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Letzte Leinwand: Der namenlose Junge aus dem Warschauer Ghetto

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Macht und Makel der Bilder
Ein Kapitel aus dem Buch Macht und Makel der Bilder
331einkerBungen in ein leeres haus des leBensEINKERBUNGEN IN EIN LEERES HAUS DES LEBENSEine immer wieder gestellte Frage stösst sich am traurigen Befund, dass die Holocaustüber-lebenden zunehmend von uns gehen werden. Was aber bleibt, wenn die Überlebenden dereinst dahingeschieden sein werden? Und was wird von den Ermordeten, die vor Jahrzehnten zu Asche wurden, heute noch gegenwärtig präsent sein und erinnert bleiben? Was wir wissen können, sind allenfalls die Namen, die als Zeichen in eine Form des Gedenkens bei denen, die nach uns kommen, eingekerbt wurden. Ob diese Namen, wie an gewissen Stellen der Hebrä-ischen Bibel verheissen, aber Bestand haben werden, ist niemals sicher – der zitierte Prediger aus dem Buch Kohelet zweifelt selber daran (Kohelet 1,11). Doch können wir uns der Aus-löschung dieser Namen – sei es, dass die Opfer verleugnet werden, sei es, dass der ihnen ge-bührende Platz verweigert wird – wenigstens widersetzen und sie als Zeichen der Resilienz in unser Gedächtnis einschreiben.Im Zentrum des Holocaust-Gedenkens steht also eine letzte Frage zur Zukunft: Was wirdbleiben? Eine offensichtliche Antwort ist, dass es eine Fülle von Gedenkstätten und feierlichen Ritualen und oft gar fromm anmutenden Reden gibt und geben wird, die uns mahnen, das Er-innern als einen Imperativ zu verstehen. Doch bei den heutigen Sorgen um die Zukunft des Gedenkens, um menschliche Zukunft überhaupt, geht es nicht eigentlich um die Verpflichtung, der Formel «Nie wieder!» Treue zu schwören. Wie es jedoch derzeit aussieht, ist das Bild des Holocausts und der Schoah auch vorrangig eine Moralerzählung, die der westlichen Zivilisation zugrunde liegt: Die Vokabel Holocaust ist darin das personifizierte Böse geworden, und auf paradoxe Weise wurde das Gedenken an diesen Genozid denn auch als rituell anmutende, moralisch universale Verpflichtung zur Bekämpfung des Bösen dargestellt.Letzte Leinwand: Der namenlose Junge aus dem Warschauer GhettoDie Fotografie des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto wird in einer kaum erfassbaren Vielzahl und mit partikularen Verwendungsabsichten auf Titelbildern und Plakaten, in Büchern und Filmen sowie weiteren Medien genutzt. Sie gilt als «Ikone der Vernichtung», als «Memento mori», als «Sinnbild des Leidens». In der medialen Nutzung wird die Aufnahme häufig bearbei-tet, anstelle des historischen Kontexts treten dann ästhetische Verfremdungen. Auch Samuel
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

331einkerBungen in ein leeres haus des leBensEINKERBUNGEN IN EIN LEERES HAUS DES LEBENSEine immer wieder gestellte Frage stösst sich am traurigen Befund, dass die Holocaustüber-lebenden zunehmend von uns gehen werden. Was aber bleibt, wenn die Überlebenden dereinst dahingeschieden sein werden? Und was wird von den Ermordeten, die vor Jahrzehnten zu Asche wurden, heute noch gegenwärtig präsent sein und erinnert bleiben? Was wir wissen können, sind allenfalls die Namen, die als Zeichen in eine Form des Gedenkens bei denen, die nach uns kommen, eingekerbt wurden. Ob diese Namen, wie an gewissen Stellen der Hebrä-ischen Bibel verheissen, aber Bestand haben werden, ist niemals sicher – der zitierte Prediger aus dem Buch Kohelet zweifelt selber daran (Kohelet 1,11). Doch können wir uns der Aus-löschung dieser Namen – sei es, dass die Opfer verleugnet werden, sei es, dass der ihnen ge-bührende Platz verweigert wird – wenigstens widersetzen und sie als Zeichen der Resilienz in unser Gedächtnis einschreiben.Im Zentrum des Holocaust-Gedenkens