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2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem

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Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung
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2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem Upokoj, gospodi, du'su raby tvoeja...1 Gib, Herr, der Seele deines Knechts die Ruh und den Frieden..1 a) Blok lesen, in einer anderen Zeit Dem mit russischer Literaturgeschichte Vertrauten gilt Aleksandr Blok als einer der bedeutendsten Dichter des Symbolismus. Seine Verse sind von unver-gleichlicher lyrischer Tiefe, ästhetisch ausgereift und Ausdruck einer »Mytho-poetik«, was V. Zirmunskij dazu veranlaßte, Blok den »letzten romantischen Dichter«3 Rußlands zu nennen. Anna Achmatova dagegen, die auf ihrem eige-nen dichterischen Weg Blok vieles verdankt, erkannte in ihm »das Denkmal des beginnenden Jahrhunderts«.4 Im selben Maße wie Blok vor allem in seiner frü-hen Dichtung noch den Traditionen des 19. Jahrhunderts verbunden war (bis zur fast epigonalen Nachmahmung des Versstils Zukovskijs, Polonskijs und Fets), wagte er sich andererseits unter dem Eindruck der sich anbahnenden historischen Veränderungen ins Neue hinaus. »Blok war ein Mann des 19. Jahr-hunderts,« schreibt Mandel'stam zum ersten Todestag Bloks 1921, aber er »wußte, daß die Tage seines Jahrhunderts gezählt waren.«' Was sich nach den Ereignissen von 1905 in seinen Versen manifestierte - neben der Orientierung an den klassischen Normen russischer Versdichtung die Hinwendung zum freien Vers (dol'niki), das Aufbrechen der exakten Reimfolge, der Rückgriff auf Alltagsrede, die Komposition divergierender literarischer Ausdrucksformen, die Integration von Strukturen der Volksdichtung - kann zwar noch nicht (wie bei den eigentlichen Vertretern der sich gleichzeitig und in den nächsten Jahren Gehör verschaffenden Dichtern der Avantgarde) als Bruch6 mit der Tradition 1 Aleksandr Blok: Sobranie socinenij ν vos'mi tomach. Tom tretij. Stichotvorenija i poémy 1907-1921, S. 35$. 1 V, 35· 3 V.2irmunskij: Voprosy teorii literatury. 1928. 4 Anna Achmatova: Socinenija ν dvuch tomach. Tom vtoroj. Moskva 1990, S. 197. 5 »Blok byl celovekom devjatnadcatogo veka i znal, cto dni ego stoletija socteny« (O. Mandel'stam: Barsuc'ja nora. In: SS II, S. 314). Deutsch: Der Dachsbau. In: O. Man-delstamm, Essays I, S. 141. Dieser Satz wurde von Celan in der ersten Werkausgabe Mandel'stams unterstrichen (O. Mandel'stam: Sobranie socinenij. Pod red. i so vstup. stat'jami G.P. Struve i Β.A. Filippova. N'ju-Jork 1955, S. 359; vgl. Verz. Nr. 234). 6 Vgl. Mandel'stams Urteil: »In literarischen Belangen war Blok ein aufgeklärter Kon-servativer. In allem, was Stil, Rhythmik und Bilder betraf,war er erstaunlich vorsich-tig: Da ist kein einziger offener Bruch mit der Vergangenheit. Will man sich Blok als :59

