Startseite Philosophie 8 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874)
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8 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874)

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Schelling und Nietzsche
Ein Kapitel aus dem Buch Schelling und Nietzsche
8 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) Nietzsche sieht die alles-wissende Historie der heutigen Wissenschaft in gegensätzlichem Verhältnis zu dem für das Leben notwendigen „Vergessen" des Un-historischen. Die schlechte Historie des „reinen Wissens", d.h. die vermeintlich rein vernünftige Historie der modernen Historiker, sieht er in Zusammenhang mit der (Philister-) Kultur der Neuzeit, die wegen ihrer Leblosigkeit keine eigentliche Kultur sein kann. In all den Schriften aus dieser Zeit greift Nietzsche die falsche Kultur an, und in jedem Angriff übt er, wie er sie in dieser Schrift nennt, „kritische Historie", die als Motiv die Befreiung von dem bedrückenden leblosen Zustand hat pn/1, 254 (§2)]. Der Tod drücke das Siegel auf die Erkenntnis, daß das „Dasein nur ein ununter-brochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen" [III/l, 245; vgl. den ewigen Wechsel in der Geburt der Tragödie]. Nach Nietzsche ist die Erkenntnis des ewigen Werdens, während sie jenes „ununterbrochene Gewesensein" vor Augen hat, ein „histori-sches" Empfinden. Nicht historisch zu empfinden, heißt, die schreckliche Wahrheit vergessen zu können. Wer sie nicht vergessen könne, „glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, ... [denn er] sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens" [ebd, 246]. Schelling versteht das Vergessen im Zusammenhang mit dem Begriff der Un-gegenständlichkeit. Das erste Prinzip für sich ist das Unbegrenzte, darum wesentlich Ungegenständliche, wie im Uranos-Bewußtsein der Mythologie und noch in hohem Maß im Moment Urania und der Titanenzeit. Wo etwas vergessen wird, geht es wieder in das Grenzlose und Bestandslose unter und ist nicht mehr Gegenstand des Bewußtseins. Bei Schelling trägt z.B. der Sündenbock des Alten Testaments die Sünden in die Wüste, wo sie vergessen werden [z.B. XIV, 140; vgl. XIII, 252], Man vergleiche Nietzsches Ausdruck: Das Vergessene fließe fort „wie eine graue ununterbrochene Flut" [III/l, 258.23 (§2)]. Man hat es in der Geburt der Tragödie mit grundsätzlich demselben Gedanken zu tun: „Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Massen, ging... in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen" [III/l, 37 (§4); vgl. 150.17].

8 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) Nietzsche sieht die alles-wissende Historie der heutigen Wissenschaft in gegensätzlichem Verhältnis zu dem für das Leben notwendigen „Vergessen" des Un-historischen. Die schlechte Historie des „reinen Wissens", d.h. die vermeintlich rein vernünftige Historie der modernen Historiker, sieht er in Zusammenhang mit der (Philister-) Kultur der Neuzeit, die wegen ihrer Leblosigkeit keine eigentliche Kultur sein kann. In all den Schriften aus dieser Zeit greift Nietzsche die falsche Kultur an, und in jedem Angriff übt er, wie er sie in dieser Schrift nennt, „kritische Historie", die als Motiv die Befreiung von dem bedrückenden leblosen Zustand hat pn/1, 254 (§2)]. Der Tod drücke das Siegel auf die Erkenntnis, daß das „Dasein nur ein ununter-brochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen" [III/l, 245; vgl. den ewigen Wechsel in der Geburt der Tragödie]. Nach Nietzsche ist die Erkenntnis des ewigen Werdens, während sie jenes „ununterbrochene Gewesensein" vor Augen hat, ein „histori-sches" Empfinden. Nicht historisch zu empfinden, heißt, die schreckliche Wahrheit vergessen zu können. Wer sie nicht vergessen könne, „glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, ... [denn er] sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens" [ebd, 246]. Schelling versteht das Vergessen im Zusammenhang mit dem Begriff der Un-gegenständlichkeit. Das erste Prinzip für sich ist das Unbegrenzte, darum wesentlich Ungegenständliche, wie im Uranos-Bewußtsein der Mythologie und noch in hohem Maß im Moment Urania und der Titanenzeit. Wo etwas vergessen wird, geht es wieder in das Grenzlose und Bestandslose unter und ist nicht mehr Gegenstand des Bewußtseins. Bei Schelling trägt z.B. der Sündenbock des Alten Testaments die Sünden in die Wüste, wo sie vergessen werden [z.B. XIV, 140; vgl. XIII, 252], Man vergleiche Nietzsches Ausdruck: Das Vergessene fließe fort „wie eine graue ununterbrochene Flut" [III/l, 258.23 (§2)]. Man hat es in der Geburt der Tragödie mit grundsätzlich demselben Gedanken zu tun: „Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Massen, ging... in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen" [III/l, 37 (§4); vgl. 150.17].
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