steht also eine letzte Frage zur Zukunft: Was wirdbleiben? Eine offensichtliche Antwort ist, dass es eine Fülle von Gedenkstätten und feierlichen Ritualen und oft gar fromm anmutenden Reden gibt und geben wird, die uns mahnen, das Er-innern als einen Imperativ zu verstehen. Doch bei den heutigen Sorgen um die Zukunft des Gedenkens, um menschliche Zukunft überhaupt, geht es nicht eigentlich um die Verpflichtung, der Formel «Nie wieder!» Treue zu schwören. Wie es jedoch derzeit aussieht, ist das Bild des Holocausts und der Schoah auch vorrangig eine Moralerzählung, die der westlichen Zivilisation zugrunde liegt: Die Vokabel Holocaust ist darin das personifizierte Böse geworden, und auf paradoxe Weise wurde das Gedenken an diesen Genozid denn auch als rituell anmutende, moralisch universale Verpflichtung zur Bekämpfung des Bösen dargestellt.Letzte Leinwand: Der namenlose Junge aus dem Warschauer GhettoDie Fotografie des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto wird in einer kaum erfassbaren Vielzahl und mit partikularen Verwendungsabsichten auf Titelbildern und Plakaten, in Büchern und Filmen sowie weiteren Medien genutzt. Sie gilt als «Ikone der Vernichtung», als «Memento mori», als «Sinnbild des Leidens». In der medialen Nutzung wird die Aufnahme häufig bearbei-tet, anstelle des historischen Kontexts treten dann ästhetische Verfremdungen. Auch Samuel
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter 1
  2. INHALT 4
  3. Prolog zu einer Exkursion in die Kulturgeschichte 9
  4. Teil I Der Ruf der Bilder. Über Kunst, Bilderstreit und Kultverbot
  5. Krumme Hölzer
  6. Erste Leinwand: Horror und Heiligkeit 21
  7. Zweite Leinwand: Blasphemische Tempelbilder 22
  8. Das krumme Holz der Freiheit: Jüdische Jesusbilder in der Moderne 24
  9. Dritte Leinwand: Der leere Pfahl 27
  10. Vierte Leinwand: Verhüllung eines Bannerbildes 29
  11. Stigma und Wundmittel
  12. Einleitung 33
  13. Die späten Narben des Antijudaismus 34
  14. Leichtfertiger Hohn, pathologisierte Moderne 36
  15. Mythenmalerei: Theologie und Geschichte, Dramaturgie und Empirie. Und ein kluger Ratschlag 38
  16. Fünfte Leinwand: Vom Moses in Rom träumen. Michelangelos jüdischer Held in Marmor 45
  17. Ein Requiem aus Deutschland und Streit um «jüdische» Kunst 52
  18. Nach Dura Europos: Kunst, Bildnis, Kultbild, Bilderverbot
  19. Einleitung 59
  20. Fundstellen: Antike, Mittelalter, frühe Neuzeit 60
  21. Geschiedene Sphären: Theologie und Ästhetik 63
  22. Definitionen und Rahmungen: Bildnis, Kultbild, Bilderverbot in Juden- und Christentum 68
  23. Fehlende Inkarnation – wahrer und falscher Glaube 70
  24. Theomorphe Leidenschaften, jüdische Fundstellen
  25. Analogia entis und Kritik der Idole 73
  26. Nochmals Fundstellen: Sarkophage, Synagogen, Handschriften, Bücher 77
  27. Sechste Leinwand: Schöpfung, Stiftshütte, Tempel 80
  28. Nicht frei von Verführung: Text, Textolatrie, Idolatrie 84
  29. Jenseits des Absenten
  30. Theologisierte Ästhetik: Semantik des Bildes als leere Leinwand 87
  31. Schöpferische Autonomie und präexistente Materialität. Beim Betrachten von Rothko-Bildern 91
  32. Das Idol kerben, das Siegel brechen, den Makel zeigen
  33. Aphrodite zu Besuch bei Raban Gamliel 97
  34. Siebte Leinwand: Kerbung als Makel durch vorsätzliche Verletzung 100
  35. Achte Leinwand: Diskursive Bilder 100
  36. Auseinandersetzungen in der christlichen Bildkultur
  37. Einleitung 107
  38. Wahrheit des Bildes, Bilder des Wahren 108
  39. Der Preis der Milderungen 113
  40. Neunte Leinwand: Tierwelten. Über göttliche und menschliche Natur 118
  41. Herrschaft im Bildnis und Bilder der Verheissung 122
  42. Zehnte Leinwand: Intermediale Doppelung bei den Reformierten 126
  43. Reformchristliche und reformjüdische Rebellen: Verankerungen in rekonstruierten Geschichtserzählungen 131
