§ 24.3 Grundrecht auf informationelleSelbstbestimmungNotwendiges Vorwissen:Grundrechtsfunktionen,Schutzbereich und Eingriff,Prüfung eines Freiheitsgrundrechts,Recht auf freie Entfaltung der PersönlichkeitLernziel:Grundrechtliche Ausprägung des Schutzes persönlicher Daten verstehenund anwenden, Abgrenzung zu anderen Grundrechten nachvollziehenFür dieses Kapitel gibt es frei zugängliche interaktive Übungen. Halte ein-fach deine Smartphone-Kamera vor den Kasten mit den Punkten (QR-Code).Das BVerfG leitet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Rechtauf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Menschenwürde, Art.2Ii.V.m. Art.1 I GG, ab. Das Recht auf informationelleSelbstbestimmungschütztgrundsätzlich die Freiheit der Selbstdarstellung und damit das Recht, selbst darü-ber zu entscheiden, wie die Darstellung der eigenen Person durch Andere erfolgt.Hier bestehen Überschneidungen mit demRecht auf freie Entfaltung der Persön-lichkeit.1Informationellbezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Befugnis,selbst über die Preisgabe und Verwendung der persönlichen Daten bestimmen zukönnen.2Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist die Grundlage dereinfachgesetzlichen Regelungen des Datenschutzes, wie zum Beispiel dem Bun-desdatenschutzgesetz.A. Recht auf informationelle Selbstbestimmung alsEntwicklung der RechtsprechungDas Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde durch die Rechtspre-chung des BVerfG entwickelt. Deshalb spielt auch die Entwicklung dieser Recht-sprechung für das Verständnis dieses Grundrechts eine besondere Rolle. Die Ent-wicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist eine Reaktion auf1Siehe zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Valentiner, §18.2, in diesem Lehrbuch.2BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.Open Access. © 2022 Hannah Ruschemeier, publiziert von De Gruyter.Dieses Werk istlizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0International Lizenz.https://doi.org/10.1515/9783110765533-047
neue technische Gefährdungslagen, weshalb sich im Text des Grundgesetzesauch keine expliziten Regelungen zum Schutz der Privatsphäre durch Informati-onsverarbeitung finden.1Weiterführendes WissenVorschläge, ein Grundrecht auf Datenschutz oder ein Grundrecht der Kommunikations- und Infor-mationsfreiheit explizit in das Grundgesetz aufzunehmen, wurden wiederholt diskutiert, habensich aber bisher nicht durchsetzen können.3Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurzelt im Volkszählungsurteildes BVerfG aus dem Jahr 1983.4Beschwerdegegenstand waren mehrere Normendes Volkszählungsgesetzes.5Im Rahmen der geplanten Volkszählung sollten ne-ben Stammdaten wie Namen und Geschlecht, Geburtstag und Familienstandauch sensible Daten wie die Religionszugehörigkeit und sehr spezifische Daten,wie das vorwiegend benutzte Verkehrsmittel, die Größe der Mietwohnung oderdie Miethöhe erhoben werden.6Das BVerfG erklärte nicht die Volkszählung ansich für verfassungswidrig, sondern die Kombination der Volkszählung für statis-tische Zwecke mit den umfassenden Befugnissen eines Melderegisterabgleichs imGesetz von 1983.7B. SchutzbereichI. Sachlicher SchutzbereichDas Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist normativ in Art.2 I GG i.V.m.Art.1 I GG verankert und gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlichselbst über die Preisgabe und Verwertung seiner persönlichen Daten zu bestim-men.8Persönliche Daten sind Informationen zu den persönlichen und sachlichenVerhältnissen einer bestimmten oder bestimmbaren Person.3Siehe die Dokumentation des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zur Diskussion überVorschläge zur Aufnahme eines neuen Grundrechts der Kommunikations- beziehungsweise In-formationsfreiheit in das Grundgesetz, 5.2.2008,WD 3-034/08.4BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.5Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz1983) vom 25.3.1982 (BGBl. I, S.369)–VZG 1983.6Eine kurze historische Einordnung findet sich bei der Anmerkung von Kühling, NJW 2017, 3069.7BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.196ff. = BVerfGE 65, 1.8BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.145ff. = BVerfGE 65, 1.Hannah Ruschemeier534Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
