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Der Mythos ›Lustmord‹. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932

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Verbrechen - Justiz - Medien
Ein Kapitel aus dem Buch Verbrechen - Justiz - Medien
Martin Lindner (München) Der Mythos >Lustmord< Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932 1. Prolog: Der semiotische Prozeß Am Anfang steht die Tat. Zum >Verbrechen<, d.h. zum sozialen Ereignis, wird sie erst durch einen semiotischen Prozeß: Die Gesellschaft schreibt der Tat eine Bedeutung zu, die über den reinen Tatbestand hinausgeht. Jedenfalls gilt das idealtypisch - denn natürlich ist ein >reiner Tatbestand< undenkbar, der nicht zugleich bereits Rekonstruktion und d.h. eben Text ist, und natürlich hat be-reits der Täter vor, während und nach der Tat ihr eine Bedeutung gegeben und sie damit von vornherein in den sozialen Kontext eingeschrieben. Der semiotische Prozeß, in dem die Tat zum >Verbrechen< wird, zerfällt in zwei Phasen: Zuerst fungiert die Tat gewissermaßen als >Anti-Text<, sie reißt eine Lücke in das kulturelle Sinngeflecht, die im Fall des >Lustmordes< beson-ders schmerzhaft ist. Als Reaktion bringen dann verschiedene kulturelle Dis-kurse Texte hervor, die diese Lücke wieder schließen oder wenigstens eingren-zen sollen, indem sie der Tat Sinn verleihen. Ziel ist es in jedem Fall, das Verbrechen möglichst ohne Rest als Variante einer imaginären, im kulturellen Denksystem vorgesehenen Modellerzählung zu identifizieren, in der alle gülti-gen Diskurse zur Deckung kommen. Wohlgemerkt: Dieser Prozeß zielt eben nicht einfach, wie es der Gemein-platz einer progressiven Kriminologie will, auf die Stigmatisierung der >Bestie<, d.h. also auf die möglichst vollständige Ausgrenzung des Täters.1 Jedenfalls 'So auch Strasser 1984 in seiner ansonsten aufschlußreichen Studie Verbrechermen-schen, die den Mythos des >Bösen< von Lombroso zur modernen Kriminologie verfolgt. Strasser hat völlig recht, wenn er die im übrigen völlig inhaltsleere Kategorie des >Psychopathen< als modernere Version der Lombrososchen >Bestie< (nur eben »mit Transzendenz«, d.h. Entscheidungsfreiheit) identifiziert. Falsch ist allerdings, daß sol-che rein ausgrenzenden Kategorien allein bereits das Kultursystem optimal bestäti-gen - die Kultur muß dem >Bösen< auch einen sinnhaften Ort zuweisen. Eben daraus erklärt sich der Umschlag von der internierenden zu der therapeuthischen Kriminolo-gie, die Strasser zurecht als den bloßen »Negativmythos« der ersteren begreift (S. 107): Zunehmend scheint der Gedanke unannehmbar, daß die (in einem ersten Schritt wei-terhin vollzogene) Distanzierung vom >Bösen< endgültig ist - erst wenn der >Böse< zum therapierbaren Opfer erklärt wird, ist die Stabilität wiederhergestellt. Daher ist als kriminologische Leitkategorie der in den fünfziger und sechziger Jahren modische >Psychopath< (der gar keine >Hilfe< will), inzwischen abgelöst worden vom seiner selbst nicht mächtigen Triebtäter als Opfer einer traumatischen Kindheit. Wie Strasser selbst bemerkt, hat dieses moderne Therapiedenken, zumindest im Fall von Serienmördern und sadistischen >Triebtätern<, primär ideologische Grundlagen. Doch Strasser sieht offenbar nicht, daß es die Konsequenz genau der Formel ist, die er als Ausweg aus

