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HERMANN BAUSINGER, Volkskunde — Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse

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Band 17 (N. F. 2) 1974
Ein Kapitel aus dem Buch Band 17 (N. F. 2) 1974
264 Besprechungen HERMANN BAUSINGER, Volkskunde — Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. [West-] Berlin u. Darmstadt, Habel, (1971). 304 S., XX Taf., XX Abb. Mit dieser Arbeit legt Bausinger eine „Einführung" vor, die jedoch nicht schlechthin als Handbuch gelten will, das „gesichertes Wissen" vorträgt. Darauf verweist bereits die Einleitung: Probleme statt Fakten hin. Der Leser, der mit den Arbeiten des Verfs. bekannt ist, stellt zunächst die Frage: Enthält sie im Hinblick auf die konzeptionellen Grundprobleme Neues, bei Bausinger bisher nicht Gelesenes? Die Frage muß verneint werden. Neuartig ist bestenfalls die Aufbereitung des Stoffs. Der Zwang zu systematischer Anordnung bei einem so umfänglichen Gegenstand, dem auch Bausinger sich trotz betonter Eigenwillig-keiten der Handschrift nicht völlig entziehen konnte, läßt manches übersichtlicher erschei-nen als in Arbeiten von kleinerem Themenumfang. Aber auch hier handelt es sich nur um graduelle, nicht um grundlegende Unterschiede. Da einer Rezension Grenzen gesetzt sind, sollen Bausingers Ausführungen vornehmlich unter dem Aspekt gewertet werden, welche Aufschlüsse sie über seine Geschichts- und Gesellschaftsauffassung gewähren. Andere Fragen wie z. B. die nach der Stellung der von ihm repräsentierten Richtung innerhalb der Richtungen und Strömungen der bürgerlichen Volkskunde der BRD können in diesem Zusammenhang nicht in die Betrachtung einbezogen werden. Wir müssen auch von dem Versuch Abstand nehmen, die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Wissenschaftskonzeption Bausingers detailliert einzu-schätzen. Die in vier Abschnitte gegliederte Arbeitbeginnt mit einem Exkurs Zur Wissenschafts-geschichte. Das Leitmotiv der Darstellung wird bereits in der Einleitung angeschlagen: „Die herkömmlichen Gegenstände, ihre herkömmliche Einteilung und das herkömmliche Instru-mentarium zu ihrer Beschreibung sind in der Volkskunde stärker als in anderen Wissen-schaften mit Wertungen behaftet, die ihr im Lauf der Geschichte zugewachsen sind" (S. 9) Hier wird bereits deutlich, was durch die gesamte Darstellung geht: Die Volkskunde wird in ihrer historischen Entwicklung isoliert von der Geschichte anderer Wissenschafts-disziplinen behandelt und befindet sich in einer Art diskriminierter Exemtionsstellung. Wenn auch niemand die unheilvollen Wirkungen leugnet, die sich aus der Ansiedlung der Disziplin und ihrer führenden Repräsentanten in den Kämpfen um eine fortschrittliche Entwicklungsperspektive an der Seite der Reaktion ergaben — die marxistischen Volks-kundler der DDR tun dies am allerwenigsten —, so sei bereits hier darauf verwiesen, daß von Bausinger empfohlene Verfahrensweise subjektiven, pragmatischen Mißdeutungen Tür und Tor öffnet. Zu dieser Befürchtung bietet auch die Akzentsetzung auf die „Wertungen" Anlaß, nähren und befestigen sie doch die Illusion, es habe in der Geschichte anderer bürgerlicher Sozialwissenschaften in Vergangenheit und Gegenwart jemals eine über den Klassen und deren Interessen stehende „unparteiische" wertfreie Disziplin gegeben. Warum Bausinger der Volkskunde eine Quarantänebehandlung verordnet, erschließt sich dem Leser vollends freilich erst, nachdem er die Lektüre der ganzen Arbeit beendet hat. Die Volks-kunde, und nur sie allein, muß als Ganzes an den Sündenpfahl der Geschichte gestellt