  44. Der entrissene Jesus und der Fall des Richard Wagner 140
  45. Teil II Der Verrat der Bilder. Über die Wahrheit im Bild
  46. Wiederkehr des Bilderstreits im modernen Zeitalter des Ikonopathos
  47. Einleitung 151
  48. Elfte Leinwand: Heil Hollywood. Oder eine ironische Brechung 152
  49. Im Exil: Gedecke des Politischen in der Moderne 154
  50. Zwölfte Leinwand: Die Wahrheit erscheint als Bild, weil es kein Bild der Wahrheit gibt. 163
  51. Macht und Ohnmacht, Gewaltorgien und Abwehrversuche 170
  52. Dreizehnte Leinwand: Das Mädchen Phan Thi Khim Phúk und die religiöse Überhöhung des Schreckens 175
  53. Altes im Neuen, Neues im Alten 179
  54. Moses auf dem Brunnensockel
  55. Vierzehnte Leinwand: Gespräche in realer Gegenwart 185
  56. Hegels anderer Moses 189
  57. Fünfzehnte Leinwand: Eine Botschaft von der Hauswand 191
  58. Den Schrecken bannen: Psychostasie und Auferstehung, Seelenwaage und Lichtarenen
  59. In der Gnade sitzt die Angst: Bilder als soziale Handlungen 193
  60. Das sterbliche Leben 200
  61. Sechszehnte Leinwand: Wer unter Beobachtung lebt, wird glauben 202
  62. Auferstehung und verwehende Hoffnung als leibliche Zeichen in der Kunst 206
  63. Erbsünden. Ein Zwischenruf 216
  64. Endlose Schlaufen: Dämonenkräfte, Sternbilder, Wissensdrang, Horizontbefragung 221
  65. Siebzehnte Leinwand: Den Himmel sehen, die Erde bereisen, ins Weltall blicken 229
  66. Neue Horizonte: Triumph und Fall eines Richtbildnisses 232
  67. Achtzehnte Leinwand: Hiob-Parabel und Himmelsgericht als Groteske – ein Puppenspiel 241
  68. Höllensturz in die Moderne
  69. Einleitung 245
  70. Sturz der Welten, Sturz der Bilder 246
  71. Neunzehnte Leinwand: Wasser, Schlick, Schlamm und ein leeres Auge 251
  72. Göttliche Menschen, menschliche Götter: Utopien aus geklonten Ebenbildern 254
  73. Wen die Schlange beisst. Aby Warburg und das Ikonopathos des Paganen 260
  74. Zwanzigste Leinwand: Ein erdichteter Himmel in der Gemeinschaft einer Höhle 273
  75. Teil III Die Namen einkerben. Gedächtnisrufe und Reflexionen über Schoah-Erinnerung
  76. Die Präsenz des Abwesenden
  77. Einundzwanzigste Leinwand: Gott in der Uhr 279
  78. Bildstörungen beim Ernstwerden 280
  79. Fehlende Erben: Materielles Gedächtnis, kulturelles Gedächtnis 281
  80. Unterschiedliche Rufe nach Verstehen und Erinnern
  81. Einleitung 285
  82. Kritik und Kritik: «Bilder töten die Imagination 287
  83. Der Gedächtnisruf der Alten 290
  84. Unbearbeitete Leinwände: Polyphones Ringen um das rechte Erinnern 292
  85. Erinnerungspolitische Post-Holocaust-Kontroversen 300
  86. Neuartige Narrative, unterschiedliche Foren 303
  87. Andere Bildnisse: Brüche und Wandel im jüdischen Schoah-Gedenken
  88. Zweiundzwanzigste Leinwand: Getilgte Zeichen, gebrochene Mauern, fliehende Buchstaben 309
  89. Im liturgischen Modus der Erinnerung 312
  90. Mimetisches Ritual und mythopoetische Ordnung 316
  91. Das Alphabet des Gedenkens in den Künsten
  92. Einleitung 319
  93. Dreiundzwanzigste Leinwand: Das Bild spricht, um gehört zu werden 320
  94. Sprechen und Hören, Metapher und Metonymie, Bündnisse und Negationen 321
  95. Poesie, Täuschung, neue Heimat 324
  96. Wege zu einer reflexiven Ästhetik 326
  97. Einkerbungen in ein leeres Haus des Lebens
  98. Letzte Leinwand: Der namenlose Junge aus dem Warschauer Ghetto 331
  99. Gebrochene Fäden verweben 333
  100. Anmerkungen 337
  101. Dank- und Grussworte 383
  102. Bildnachweise 385
  103. Namenregister 387
  104. Literaturverzeichnis 395
Heruntergeladen am 10.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783422801936-077/html?lang=de&srsltid=AfmBOoqAvQdAv95YbaIwCjZZKEphaPacAYCXq7o7vO15ZqH057ODO-dw
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