2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem Upokoj, gospodi, du'su raby tvoeja...1 Gib, Herr, der Seele deines Knechts die Ruh und den Frieden..1 a) Blok lesen, in einer anderen Zeit Dem mit russischer Literaturgeschichte Vertrauten gilt Aleksandr Blok als einer der bedeutendsten Dichter des Symbolismus. Seine Verse sind von unver-gleichlicher lyrischer Tiefe, ästhetisch ausgereift und Ausdruck einer »Mytho-poetik«, was V. Zirmunskij dazu veranlaßte, Blok den »letzten romantischen Dichter«3 Rußlands zu nennen. Anna Achmatova dagegen, die auf ihrem eige-nen dichterischen Weg Blok vieles verdankt, erkannte in ihm »das Denkmal des beginnenden Jahrhunderts«.4 Im selben Maße wie Blok vor allem in seiner frü-hen Dichtung noch den Traditionen des 19. Jahrhunderts verbunden war (bis zur fast epigonalen Nachmahmung des Versstils Zukovskijs, Polonskijs und Fets), wagte er sich andererseits unter dem Eindruck der sich anbahnenden historischen Veränderungen ins Neue hinaus. »Blok war ein Mann des 19. Jahr-hunderts,« schreibt Mandel'stam zum ersten Todestag Bloks 1921, aber er »wußte, daß die Tage seines Jahrhunderts gezählt waren.«' Was sich nach den Ereignissen von 1905 in seinen Versen manifestierte - neben der Orientierung an den klassischen Normen russischer Versdichtung die Hinwendung zum freien Vers (dol'niki), das Aufbrechen der exakten Reimfolge, der Rückgriff auf Alltagsrede, die Komposition divergierender literarischer Ausdrucksformen, die Integration von Strukturen der Volksdichtung - kann zwar noch nicht (wie bei den eigentlichen Vertretern der sich gleichzeitig und in den nächsten Jahren Gehör verschaffenden Dichtern der Avantgarde) als Bruch6 mit der Tradition 1 Aleksandr Blok: Sobranie socinenij ν vos'mi tomach. Tom tretij. Stichotvorenija i poémy 1907-1921, S. 35$. 1 V, 35· 3 V.2irmunskij: Voprosy teorii literatury. 1928. 4 Anna Achmatova: Socinenija ν dvuch tomach. Tom vtoroj. Moskva 1990, S. 197. 5 »Blok byl celovekom devjatnadcatogo veka i znal, cto dni ego stoletija socteny« (O. Mandel'stam: Barsuc'ja nora. In: SS II, S. 314). Deutsch: Der Dachsbau. In: O. Man-delstamm, Essays I, S. 141. Dieser Satz wurde von Celan in der ersten Werkausgabe Mandel'stams unterstrichen (O. Mandel'stam: Sobranie socinenij. Pod red. i so vstup. stat'jami G.P. Struve i Β.A. Filippova. N'ju-Jork 1955, S. 359; vgl. Verz. Nr. 234). 6 Vgl. Mandel'stams Urteil: »In literarischen Belangen war Blok ein aufgeklärter Kon-servativer. In allem, was Stil, Rhythmik und Bilder betraf,war er erstaunlich vorsich-tig: Da ist kein einziger offener Bruch mit der Vergangenheit. Will man sich Blok als :59

Chapters in this book

  1. Frontmatter i
  2. Inhalt vii
  3. Abkürzungen für die Zitatnachweise im Text x
  4. Vorbemerkung xi
  5. I. GEHEIMNIS UND BEGEGNUNG. REZEPTIONSKRITISCHE VORÜBERLEGUNGEN
  6. 1. Rezeptionsforschung zwischen positivistischer Rekonstruktion und ästhetischer Erkenntnis 5
  7. 2. Stumme Zeugen: Russika in der Bibliothek Celans 17
  8. II . BEGEGNUNG MIT RUSSLAND
  9. 1. Rußland als Raum des Todes. Die Rezeption Rußlands im Frühwerk 37
  10. 2. Hoffnung im Osten. Erinnerung in Frankreich. Rückkehr zu Russischem im mittleren Werk 60
  11. 3· Ereignis, Bewegung, Unterwegssein. Vom Raum Rußland zum Raum des Gedichts 76
  12. III. BEGEGNUNG MIT DEN DICHTERN RUSSLANDS
  13. 1. Zweimalige Schwermut mit Sergej Esenin 129
  14. 2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem 159
  15. 3. Der vergeudete Dichter Vladimir Majakovskij 178
  16. 4. Dichter ohne Geschichte: Boris Pasternak 193
  17. 5. Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel’štam 212
  18. 6. Die Sprachutopien Velimir Chlebnikovs 261
  19. 7· Alle Dichter sind Juden – Bekenntnis zu Marina Cvetaeva 288
  20. 8. »Pawel Lwowitsch Tselan – russkij poėt« ? Celan als Dichter von Babij Jar 306
  21. IV. VON DER BEGEGNUNG ZUM GEGENWORT. CELANS POETIK IM ZEICHEN RUSSISCHER DICHTUNG: Die Dichtung Ossip Mandelstamms UND Der Meridian
  22. 1. Kommentar zum Text der Rundfunksendung über Die Dichtung Ossip Mandelstamms 321
  23. 2. »..in eines Anderen Sache sprechen« – Aspekte von Rezeption im Meridian 346
  24. Literatur 362
  25. Verzeichnis der behandelten Werke und Übersetzungen Paul Celans 372
  26. Namenregister 376
Downloaded on 18.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110923704.159/html?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOor1vaCaEAhJDS0qJ39QjIuX8Z6KW2YVgifn7Nt1pphybzXdzmdo
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