Beispiel:persönliche Daten in Akten wie Krankenakten, Steuerdaten, private Notizen und Ta-gebücher.Aufgrund der automatischen Datenverarbeitung gibt es nach dem BVerfG kein„belangloses Datum“mehr.9Der Schutzumfang des Rechts auf informationelleSelbstbestimmung beschränkt sich auch deshalb nicht auf Daten, die bereits ihrerArt nach besonders sensibel sind, zum Beispiel Gesundheitsdaten, sondern auchauf Daten mit einem für sich genommen geringen Informationsgehalt.10Beispiel:Hinter der vielzitierten Aussage, dass es kein belangloses Datum mehr gibt, steht diedogmatische Wertung, dass die im Rahmen desallgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelteSphärentheorie nicht ausreicht, um den Grundrechtsschutz adäquat abzubilden.11Informations-technik ermöglicht es, die einzelnen Sphären übergreifend zu durchdringen. So kann mit ver-meintlich unwichtigen oder harmlosen Daten außerhalb des Intimbereichs ebenfalls ein Persön-lichkeitsprofil erstellt werden.12Hinter dieser höchstpersönlichen Entscheidungsbefugnis zur Datenfreigabe stehtzudem ein grundrechtlicher Schutz vonPrivatheitund letztlich Autonomie, diedurch den Schutz der Privatsphäre ermöglicht wird. Das Recht auf informationelleSelbstbestimmung enthält wertungstechnisch ein aktives Element der Selbst-bestimmung als Ausdruck der persönlichen Freiheit und ein passives Abwehrele-ment gegen staatliche Eingriffe. Diese doppelte Schutzfunktion macht es zu ei-nem Recht auf Selbstbewahrung und Recht auf Selbstdarstellung.1Weiterführendes WissenDie klassische Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigungsprüfung ist beim Recht auf informationelleSelbstbestimmung nicht ganz einfach ausgestaltet. Es gibt einzelne Stimmen in der Literatur, diedas Recht auf informationelle Selbstbestimmung vornehmlich als Ziel und nicht als grundrecht-lich geschützte Freiheitsgewährleistung, die in einem Schutzbereich umrissen werden kann, an-sehen.139BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.150 = BVerfGE 65, 1.10BVerfG, Urt. v.27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07, Rn.198 = BVerfGE 120, 274.11Siehe zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht Valentiner, §18.2, in diesem Lehrbuch.12Hufen, Staatsrecht II–Grundrechte, 7.Aufl. 2018, §12, Rn.4.13Bull, AöR 145 (2020), 291 (294).Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung535
II. Persönlicher SchutzbereichDerpersönlicheSchutzbereich umfasst zuvörderst natürliche Personen. Auf-grund des Menschenwürdegehalts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist dasRecht auf informationelle Selbstbestimmung seinem Wesen nach, Art.19 III GG,nicht auf juristische Personen anwendbar.14Geschäftsgeheimnisse juristischerPersonen sind durch Art.12 oder Art.14 GG geschützt. Parallel zum allgemeinenPersönlichkeitsrecht endet der Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbst-bestimmung nicht mit dem Tod.Beispiel:die ärztliche Schweigepflicht besteht auch nach dem Tod fort.15C. EingriffDas BVerfG siehtjeden Schritt einer Datenerhebungals eigenständigen Grund-rechtseingriff an. Bereits die Erfassung personenbezogener Daten greift danach indas Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein.3ExamenswissenDavon macht das BVerfG eine