wer-den, um die gegenwärtige bürgerliche Volkskunde der BRD nach Befreiung von ihren traditionell-ideologischen Überlieferungen in den Rang eines koalitionsfähigen Partners zu erheben, der mit erneuertem methodologischem Rüstzeug seinen Part innerhalb der modernen bürgerlichen Sozialwissenschaften spielen kann. Daß auch diese der „Wertungen" nicht entbehren können, wenn sie ihre systemerhaltende Funktion im Spätkapitalismus ausüben wollen, wird freilich schließlich vor dem Leser verschwiegen. Man muß Bausinger attestieren, daß er in dieser Hinsicht mehr bietet, als er in der Ein-leitung in Aussicht stellt. Freilich gibt er vor, nur gegen die „Werte" zu Felde zu ziehen, die an reaktionäre Vorstellungen gebunden sind. Aber wer und was verwandelt sich unter seinen Händen nicht unversehens in belastende Hypotheken? Das beginnt mit den Huma-nisten und dem „humanistischen Nationalbewußtsein" und setzt sich über Leibniz und Rousseau bis zu Herder fort. Bausinger bietet so ergreifende Beispiele eklatanten, totalen Unverständnisses für die Periodenspezifik, für die jeweils konkret-historische Frontstellung im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion in der Geschichte des deutschen Volkes, daß
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

264 Besprechungen HERMANN BAUSINGER, Volkskunde — Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. [West-] Berlin u. Darmstadt, Habel, (1971). 304 S., XX Taf., XX Abb. Mit dieser Arbeit legt Bausinger eine „Einführung" vor, die jedoch nicht schlechthin als Handbuch gelten will, das „gesichertes Wissen" vorträgt. Darauf verweist bereits die Einleitung: Probleme statt Fakten hin. Der Leser, der mit den Arbeiten des Verfs. bekannt ist, stellt zunächst die Frage: Enthält sie im Hinblick auf die konzeptionellen Grundprobleme Neues, bei Bausinger bisher nicht Gelesenes? Die Frage muß verneint werden. Neuartig ist bestenfalls die Aufbereitung des Stoffs. Der Zwang zu systematischer Anordnung bei einem so umfänglichen Gegenstand, dem auch Bausinger sich trotz betonter Eigenwillig-keiten der Handschrift nicht völlig entziehen konnte, läßt manches übersichtlicher erschei-nen als in Arbeiten von kleinerem Themenumfang. Aber auch hier handelt es sich nur um graduelle, nicht um grundlegende Unterschiede. Da einer Rezension Grenzen gesetzt sind, sollen Bausingers Ausführungen vornehmlich unter dem Aspekt gewertet werden, welche Aufschlüsse sie über seine Geschichts- und Gesellschaftsauffassung gewähren. Andere Fragen wie z. B. die nach der Stellung der von ihm repräsentierten Richtung innerhalb der Richtungen und Strömungen der bürgerlichen Volkskunde der BRD können in diesem Zusammenhang nicht in die Betrachtung einbezogen werden. Wir müssen auch von dem Versuch Abstand nehmen, die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Wissenschaftskonzeption Bausingers detailliert einzu-schätzen. Die in vier Abschnitte gegliederte Arbeitbeginnt mit einem Exkurs Zur Wissenschafts-geschichte. Das Leitmotiv der Darstellung wird bereits in der Einleitung angeschlagen: „Die herkömmlichen Gegenstände, ihre herkömmliche Einteilung und das herkömmliche Instru-mentarium zu ihrer Beschreibung sind in der Volkskunde stärker als in anderen Wissen-schaften mit Wertungen behaftet, die ihr im Lauf der Geschichte zugewachsen sind" (S. 9) Hier wird bereits deutlich, was durch die gesamte Darstellung geht: Die Volkskunde wird in ihrer historischen Entwicklung isoliert von der Geschichte anderer Wissenschafts-disziplinen behandelt und befindet sich in einer Art diskriminierter Exemtionsstellung. Wenn auch niemand die