Martin Lindner (München) Der Mythos >Lustmord< Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932 1. Prolog: Der semiotische Prozeß Am Anfang steht die Tat. Zum >Verbrechen<, d.h. zum sozialen Ereignis, wird sie erst durch einen semiotischen Prozeß: Die Gesellschaft schreibt der Tat eine Bedeutung zu, die über den reinen Tatbestand hinausgeht. Jedenfalls gilt das idealtypisch - denn natürlich ist ein >reiner Tatbestand< undenkbar, der nicht zugleich bereits Rekonstruktion und d.h. eben Text ist, und natürlich hat be-reits der Täter vor, während und nach der Tat ihr eine Bedeutung gegeben und sie damit von vornherein in den sozialen Kontext eingeschrieben. Der semiotische Prozeß, in dem die Tat zum >Verbrechen< wird, zerfällt in zwei Phasen: Zuerst fungiert die Tat gewissermaßen als >Anti-Text<, sie reißt eine Lücke in das kulturelle Sinngeflecht, die im Fall des >Lustmordes< beson-ders schmerzhaft ist. Als Reaktion bringen dann verschiedene kulturelle Dis-kurse Texte hervor, die diese Lücke wieder schließen oder wenigstens eingren-zen sollen, indem sie der Tat Sinn verleihen. Ziel ist es in jedem Fall, das Verbrechen möglichst ohne Rest als Variante einer imaginären, im kulturellen Denksystem vorgesehenen Modellerzählung zu identifizieren, in der alle gülti-gen Diskurse zur Deckung kommen. Wohlgemerkt: Dieser Prozeß zielt eben nicht einfach, wie es der Gemein-platz einer progressiven Kriminologie will, auf die Stigmatisierung der >Bestie<, d.h. also auf die möglichst vollständige Ausgrenzung des Täters.1 Jedenfalls 'So auch Strasser 1984 in seiner ansonsten aufschlußreichen Studie Verbrechermen-schen, die den Mythos des >Bösen< von Lombroso zur modernen Kriminologie verfolgt. Strasser hat völlig recht, wenn er die im übrigen völlig inhaltsleere Kategorie des >Psychopathen< als modernere Version der Lombrososchen >Bestie< (nur eben »mit Transzendenz«, d.h. Entscheidungsfreiheit) identifiziert. Falsch ist allerdings, daß sol-che rein ausgrenzenden Kategorien allein bereits das Kultursystem optimal bestäti-gen - die Kultur muß dem >Bösen< auch einen sinnhaften Ort zuweisen. Eben daraus erklärt sich der Umschlag von der internierenden zu der therapeuthischen Kriminolo-gie, die Strasser zurecht als den bloßen »Negativmythos« der ersteren begreift (S. 107): Zunehmend scheint der Gedanke unannehmbar, daß die (in einem ersten Schritt wei-terhin vollzogene) Distanzierung vom >Bösen< endgültig ist - erst wenn der >Böse< zum therapierbaren Opfer erklärt wird, ist die Stabilität wiederhergestellt. Daher ist als kriminologische Leitkategorie der in den fünfziger und sechziger Jahren modische >Psychopath< (der gar keine >Hilfe< will), inzwischen abgelöst worden vom seiner selbst nicht mächtigen Triebtäter als Opfer einer traumatischen Kindheit. Wie Strasser selbst bemerkt, hat dieses moderne Therapiedenken, zumindest im Fall von Serienmördern und sadistischen >Triebtätern<, primär ideologische Grundlagen. Doch Strasser sieht offenbar nicht, daß es die Konsequenz genau der Formel ist, die er als Ausweg aus

Kapitel in diesem Buch

  1. i-iv i
  2. Inhalt v
  3. Vorwort xi
  4. TEIL I: ›Verbrechen – Justiz – Medien‹: Institutionen, Diskurse, Theoriemodelle
  5. Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert 3
  6. Kriminologien und der Komplex ›Verbrechen – Justiz – Medien‹ 81
  7. Das Verschwinden des abduktiven Schlusses 101
  8. Das Problem von Authentizität und Fiktionalität im Rahmen der Indizierungspraxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften 117
  9. TEIL II: Repräsentationen von Kriminalität in nicht-literarischen Medien
  10. Verbrechen als Lebenskunst. Das Problem der Identität, die Identifizierung von Verbrechern und die Identifikation mit Verbrechern bei Friedrich Nietzsche 135
  11. (Dis)Kurs-Korrektur. Kulturhistorische Anmerkungen zur Mißbrauchsdebatte 155
  12. Der Justizskandal Hilsner (1899/1900): Antisemitismus als ein Mittel zur Stärkung des tschechischen Nationalbewußtseins? 171
  13. Die Sensationsberichterstattung der Illustrierten in den fünfziger und sechziger Jahren: Der Fall Christa Lehmann 193
  14. TEIL III: Repräsentationen des Verbrechens in der ›schönen Literatur‹ nach 1900
  15. Das Drama des ›Expressionismus‹ im Kontext der ›Frühen Moderne‹ und die Funktion dargestellter Delinquenz 217
  16. Der Mythos ›Lustmord‹. Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932 273
  17. Crimen – Diskriminierung – Literatur der Übertretung. Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Muschg: Der Zusenn oder das Heimat, Kluge: Warten auf bessere Zeiten 307
  18. Anders als im Roman: Zur Wirklichkeitskonstruktion in den Studer-Romanen von Friedrich Glauser 325
  19. »Wie also sieht er aus, der Verbrecher?« Kriminalitätsdarstellung im frühen DDR-Roman 339
  20. TEIL IV: Repräsentationen von Verbrechen und Srafjustiz in audio-visuellen Medien
  21. Vom weiblichen Crimen zur kranken Frau. Narration und Argumentation zu ›Abtreibung Vernichtung lebensunwerten Lebens‹ im Film der Weimarer Republik und der NS-Zeit 357
  22. Der deutsche Gerichtsfilm 1930-1960. Annäherungen an eine problematische Tradition 387
  23. Verbrechen als Medium. Psychologischer Diskurs und Kriminalität im film noir der vierziger und fünfziger Jahre 403
  24. True crime-Gerichtsfilme in den USA 451
  25. Die Entwicklung der deutschen Fernsehkrimiserie 1953–1994 475
  26. Verbrechensdarstellung im deutschen ›Fernsehkrimi‹. Anmerkungen zur aktuellen Situation 489
  27. TEIL V: Anhang
  28. Die Autorinnen und Autoren des Bandes 505
  29. Personenregister 511
  30. Sachregister 523
Heruntergeladen am 24.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110944761.273/html?lang=de&srsltid=AfmBOoo4ae6jzlqHJJ7qTaxQ17dq45zZoR_NPtVvWyMvW8UDzA6CrrjP
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