Rückausnahme für vorläufige, sogleich reversible Speicherun-gen16, soweit die Daten unmittelbar nach der Erfassung technisch spurlos ausgesondert werden,ohne Möglichkeit einen Personenbezug herzustellen. Dieser Abgleich wird als Nichttreffer-Fallbezeichnet. Ein Eingriff liegt hingegen dann vor, wenn ein Treffer-Fall vorliegt, im konkreten Fallein Kennzeichen gespeichert und Grundlage weiterer Maßnahmen wird, da es ab diesem Zeit-punkt den staatlichen Stellen zur Verfügung steht.Dies ist Ausdruck der grundsätzlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichenHandelns. Deshalb ist eine formalisierte Abschichtung der Erhebungs- und Ver-arbeitungsschritte in detaillierter Form erforderlich, um jeden Einzeleingriff zu er-fassen, der jeweils eine eigene hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage,welche die Verarbeitung auf spezifische Schritte begrenzt und damit am Grund-satz der Verhältnismäßigkeit geprüft werden kann.17Gesetzliche Regelungen, die14Andere Ansicht OVG Lüneburg, Beschl. v.15.5.2005, Az.: 10 ME 385/08, Rn.23.15Hufen, Staatsrecht II–Grundrechte, §12, Rn.6.16BVerfG, Urt. v.11.3.2008, Az.: 1 BvR 2074/05 = BVerfGE 120, 378 (399)–Automatisierte Kenn-zeichenerfassung.17BVerfG, Urt. v.6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 = BVerfGE 152, 152–Recht auf Vergessen I.Hannah Ruschemeier536Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
staatliche Behörden zum Umgang mit personenbezogenen Daten ermächtigen,begründen in der Regel aufeinander aufbauende Eingriffe in das Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung.183KlausurtaktikFür die Fallbearbeitung bedeutet dies, dass zwischen Erhebung, Speicherung und Verwendung,zum Beispiel durch einen Abgleich der Daten, zu differenzieren ist und jeder Grundrechtseingrifffür sich geprüft werden muss.Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt bereits vorGefährdun-gender Befugnis, über die eigenen Daten zu bestimmen. Die Erhebung persönli-cher Daten kann auf vielfältige Weise erfolgen, von den analogen Angaben derVolkszählung im Jahr 1983 über staatliches Hacking oder Data-Mining in der heu-tigen Zeit.EinmittelbarerGrundrechtseingriff kann dann vorliegen, wenn die staatli-che Datenerhebung zu Abschreckungseffekten auf die Grundrechtsausübungführt.19Diese Abschreckungseffekte können dazu führen, dass Grundrechtsträ-ger:innen aus Angst vor Datenerhebungen zum Beispiel nicht mehr an Versamm-lungen teilnehmen und dadurch auf die Wahrnehmung ihrer Grundrechte ver-zichten.20DieWeitergabeerhobener Daten ist ein Grundrechtseingriff, der sich zeitlichan die Erhebung anschließen kann. Dazu gehören zum Beispiel die Ergebnisse ei-ner Überwachung, die im Rahmen des Art.10 GG selbst verfassungskonform er-folgt ist.21Offenbart eine Person hingegenfreiwilligpersonenbezogene Daten im Inter-net, in sozialen Netzwerken und ähnlichen, unterliegen diese öffentlich zugäng-lichen Informationen nicht dem Schutz des Grundrechts auf informationelleSelbstbestimmung. Es liegt kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbst-bestimmung vor, wenn staatliche Stellen im Internet verfügbare Kommunikati-onsinhalte erheben, die sich an jedermann oder zumindest an einen nicht weiterabgegrenzten Personenkreis richten.2218BVerfG, Beschl. v.1.12.2020, Az.: 2 BvR 916/11, Rn.199.19Staben, Der Abschreckungseffekt auf die Grundrechtsausübung, 2016, 146.20Das hat das BVerfG bereits im Volkszählungsurteil anerkannt:BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1BvR 209/83, Rn.146 = BVerfGE 65, 1.21BVerfG, Urt. v.14.7.1999, Az.: 1 BvR 2226/94 = BVerfGE 100, 313 (358).22BVerfG, Urt. v.27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 Rn.308 = BVerfGE 120, 274–Telekommunikati-onsüberwachung I.Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung537