unheilvollen Wirkungen leugnet, die sich aus der Ansiedlung der Disziplin und ihrer führenden Repräsentanten in den Kämpfen um eine fortschrittliche Entwicklungsperspektive an der Seite der Reaktion ergaben — die marxistischen Volks-kundler der DDR tun dies am allerwenigsten —, so sei bereits hier darauf verwiesen, daß von Bausinger empfohlene Verfahrensweise subjektiven, pragmatischen Mißdeutungen Tür und Tor öffnet. Zu dieser Befürchtung bietet auch die Akzentsetzung auf die „Wertungen" Anlaß, nähren und befestigen sie doch die Illusion, es habe in der Geschichte anderer bürgerlicher Sozialwissenschaften in Vergangenheit und Gegenwart jemals eine über den Klassen und deren Interessen stehende „unparteiische" wertfreie Disziplin gegeben. Warum Bausinger der Volkskunde eine Quarantänebehandlung verordnet, erschließt sich dem Leser vollends freilich erst, nachdem er die Lektüre der ganzen Arbeit beendet hat. Die Volks-kunde, und nur sie allein, muß als Ganzes an den Sündenpfahl der Geschichte gestellt wer-den, um die gegenwärtige bürgerliche Volkskunde der BRD nach Befreiung von ihren traditionell-ideologischen Überlieferungen in den Rang eines koalitionsfähigen Partners zu erheben, der mit erneuertem methodologischem Rüstzeug seinen Part innerhalb der modernen bürgerlichen Sozialwissenschaften spielen kann. Daß auch diese der „Wertungen" nicht entbehren können, wenn sie ihre systemerhaltende Funktion im Spätkapitalismus ausüben wollen, wird freilich schließlich vor dem Leser verschwiegen. Man muß Bausinger attestieren, daß er in dieser Hinsicht mehr bietet, als er in der Ein-leitung in Aussicht stellt. Freilich gibt er vor, nur gegen die „Werte" zu Felde zu ziehen, die an reaktionäre Vorstellungen gebunden sind. Aber wer und was verwandelt sich unter seinen Händen nicht unversehens in belastende Hypotheken? Das beginnt mit den Huma-nisten und dem „humanistischen Nationalbewußtsein" und setzt sich über Leibniz und Rousseau bis zu Herder fort. Bausinger bietet so ergreifende Beispiele eklatanten, totalen Unverständnisses für die Periodenspezifik, für die jeweils konkret-historische Frontstellung im Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion in der Geschichte des deutschen Volkes, daß
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Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter 1
  2. INHALTSVERZEICHNIS 5
  3. ABHANDLUNGEN
  4. Volkskundliche Forschungen in der Deutschen Demokratischen Republik-Bilanz und Ausblick 9
  5. Deutsche Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Julirevolution 1830—1834 40
  6. Vereine in Plauen 1848—1878 Aspekte ihres Entwicklungs- und Differenzierungsprozesses 107
  7. Wohnhäuser und Wohnverhältnisse der Stadtarmut (ca. 1750—1850) Erläutert anhand von Beispielen aus Quedlinburg, Halle, Hamburg und Berlin 139
  8. Schnitterkasernen in der Magdeburger Börde. Die Unterkünfte der landwirtschaftlichen Saisonarbeiter in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts 171
  9. Bildnerisches Volksschaffen in der Deutschen Demokratischen Republik. Werdegang und Entwicklungsprobleme 193
  10. DOKUMENTATION
  11. Neue Quellen zu antifeudalen Volksliedern 223
  12. BIBLIOGRAPHIE
  13. Soziologische Veröffentlichungen aus der DDR Eine Auswahl (1964—1973/1) 234
  14. DDR-Forschungen zur Sozialpsychologie: Auswahlbibliographie 238
  15. BERICHTE UND MITTEILUNGEN
  16. Friedrich Sieber zum Gedenken 242
  17. Reinhard Peesch zum fünfundsechzigsten Geburtstag 243
  18. 4. Arbeitstagung zur Geschichte der Produktivkräfte in Gaußig 1972 245
  19. Gründung der Arbeitsgemeinschaft Ethnographie 248
