häufig gehört. Diese beiden Aussagen habe ich stellvertretend für die Zwie-spältigkeit ausgewählt, mit der die Rolle der Wissenschaft in der Medizin betrachtet wird. Einerseits erreicht man heute mit den Werkzeugen der Wis-senschaft erstaunliche diagnostische und therapeutische Wirkungen in der Medizin. Andererseits besteht der Arzt-Patienten-Kontakt aus einer persönli-chen Beziehung, die in ihrer Differenziertheit nicht zwangsläufig verallge-meinerungsfähig ist. Bezogen auf die Bedeutung der Wissenschaft in der Medizin, wird durch die beiden Aussagen ein Bogen gespannt, von „Wissen-schaft ist die Basis der Medizin“ zu „Wissenschaft ist – im besten Fall – ein notwendiges Übel in der Medizin“. Daraus ergibt sich die Frage: Wenn Ärz-te das tun, was sie normalerweise tun, verhalten sie sich dann wissenschaft-lich? Was macht einen Arzt aus? Was macht einen Wissenschaftler aus? Man kann die Frage auch so formulieren: Sind Ärzte Wissenschaftler? Ich möchte betonen, daß es mir nicht um die Tätigkeit von Medizinern geht, die sich entschlossen haben, als Wissenschaftler zu arbeiten und die in den La-bors und den Forschungsinstituten keinen Patientenkontakt haben. Es geht mir vielmehr um die Mediziner, die ihren Beruf im Umgang mit kranken Menschen im Sinne eines Behandlungsauftrags ausüben. Um festzustellen, was Wissenschaft für diese Ärzte bedeuten kann, möchte ich erst einmal einige Eigenschaften darstellen, die Wissenschaft und Wissenschaftler cha-rakterisieren.

Medizin und Wissenschaft Sind Ärzte Wissenschaftler?Peter van Leeuwen (Bochum) Einführung in die FragestellungIn der Medizin trifft man in bezug auf die Frage nach ihrer Wissenschaft-lichkeit häufig auf zwei entgegengesetzte Aussagen. Eine kann formuliert werden als „Medizin ist angewandte Naturwissenschaft“. Demgegenüber heißt es auch: „Wissenschaft in der Medizin führt zu einer Nichtbeachtung des Patienten als Individuum.“ Die erste Aussage ordnet die Medizin dem Bereich der Wissenschaft zu, während die zweite die Auffassung widerspie-gelt, daß Medizin und Wissenschaft sich gegenseitig grundsätzlich wider-sprechen, weil die ärztliche Tätigkeit sich mit dem Einzelnen auseinander-setzt, während die Wissenschaft sich mit allgemeinen Zusammenhängen beschäftigt. In meiner Arbeit als Wissenschaftler, der in medizinnahen Bereichen seit über zwei Jahrzehnten tätig ist, habe ich diese oder ähnliche Äußerungen häufig gehört. Diese beiden Aussagen habe ich stellvertretend für die Zwie-spältigkeit ausgewählt, mit der die Rolle der Wissenschaft in der Medizin betrachtet wird. Einerseits erreicht man heute mit den Werkzeugen der Wis-senschaft erstaunliche diagnostische und therapeutische Wirkungen in der Medizin. Andererseits besteht der Arzt-Patienten-Kontakt aus einer persönli-chen Beziehung, die in ihrer Differenziertheit nicht zwangsläufig verallge-meinerungsfähig ist. Bezogen auf die Bedeutung der Wissenschaft in der Medizin, wird durch die beiden Aussagen ein Bogen gespannt, von „Wissen-schaft ist die Basis der Medizin“ zu „Wissenschaft ist – im besten Fall – ein notwendiges Übel in der Medizin“. Daraus ergibt sich die Frage: Wenn Ärz-te das tun, was sie normalerweise tun, verhalten sie sich dann wissenschaft-lich? Was macht einen Arzt aus? Was macht einen Wissenschaftler aus? Man kann die Frage auch so formulieren: Sind Ärzte Wissenschaftler? Ich möchte betonen, daß es mir nicht um die Tätigkeit von Medizinern geht, die sich entschlossen haben, als Wissenschaftler zu arbeiten und die in den La-bors und den Forschungsinstituten keinen Patientenkontakt haben. Es geht mir vielmehr um die Mediziner, die ihren Beruf im Umgang mit kranken Menschen im Sinne eines Behandlungsauftrags ausüben. Um festzustellen, was Wissenschaft für diese Ärzte bedeuten kann, möchte ich erst einmal einige Eigenschaften darstellen, die Wissenschaft und Wissenschaftler cha-rakterisieren.

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter I
  2. Inhaltsverzeichnis VII
  3. Zur Einführung 1
  4. 1. Kapitel: Arzt und Patient. Der Umgang mit dem kranken Menschen
  5. Gesundheit als ein Ganzes – mehr als körperliches Wohlbefinden 29
  6. Steht der Patient noch im Mittelpunkt der modernen Medizin? 53
  7. Medizin und Wissenschaft. Sind Ärzte Wissenschaftler? 65
  8. Zur Bedeutung der Lebenskunst und der ars moriendi für die Heilkunde 77
  9. 2. Kapitel: Medizin und Gesellschaft. Realität – Vision – Utopie
  10. Salus-Vorstellungen der Antike: Die Gesundheit des Einzelnen und das Wohl des Staates 91
  11. Gesundheit in der chinesischen Medizin 109
  12. Das Gesundheitsideal des Nationalsozialismus 131
  13. Die Marktnischen der ‚traditionellen Heiler‘. Anfragen an den Gesundheitsbegriff aus dem Fremden und dem Eigenen 149
  14. Alter und Gesundheit 165
  15. 3. Kapitel: Leib und Seele. Anthropologische und psychosomatische Ansätze
  16. Albertus Magnus über Imagination und Krankheit 187
  17. Der ganze Mensch. Friedrich Schillers medizinische Konzepte im Horizont der zeitgenössischen Anthropologie 205
  18. Die Dimension des Pathischen im Gesundheitsverständnis Viktor von Weizsäckers 231
  19. Salutogenetische Psychosomatik und Psychotherapie. Ressourcenorientiertes Vorgehen und positives Menschenbild im ergebnisorientierten Zeitalter 249
  20. 4. Kapitel: Lebensführung und Gesundheit. Wege des philosphischen Denkens
  21. Vom Sinn der Krankheit. Nietzsches ‚große Gesundheit‘ 277
  22. Über den Begriff der Gesundheit in der daseinsanalytischen Medizin 289
  23. Die menschliche Natur. Das Sein des Menschen im Spannungsfeld von Philosophie und Medizin 313
  24. Wunscherfüllende Medizin. Kontingenzbewältigung oder Kontingenzbeseitigung? 333
  25. 5. Kapitel: Heilung und Heil. Naturphilosophische und theologische Ansätze
  26. Wandlungen des Gesundheitsbegriffs in Antike und frühem Mittelalter 347
  27. Gesundheit in der Deutung. Hildegards von Bingen (1098-1179) 369
  28. ‚Natur‘ als Medium zwischen Mensch und Gott. Medizinhistorische Leitbilder der Gesundheit 387
  29. Gesundheit und Heil. Eine theologische Perspektive 417
  30. Backmatter 437
Heruntergeladen am 21.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783484970731.1.65/html?lang=de&srsltid=AfmBOorWXsaNg2O_dpnHsCLk--u4UAsZ3SEeJE6Pr78Nu_RjrTDXd99y
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