Beispiel:Beobachtung einer allgemein zugänglichen Webseite oder eines öffentlichen Chats,Abonnement einer offenen Mailingliste. Schwieriger sind Fragen von Datennutzungen in sozialenNetzwerken, die in der Regel eine Registrierung voraussetzen (Netzwerköffentlichkeit).Setzen staatliche Stellen statistische Datenauswertungsprogramme (Data-Mining)ein, um große Mengen an Daten mit dem Ziel zu verarbeiten, Informationen übereine bestimmte Person zusammenzuführen, liegt ein Grundrechtseingriff vor. DasBVerfG begründet bereits 1983 die grundrechtliche Schutzlücke explizit mit den„modernen Bedingungen der Datenverarbeitung“, welche die Befugnis des Ein-zelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Gren-zen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, besonders gefährdet.1Weiterführendes WissenInsbesondere bergen automatisierte Datenerhebungen für integrierte Informationssysteme zu-sammen mit anderen Datensammlungen die Gefahr, dass ein teilweises oder weitgehendes Per-sönlichkeitsbild erstellt wird, ohne dass Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung kontrol-lieren können.23Das heutige Ausmaß der Datenverarbeitung war Anfang der 80er Jahre nochnicht absehbar. Die Erhöhung der Eingriffsintensität durchtechnische Entwicklungenist einewiederkehrende Argumentationsstruktur des BVerfG, auch in neueren Entscheidungen.24Die In-tensität des Grundrechtseingriffs kann sich auch durch die der Datenverarbeitung zugrunde lie-gende Technik erhöhen: Die Besonderheit des Eingriffspotentials von Maßnahmen der elektro-nischen Datenverarbeitung liegt zum Beispiel in der Menge der verarbeiteten Daten (Big Data),die auf„konventionellem Wege“25,d.h. wohl durch menschliche Verarbeitung, gar nicht bewäl-tigt werden könnten. Mit der Eingriffsintensität steigt auch die Kontrolldichte, was zukünftigbeim Einsatz von„intelligenten“Technologien, zum Beispiel selbstlernenden Algorithmen zuProblemen führen kann.Gesetzliche Vorschriften, die staatliche Behörden zum Umgang mit personenbe-zogenen Daten ermächtigen, begründet in der Regel verschiedene aufeinanderaufbauende Eingriffe.23BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.145 = BVerfGE 65, 1.24Siehe z.B. die Entscheidung zur elektronischen AufenthaltsüberwachungBVerfG, Beschl.v.1.12.2020, Az.: 2 BvR 916/11, Rn.198–st. Rspr. Weiterführend: Ruschemeier,VerfBlog,16.12.2020.25BVerfG, Beschl. v.1.12.2020, Az.: 2 BvR 916/ 11, Rn.198.Hannah Ruschemeier538Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
1Weiterführendes WissenDie Erhebung, Speicherung und Verwendung von Daten sind jeweils eigene Grundrechtseingriffe.Bezüglich des Datenaustausches zur staatlichen Aufgabenwahrnehmung ist zusätzlich zwischender Datenübermittlung durch die Stelle, welche die Informationen vorliegen hat, und der Stelle,die die Informationen abruft, zu unterscheiden. Abfrage und Übermittlung der Daten sind zweimiteinander korrespondiere Grundrechtseingriffe. Erforderlich ist nach der Rechtsprechung desBVerfG das Doppeltürmodell. Danach sind zwei verschiedene gesetzliche Ermächtigungsgrund-lagen erforderlich: Die erste (Tür) zur Übermittlung der Daten und die zweite (Tür) zur Datenabfra-ge. Ist für beide Normbereiche derselbe Gesetzgeber zuständig, können die Ermächtigungs-grundlagen auch in einer Norm zusammengefasst werden.26In den aufeinanderfolgendenDateneingriffen kann man auch einen„iterativen Grundrechtseingriff“sehen, wenn es sich umdieselben Daten handelt, die erhoben und übermittelt werden. Die Grundrechtseingriffe bauendann in zeitlicher Reihenfolge zwingend aufeinander auf. Damit Daten übermittelt werden kön-nen, müssen sie zunächst erhoben werden. Anders liegt die Konstellation eines weiteren additi-ven Grundrechtseingriffs, der mehrere Grundrechtseingriffe in