  20. BESPRECHUNGEN
  21. V . GORBUNOV, Lenin i socialistiòeskaja kul'tura 249
  22. ALEXANDER ABUSCH, Tradition und Gegenwart des sozialistischen Humanismus 250
  23. JACQUES LE GOFF, Kultur des europäischen Mittelalters 252
  24. Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neisse vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch 255
  25. Zur Geschichte der Kultur und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes vom 11. Jahrhundert bis 1945. Ein Abriß 258
  26. RENATE KRÜGER, Das Zeitalter der Empfindsamkeit, Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland 260
  27. ANNEMARIE LANGE, Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks 261
  28. WINFRIED LÖSCHBURG, Unter den Linden. Gesiebter und Geschichten einer berühmten Straße 263
  29. HERMANN BAUSINGER, Volkskunde — Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse 264
  30. Studia ethnographica etfolkloristica in honorem Béla Gunda 267
  31. Volkskunde. Fakten und Analysen. Festgabe für Leopold Schmidt zum 60. Geburtstag 269
  32. Festschrift Matthias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte 271
  33. Ländliche Kulturformen im deutschen Südwesten. Festschrift für Heiner Heimberger 275
  34. EDIT FÉL und TAMÁS HOFER, Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt. Eine ethnographische Untersuchung über das ungarische Dorf Ätdny 277
  35. MAX GSCHWEND, Schweizer Bauernhäuser. Material, Konstruktion und Einteilung 279
  36. JUSTINUS BENDERMACHER, Dorfformen im Rheinland. Auszüge aus den Kurzinventaren rheinischer Dörfer 1948—196!). 281
  37. KLARA K. - CSILLERY, Ungarische Bauernmöbe 282
  38. Muzee cu Caracter Etnografic-Sociologic din Romänia 283
  39. G. A. GRADOW, Stadt und Lebensweise 284
  40. WERNER TIMM, Kapitänsbilder. Schiffsporträts seit 1782 285
  41. Bräuche und Feste im fränkischen Jahreslauf. Texte vom 16. bis 18. Jahrhundert 287
  42. Leninskoe nasledie i izučenie fol'klora (Das Erbe Lenins und die Folkloreforschung) 288
  43. V. K. SOKOLOVA, Russkie istoričeskie predanija (Die russischen historischen Uberlieferungen) 289
  44. O. B. ALEKSEEVA, Ustnaja poézija russkich rabočich / dorevoljucionnyj period (Die mündliche Dichtung der russischen Arbeiter in der vorrevolutionären Periode) 292
  45. Die Märchen der Weltliteratur: Schweizer Volksmärchen, hrsg. von ROBERT WILDHAB E R und LEZAUFFER ; Schwedische Volksmärchen, hrsg. von KURT SCHIER; Bulgarische Volksmärchen, hrsg. von VACLAV FROLEC; Mazedonische Volksmärchen, hrsg. von WOLFGANG ESCHKER; Italienische Volksmärchen, hrsg. von FELIXKAR- LINGER 293
  46. LEOPOLD SCHMIDT, Volksgesang und Volkslied. Proben und Probleme 297
  47. WOLFGANG STEINITZ, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten 299
  48. LEOPOLD SCHMIDT, Historische Volkslieder aus Österreich vom 15. bis zum 19. Jahrhundert 301
  49. Istoričeskie pesni XVIII veka (Historische Lieder des 18. Jahrhunderts) 303
  50. LÄSZLO VIKÄR and GABOR BERECZKI, Cheremis Folksongs 306
  51. E. M E L K I S I S / V . M I L L E R S , Garliba Merkela politiskie u^skati 307
  52. EBERHARD GALLEY, Heinrich Heine. Lebensbericht mit Bildern und Dokument 308
  53. HARTMUT EGGERT, Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850 —1875 309
  54. Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Hrsg. durch URSULA MÜNCHOW: Bd. 3, j , 9 —12 312
  55. ALFRED KLEIN, Im Auftrag ihrer Klasse. Weg und Leistungen der Arbeiterschrift steller 1918 bis 1933 316
  56. Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 —1968 317
  57. Autorenverzeichnis 320
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