dasselbe Grundrecht einer grund-rechtsberechtigten Person umfasst, die aber nicht zwingend aufeinander aufbauen müssen.D. RechtfertigungEingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung können gerechtfer-tigt sein, wenn sie formell und materiell verfassungsgemäß sind. Jeder Eingriff indas Recht muss sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen, die dem Grundsatzder Verhältnismäßigkeit entspricht. Das BVerfG fordert zudem, dass jede Daten-erhebung nur aus Gründen des überwiegenden Allgemeininteresses zulässig seinkann.27I. Einschränkbarkeit des GrundrechtsDas Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewähr-leistet, für jede staatliche Datenerhebung, Speicherung oder Weitergabe ist abereine hinreichend bestimmtegesetzliche Grundlageerforderlich. Es gilt der all-gemeine Gesetzesvorbehalt des Art.2 I GG. Erforderlich ist insbesondere, dass der26GrundlegendBVerfG, Beschl. v.24.1.2012, Az.: 1 BvR 1299/05 = BVerfGE 130, 151; vertiefend:BVerfG, Beschl. v.27.5.2020, Az.: 1 BvR 1873/13, Rn.1-275 = BVerfGE 155, 119 (238)–Bestands-datenauskunft II.27BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.148 = BVerfGE 65, 1.Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung539
Zweck der Datenverarbeitung klar ersichtlich sowie begrenzt ist, welche Verknüp-fungs- und Verwendungsmöglichkeiten bestehen.Der Gesetzgeber muss zudem organisatorische undverfahrensrechtlicheVorkehrungentreffen, die einer Gefahr der Grundrechtsverletzung entgegenwir-ken.28Dazu gehören zum Beispiel Auskunfts- und Löschrechte Betroffener.II. Grenzen der EinschränkbarkeitAbsolute Grenze ist der Wesensgehalt eines Grundrechts, Art.19 II GG. Das Rechtauf informationelle Selbstbestimmung muss in jedem Fall einen unantastbarenBereich privater Lebensgestaltung gewährleisten, der einem staatlichen Zugriffentzogen ist.3ExamenswissenAufgrund ihrer Eingriffsintensität unterliegen staatliche Überwachungsmaßnahmen spezifischenAnforderungen. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung dazu drei Kriterien entwickelt: DieÜberwachung muss durch besondere Schutzmaßnahmen flankiert werden, wenn sie den Kern-bereich privater Lebensgestaltung berühren können. Die angestrebte Verwendung der Datenkann ihrerseits besondere grundrechtssichernde Verfahrensvorkehrungen erfordern und sie dür-fen nicht zu einer lückenlosen Überwachung führen. Aus einer heimlichen Datenerhebung folgennach dem Grundsatz der Normenklarheit besonders strenge Anforderungen.29Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze der Einschränkbarkeit, fordertbeim Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dass der Gesetzgeber denVer-wendungszweckder Datenverarbeitung bereichsspezifisch und präzise be-stimmt und dass die Daten für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. DieVerwendung der Daten ist auf diesen gesetzlichen Zweck begrenzt und kann nichtauf andere, wenn auch verfassungsrechtlich zulässige Zwecke gestützt werden.Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist durch die genauere Definition desZwecks im einschränkenden Gesetz vorstrukturierter als bei anderen Grundrech-ten.Staatliche Ermittlungs- und Überwachungstätigkeiten, die tief in die Privat-sphäre der Betroffenen eingreifen, sind nur verhältnismäßig, wenn sie demSchutzhinreichend gewichtiger Rechtsgüterdienen, für deren Gefährdung28BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83, Rn.149 = BVerfGE 65, 1.29BVerfG, Urt. v.20.4.2016, Az.: 1 BvR 966 u.a. = BVerfGE 141, 220 (265).Hannah Ruschemeier540Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
oder Verletzung im Einzelfall belastbare Anhaltspunkte bestehen. Auch hier giltdie„Je-desto Formel“: Je tiefer die Überwachungsmaßnahmen in die Privatsphäreeingreifen, desto strenger sind die Anforderungen an die verfassungsrechtlicheRechtfertigungsprüfung.30Für die konkrete Prüfung ist zwischen präventiven (zur Gefahrenabwehr) undrepressiven (zur Strafverfolgung) Maßnahmen zu unterscheiden. Für Maßnahmenzur Gefahrenabwehr kommt es auf das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüteran. Zum Schutz von Leib, Leben und Freiheit sind unter Umständen auch heimli-che Überwachungsmaßnahmen zulässig, zum Schutz von Sachwerten hingegennicht.31Zwischen Privaten wirkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung imWege dermittelbaren Drittwirkung.1Weiterführendes WissenDie verfassungsrechtliche Wertung des Schutzes persönlicher Daten strahlt in das Zivilrecht ein,insbesondere über die Generalklauseln. Die aus der Abwehrdimension des Rechts auf informa-tionelle Selbstbestimmung entwickelten Grundsätze lassen sich nicht auf das Verhältnis zwi-schen Privaten im Gleichordnungsverhältnis übertragen. Im Wege der mittelbaren Drittwirkungist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vielmehr der Ausdruck der sich gegenüber-stehenden Grundrechte im Gegensatz zu einem Abwehranspruch gegenüber dem grundrechts-verpflichteten Staat. Die Wirkweise dieses Grundrechts im Zivilrecht als verfassungsrechtlicheWertentscheidung bedeutet nicht, dass seine Anforderungen deshalb in jedem Fall weniger weitreichen oder weniger anspruchsvoll sind, als die unmittelbar staatsgerichtete Schutzwirkung.32Je ungleicher das Verhältnis zwischen den privaten Parteien ist, desto näher kann die Bindungder Grundrechtsbindung des Staates kommen oder dieser sogar entsprechen33; zum Beispielwenn private Unternehmen eine staatsähnliche dominante Position innehaben. Praktische Rele-vanz hat dies unter anderem im Arbeitsrecht, wo anlasslose Überwachung von Arbeitnehmer:in-nen unzulässig ist.34Staatliche Strukturen müssen so ausgestaltet sein, dass Verfahren dem Recht aufinformationelle Selbstbestimmung gerecht werden. Besondere praktische Rele-vanz hat die Datenerhebung durch Private, insbesondere global operierende Digi-talkonzerne und Plattformbetreiber.30BVerfG, Urt. v.20.4.2016, Az.: 1 BvR 966 u.a. = BVerfGE 141, 220 (269).31BVerfG, Urt. v.20.4.2016, Az.: 1 BvR 966 u.a. = BVerfGE 141, 220 (270).32BVerfG, Urt. v.6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 = BVerfGE 152, 152–Recht auf Vergessen I.33Vgl.BVerfG, Urt. v.22.2.2011, Az.: 1 BvR 699/06 = BVerfGE 128, 226 (249f.).34BAG, NJW 2017, 3258.Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung541
1Weiterführendes WissenAufgrund erheblicher Datenmengen ist der tatsächliche Schutz personenbezogener Daten durchintransparente Datenverwendung im digitalen Bereich erheblich gefährdet. Diskutiert wird in glo-baler Hinsicht auch, inwieweit eineSchutzpflicht des Staates für die informationelle Selbst-bestimmung der Bürger:innen gegenüber der Datenerhebung durch ausländische Geheimdiens-te besteht.35Die freiwillige Preisgabe persönlicher Daten ist kein Grundrechtsverzicht, sonderngerade Ausdruck der Befugnis des Einzelnen, selbst über die Preisgabe seiner Daten zu bestim-men.Auf derRechtsfolgenseitekönnen sich aus einem Eingriff in das Recht der infor-mationellen Selbstbestimmung, der nicht auf einer hinreichenden gesetzlichenErmächtigungsgrundlage beruht, unmittelbar aus Art.2Ii.V.m. Art.1 I GG Ab-wehransprüche auf Unterlassung von öffentlichen Äußerungen oder Löschungder Daten erhoben werden.1Weiterführendes WissenIn Betracht kommt der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch36oder der Folgenbeseiti-gungsanspruch. Imzweiten Staatsexamenspielen die Ermittlungsbefugnisse der Strafprozess-ordnung zu Datenerhebungen eine besondere Rolle. Wichtig ist auch das Verständnis von Beweis-verwertungsverboten. Unselbstständige Beweisverwertungsverbote können sich unmittelbar ausden Grundrechten ergeben; so auch aus einem Verstoß gegen das Recht auf informationelleSelbstbestimmungE. KonkurrenzenDas Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine spezielle Ausprägungdesallgemeinen Persönlichkeitsrechts und derMenschenwürde, Art.2I,Art.1 I GG. Es enthält keinen umfassenden Schutzanspruch hinsichtlich jedes Um-gangs mit Informationen, der die übrigen Schutzdimensionen des allgemeinenPersönlichkeitsrechts allgemein zusammenführen würde, sondern lässt derenSchutzbereiche unberührt.37Auch für die Fallbearbeitung bietet es sich deshalban, die unterschiedlichen Gewährleistungsgehalte des allgemeinen Persönlich-keitsrechts als eigenständige Grundrechte zu begreifen, auch wenn diese dogma-35Neubert, AöR 140 (2015), 267ff.36VG Berlin, Urt. v.3.6.1993, Az.: VG 1 A 449/92–Fall Stolpe zu öffentlichen Äußerungen desBundesdatenschutzbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.37BVerfG, Urt. v.6.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13 = BVerfGE 152, 152–Recht auf Vergessen I.Hannah Ruschemeier542Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
tisch gesehen alle Ausprägungen desallgemeinen Persönlichkeitsrechts sind. DasRecht auf informationelle Selbstbestimmung ist spezieller als der Schutz der Men-schenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, da es sich auf einen aus-gewählten Bereich der Persönlichkeit bezieht und auf die besonderen Gefähr-dungslagen durch Datenverarbeitung reagiert.DasGrundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität infor-mationstechnischer Systeme38ist von seiner Schutzausrichtung her besonderseng mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verknüpft.39Das Rechtauf informationelle Selbstbestimmung schützt im Gegensatz zum Grundrecht aufGewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Syste-me nicht vor den Gefahren, die sich daraus ergeben, dass Grundrechtsträger:in-nen auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen sind und da-durch zwangsläufig persönliche Daten preisgeben, die einen Zugriff auf einengroßen und aussagekräftigen Datenbestand ermöglichen.40Schutzgut des Grund-rechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstech-nischer Systeme istnicht die Entscheidungsfreiheit über personenbezogene Da-ten, sondern die Sicherheit informationstechnischer Systeme vor Eindringen undAuslesen der in ihnen gespeicherten Daten, weil mit der Eingabe von Daten in einsolches System die Erwartung der Vertraulichkeit verbunden ist.Der Schutz personenbezogener Daten vor Ermittlung, Speicherung und Wei-tergabe ist nicht Teil der negativenMeinungsfreiheit, da Tatsachen nur dannvom Schutzbereich des Art.5 I GG umfasst sind, wenn sie zur Meinungsbildungbeitragen.41Dadurch würden Angaben durch Betroffene selbst, die reine Tatsa-chenmitteilungen sind, von vorneherein nicht geschützt. Zudem würden Eingriffedurch heimliche Beobachtungen oder Datenerhebungen bei Dritten ebenfalls ausdem Schutzbereich herausfallen.F. Europäische und internationale BezügeWeder in der Europäischen Grundrechtecharta oder der EMRK noch in der Euro-paratskonvention oder den OECD-Richtlinien findet sich ein Recht auf informatio-nelle Selbstbestimmung. Art.8 GrCh schützt allerdings ausdrücklich personenbe-38Entwickelt in BVerfG, Urt. v.27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07 = BVerfGE 120, 274. Dazu Petras,§24.4. in diesem Lehrbuch.39Siehe zum Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme Pe-tras, §24.4, in diesem Lehrbuch.40BVerfG, Urt. v.27.2.2008, Az.: 1 BvR 370/07, Rn.200 = BVerfGE 120, 274.41BVerfG, Urt. v.15.12.1983, Az.: 1 BvR 209/83 = BVerfGE 65, 1.Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung543
zogene Daten. Art.8 EMRK schützt ebenfalls das Recht auf Privatleben, welchesdurch die Erhebung, Speicherung oder Verwendung personenbezogener Datenerheblich beeinträchtigt werden kann. Der Schutzgehalt des Rechts auf informa-tionelle Selbstbestimmung wird daher ebenfalls in Art.8 EMRK hineingelesen.42Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte schützt in Art.12 AEMR das Privat-leben und damit auch den Schutz persönlicher Daten.1Weiterführendes WissenAusdrücklich ist ein Recht auf Datenschutz als spezielles Grundrecht in Art.8 der Grundrechte-charta der Europäischen Union sowie in verschiedenen Landesverfassungen Deutschlands nor-miert.43Das Volkszählungsurteil wird als Meilenstein für die verfassungsrechtliche Verankerungdes Datenschutzes gesehen und entfaltete auch auf europäischer Ebene Einfluss. Der EuGH hatam Maßstab der europäischen Grundrechtecharta strenge Datenschutzstandards entwickelt, zu-letzt in der Entscheidung zu einemRecht auf Vergessen.44Als unmittelbar geltende Verordnung regelt dieeuropäische Datenschutzgrundverordnung(DSGVO)45umfassende Anforderungen an die Verarbeitung personenbezogener Daten. Die Vor-gaben der DSGVO haben hohe Praxisrelevanz, da sie als horizontaler Regulierungsansatz privateund staatliche Datenverarbeiter:innen adressieren und damit einen weiteren Anwendungs-bereich als die Grundrechte haben, die nur diegrundrechtsgebundene Staatsgewalt adressieren.Aufgrund zahlreicher Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten eigene Regelungen ermögli-chen, ergibt sich aus der DSGVO als Verordnung keine Vollharmonisierung des europäischen Da-tenschutzstandards.Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte–Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist das„Grundrecht auf Datenschutz“.–Jeder Schritt der Datenverarbeitung ist ein eigener Grundrechtseingriff.42EGMR Urt. v.26.3.1987, Az.: 9248/81–Leander v. Schweden; Urt. v.16.2.2000, Az.: 27798/95–Amann v. Schweiz.43Art.33 der Verfassung von Berlin, Art.11 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art.12Abs.4 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art.6 I des Landes Mecklenburg-Vorpom-mern, Art.4 II der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Art.4 a der Verfassung des Lan-des Rheinland-Pfalz, Art.2 Sätze 2 und 3 der Verfassung des Saarlandes, Art.33 der Verfassungdes Freistaates Sachsen, Art.6 I der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt und Art.6 II der Ver-fassung des Freistaates Thüringen; siehe zum Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung,Ruschemeier, §24.3, in diesem Lehrbuch.44Siehe zum Recht auf Vergessen Petras, §24.5, in diesem Lehrbuch.45Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zumSchutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Daten-verkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG.Hannah Ruschemeier544Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
–Der Zweck der Datenerhebung muss präzise gesetzlich festgelegt werden.–Dem Gesetzgeber kommt die besondere Pflicht zu, Grundrechtsschutz durch Verfahrenzu gewährleisten.Weiterführende Studienliteratur–Claudio Franzius, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,ZJS 2015, S.259–270–Ferdinand Hufen, Staatsrecht II–Grundrechte, 8.Aufl. 2020, §12, Rn.22ff. zu aktuel-len Fällen und Problemen–Christina-Maria Leeb/Johannes Liebhaber, Grundlagen des Datenschutzrechts, JuS2018, S.534–538Dieses Kapitel darf gerne kommentiert, verändert und beliebig genutzt wer-den. Jeder Link in der PDF-Version des Textes führt zur Überarbeitungsmög-lichkeit bei der Plattform Wikibooks. Eine konkrete Anleitung zur Mitarbeit& Weiternutzung findet sichauf unserer Homepage | ebenfalls über den ab-gebildeten QR-Code mit der Smartphone-Kamera erreichbar.Hannah Ruschemeier§ 24.3 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung545